Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreißigstes Kapitel.
Die Neige des Leidenskelches

Die Verurtheilung Mr. Powel's und der Besuch, den seine Frau soeben von dem alten Herrn empfangen hatte, gab der klatschsüchtigen Nachbarschaft wieder reichlich Stoff.

»Wissen Sie schon,« hatte der Barbier an der Ecke da drüben zu dem Inhaber des kleinen Ladens im Souterain gesagt, als dieser auf Kunden harrend, in seiner Ladenthür stand. – »Wissen Sie schon, er ist verurtheilt zu drei Jahren Gefängniß.«

»Geschieht ihm schon recht,« antwortete der Inhaber des Ladens im Souterain. »Ich habe von vorn herein gesagt, daß er verurtheilt werden mußte. Sein Verbrechen war zu sonnenklar.«

»Und ich behaupte,« fügte der Hauswirth hinzu, der sich sehr bald zu der Debatte einfand, »daß die Strafe noch viel zu gelinde ist, denn es hätte ja möglich sein können, daß dadurch ein ganz ehrlicher Mensch, wie doch Mr. Atzerott einer ist, in Verdacht kam. Solche Schurkerei muß exemplarisch bestraft werden.«

»Ich möchte nur wissen,« sagte der Schuhmacher aus dem dritten Stock, »wie es die Frau jetzt machen wird, sich und ihre Kinder zu ernähren und die Miethe zu bezahlen, denn sie ist sehr schwächlich.«

»Ach; das wird sie schon machen,« nahm die gelbbraune Wittwe das Wort, die im Nebenhause ihr Kuppelgewerbe betrieb, »der alten Herr, der eben hinausging, wird nicht mit leeren Händen gekommen sein. – Man kennt so was schon – ich will weiter nichts behaupten, aber ich denke mir meinen Theil.«

»Sie täuschen sich nicht,« versetzte der Hauswirth, »denn vor einer Stunde etwa kam hier ein Packetträger, der bei mir nach der Wohnung des saubern Weibchens fragte, er brachte ihr eine Kiste, da dieselbe nicht verschlossen war, so that ich einen Blick hinein – und was meinen Sie wohl, was darin war?«

Alle Zuhörer waren gespannt, zu erfahren, was in der Kiste enthalten war.

»Kleider waren drin, schöne, theure Kleider, wie sie meine eigene Frau und meine Töchter nicht besser tragen.«

»Das dacht ich mir gleich,« rief die Gemüsehändlerin. »Nun ja, der alte Herr wird schon wissen, womit man ein solches Püppchen ködert.«

»Es soll übrigens an der ganzen Familie nicht viel dran sein,« bemerkte der Wirth. »Ich hörte von Mr. Atzerott, daß dieser Powel eine Schwester hat, die als Mann verkleidet, unter den New-Yorker Freiwilligen in der Potomac-Armee dient. So was ist doch gegen allen Anstand.«

»Na, man kann sich denken, was sie dabei für einen Zweck hat,« höhnte die Gelbbraune. »Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie dabei ein anständiges Geld zusammenschlägt, die Herren Offiziere sind in dem Punkt sehr freigebig.«

»Vielleicht wird diese Frau die neuen Kleider, die sie sich so leicht verdient hat, dazu benutzen, sich auf eine ebenso angenehme und bequeme Weise durchzuhelfen,« meinte die Gemüsehändlerin.

»So was würde ich mir in meinem Hause aber sehr verbitten,« versetzte der Wirth barsch. »Bis Neujahr habe ich die Miethe pränumerando erhalten, ich riskire also nichts, wenn ich sie hinauswerfe, und das geschieht, so bald ich nur merke, daß sie ein unsauberes Gewerbe betreibt.«

Wie damals, als man über die unglückliche Frau zuerst den Stab brach, so kam sie auch jetzt die Treppe herunter, nur in ihrer Kleidung bedeutend einfacher als damals, denn die letzten Reste ihres Wohlstandes waren bereits zu Gelde gemacht. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen verweint. In ihren Händen trug sie die Kiste, von welcher soeben die Rede gewesen war.

Wieder trafen die höhnischen Blicke und boshaften Bemerkungen ihr Herz wie giftige Dolche, allein sie ließ dieselben unbeachtet und wandte sich an den einigermaßen überraschten Wirth:

»Ich erhielt vor einer Stunde diese Kiste, Sir.«

»Ich weiß.« antwortete er brummend, »und habe errathen, wofür,« fügte er mit frivolem Lachen hinzu.

»Das habe ich nicht errathen,« antwortete Mrs. Powel in bescheidenem Tone, »aber ich habe soeben erfahren, von wem die Kiste kommt. Sie ist von Mr. Atzerott.«

»Oho! Von Mr. Atzerott?« rief der Wirth. »Der treibt wirklich seine Freundlichkeit etwas weit – er verschwendet noch Almosen an diese – diese – Menschen, die ihn in's Unglück zu stürzen gedachten; das ist eine Gutmüthigkeit, die an Thorheit grenzt.«

»In welcher Absicht er mir die Kleider schickte, das weiß ich, wie ich schon sagte, nicht,« entgegnete Mrs. Powel höflich aber bestimmt »Da ich aber Mr. Atzerott keine gute Absicht zutraue, so halte ich es für meine Pflicht, sein Geschenk zurückzuweisen. Ich kenne den gegenwärtigen Aufenthalt Mr. Atzerott's nicht, da Sie aber ein Freund von ihm sind, so haben Sie wohl die Güte, ihm bei nächster Gelegenheit die Kiste zuzustellen, oder sie bei sich stehen zu lassen, bis er einmal zu Ihnen kommt.«

Sie grüßte freundlich und höflich und wandte der etwas verblüfften Versammlung der Nachbarn den Rücken.

»I, so ein spitznäsiges Geschöpf« unterbrach endlich die Gemüsehändlerin das Schweigen. »Sie sollte ihm die Hände küssen, daß er an ein Geschöpf, wie sie ist, noch einen Cent verschwendet. Sie hält es für ihre Pflicht, das Geschenk zurückzuweisen – i, sieh mal Einer an, die Person ist noch obenein schnippisch!«

Die gelbbraune Wittwe hatte sich indessen nicht enthalten können, die Kiste zu öffnen und einen Blick hineinzuwerfen. Die Hände zusammenschlagend rief sie aus:

»Herr, Du mein Gott, sind das schöne Kleider! – Solche Geschenke auszuschlagen, das ist die pure Frechheit. Sie sollte sich freuen, von einem so anständigen Manne, wie Mr. Atzerott, eine Unterstützung zu bekommen, aber von einem anständigen Manne nimmt sie keine Unterstützung, sie wird ohnehin genug haben von ihrem – na, ich will nichts gesagt haben, aber der alte Herr Powis der wird ihr wohl so viel dagelassen haben, daß sie dies nicht braucht. – Anständige Leute haben nicht das Glück, einen seidenen Paletot und ein seidenes Kleid geschenkt zu bekommen, mir wenigstens ist es höchstens passirt, als ich noch ein junges Mädchen war, und damals hatte ich noch ein anderes Gesicht wie sie.«

Der Wirth war zwar durchaus ihrer Ansicht, indessen beschäftigten sich seine Gedanken für den Augenblick mehr mit der Frage, was er eigentlich mit den Kleidern anfangen solle? – Mr. Atzerott war bereits diesen Mittag nach dem Süden abgereist. Sollte er nun die Kiste für ihn reserviren, bis er wiederkomme, oder sollte er die Kleider verkaufen und das Geld für ihn deponiren? – Für das Letztere entschied sich der Inhaber des Ladens im Souterain, für das Erstere entschieden sich die Töchter des Wirthes, die dabei die geheime Hoffnung hegen mochten, Mr. Atzerott möchte in dem Falle vielleicht ihnen ein Geschenk mit den schönen Kleidern machen. – Der Wirth kratzte sich hinter den Ohren und sprach die Befürchtung aus, daß Mr. Atzerott am Ende keines von Beiden billigen würde, was ihm um so unangenehmer sei, als Mr. Atzerott sehr leicht aufgebracht würde, was er gern vermeiden möchte. Das beste Auskunftsmittel schien ihm das zu sein, die Kiste an Mr. Aaron Levy zu senden, da dieser ja mit Mr. Atzerott in fortwährender Correspondenz stände, und dem zu überlassen, über die Kiste nach seinem Belieben zu verfügen.

Während noch Alle über diesen Punkt deliberirten, rief plötzlich die gelbbraune Wittwe, auf ein Mädchen deutend, das quer über die Straße auf das Haus zuschritt:

»Sehen Sie, da kommt das Hausmädchen von Mr. Powis. Sie trägt einen schweren Korb; – habe ich's nicht gesagt, daß sie andere Quellen haben muß? – Nun freilich, dann ist es erklärlich, daß sie das Geschenk von Mr. Atzerott zurückzuweisen für ihre Pflicht hält, der alte Herr möchte sonst eifersüchtig werden.«

»Wenn ich nicht irre,« fügte der Barbier hinzu, »sehen aus dem Korbe einige bestaubte Weinflaschen. Gewiß ein alter Jahrgang aus dem wohlgefüllten Keller des Rentiers.«

»Natürlich,« meinte die Gemüsehändlerin, »sie werden für den Abend ein Rendezvous verabredet haben und dabei ein gutes Glas Wein trinken wollen. Ja, ja, man kennt schon die Manieren von solchen Dämchen. Ich hab's immer gesagt, es ist an ihr nichts dran.« – –

Mrs. Powel saß, während sie hinter ihrem Rücken verschmäht und verleumdet wurde, weinend in dem Winkel neben dem Spinde, und tröstete ihre Kinder eben über den Verlust der neuen Kleider, die denn auch, um der Mutter nicht noch mehr Kummer zu machen, kein Wort mehr davon erwähnten.

»Unser Schicksal ist Armuth, Elend und Schande!« schluchzte sie, mehr zu sich selbst, als zu den Kindern redend. »Oh mein Gott, wodurch haben wir das verschuldet. – Armer, unglücklicher Gatte, wodurch hast Du es verdient, mit Schande gebrandmarkt Deine Tage in den Mauern eines Kerkers hinschmachten zu müssen? Oh, könnte Dich erretten, dürfte ich hoffen, daß der edle Mann, der sich Deiner anzunehmen versprach, Dich uns wiedergeben könnte, wie gern wollte ich Noth und Armuth ertragen. Ich weiß nicht, woher ich heute Abend einen Bissen Brod für Euch, meine armen Kinder, nehme, aber was ist Noth und Entbehrung gegen den Gram, der an meinem Herzen nagt!«

Unwillkürlich, obwohl sie vielleicht kaum die Worte der Mutter verstanden, füllten sich die Augen der Kleinen mit Thränen, in rührender Weise suchten sie die Mutter zu trösten und mit dem Versprechen zu beruhigen, daß sie immer artig und folgsam sein und ihr niemals Kummer machen würden.

Die blasse Frau nahm die Kleinen in ihre Arme und preßte sie an's Herz.

Da klopfte es.

»Herein!«

Es erschien ein Dienstmädchen mit einem schweren Korbe am Arm.

»Bin ich hier recht bei Mistreß Powel?«

»Das ist meine Name,« sagte die junge Frau aufstehend.

»Ein Herr, der es gut mit Ihnen meint, schickt Ihnen dies hier. Er meint, sie müßten kräftige Speisen genießen, darum hat er hier den Korb vollgepackt und einige Flaschen guten Wein beigelegt. Er meint, er wird Ihnen gut thun. Wollen Sie die Güte haben, die Sachen auszupacken? – Ja, ja, Du kleiner Blondkopf,« wandte sie sich an den Knaben, der sich neugierig näherte und, da er von Leckerbissen hörte, lüsterne Blicke in den Korb warf – »das wird Dir munden, mein Herzchen, es ist auch ein großer Kuchen für Dich dabei, da sollst Du Deine Freude daran haben.«

Mrs. Powel indessen würdigte den Korb keines Blickes.

»Darf ich den Namen des Herrn wissen, der das schickt?« fragte sie ruhig, aber nicht ohne eine geringe Beimischung von Bitterkeit.

»Der Herr wünscht ungenannt zu bleiben,« antwortete das Mädchen. »Es ist mir verboten, seinen Namen zu nennen.«

»Ist auch nicht nöthig,« antwortete Mrs. Powel kalt, »ich habe den Namen meines unbekannten Wohlthäters heute bereits gehört, sagen Sie dem Herrn, daß ich ihn bitte, mich ferner zu schonen, daß er dem Unglück, das er über uns gebracht, nicht noch die Demüthigung hinzufügen mochte, mir Almosen zu reichen; ich weise seine Wohlthaten zurück und erkläre ihm, daß er, falls er wirklich – was ich seinem Charakter kaum zutraue – Reue über seine boshafte That empfinden sollte, er diese dadurch zu erkennen geben möchte, daß er die Wahrheit an's Licht bringt, bis dahin aber werde ich ihm nicht verzeihen, sondern ihn hassen wie meinen Todfeind.«

Ihre Wangen hatten sich getöthet, während sie diese Worte mit Entrüstung sprach. Das Mädchen blickte sie eine Weile mit stummem Erstaunen an; dann wandte sie schüchtern ein:

»Ich glaube, Sie thun dem Herrn Unrecht, Ma'am, Sie irren sich in der Person«

»Ich irre mich nicht,« entgegnete die Dame. »Ich habe von einem Manne, dem ich keine Unwahrheit zutraue, den Namen dieses unbekannten Wohlthäters gehört. Ich bitte Sie, daß Sie kein Wort darüber sagen, es ändert meinen Entschluß nicht.«

»Aber Sie werden doch dies nehmen, Ma'am?«

Sie zog aus der Tasche ein Couvert, aus welchem neben der Adresse der Dame die Deklaration stand: »Einliegend: Anweisung über 50 Dollars.«

»Ich weise dies wie alle Geschenke zurück, die von jenem Herrn kommen,« erklärte Mrs. Powel und wandte sich ab, was für das Mädchen ein Zeichen sein sollte, daß sie mit ihr nicht weiter zu verhandeln wünsche.

Das Mädchen nahm mit einem mitleidigen Blick auf die beiden Kinder, die Hand in Hand neben dem Korbe standen und mit unverkennbarem Schmerze auf ihren Gesichtern vernahmen, daß die Mama all die schönen Sachen wieder zurückschicken wolle, den Korb wieder auf und entfernte sich.

Wie Mrs. Powel darüber vergebens nachsann, was Atzerott bewegen könne, ihr durchaus seine Wohlthaten aufzudringen, so zerbrachen sich die klatschenden Nachbarn auf dem Hausflur vergebens den Kopf darüber, was in aller Welt die Frau bewegen könne, auch die Wohlthaten des Mr. Powis abzulehnen. Daß dies irgend einen verwerflichen, unmoralischen Grund habe, darüber waren sie Alle einig, nur welchen Grund? – darin wichen ihre Ansichten von einander ab.

Sie waren darüber noch lange nicht im Reinen, als sie durch ein Ereigniß in neues Erstaunen versetzt wurden.

Der Criminalbeamte und der Gerichtsdiener, welche unlängst bei Mrs. Powel die Haussuchung abgehalten hatten, kamen herein und stiegen, nur flüchtig grüßend, die Treppen hinauf.

»Ah, das war schon anzunehmen, daß sie mit ihrem Manne die Betrügereien gemeinschaftlich verübt hat,« erklärte der Barbier.

»Habe ich nicht von Anfang an gesagt, daß an ihr Nichts dran ist?« rief die Gemüsehändlerin. »Sie werden sehen, man wird sie jetzt mitnehmen, und mit ihrem saubern Manne unter einem Dache wohnen lassen.«

»Ein wahres Glück, daß ich bis Neujahr meine Miethe voraus erhalten habe,« sagte der Hauswirth.

»Da haben Sie recht,« bestätigte der Barbier mit spöttischem Lachen. »Sie können jetzt getrost das Quartier anderweitig vermiethen, denn die Powels haben jetzt ein Logis gratis.«

»Ich hätte nimmermehr gedacht, daß die Frau auch eine Verbrecherin ist,« sagte der Schuhmacher aus dem dritten Stock.

»Ja, Sie haben noch immer ihre Partei genommen,« versetzte die gelbbraune Wittwe. »Aber Sie werden sehen, was das für ein Dämchen ist, die immer that, als ob sie Wunders was mehr wäre wie Unsereins.« – –

Der Criminalcommissarius fand Mrs. Powel noch in dem traurigen Sinnen im Winkel sitzen, als er eintrat.

Sie erkannte ihn sofort wieder und ward bei seinem Erscheinen womöglich noch bleicher. Ohne im Stande zu sein, ein Wort zu sprechen, trat sie ihm entgegen.

Der Beamte ersparte ihr die Frage, die auf ihren Lippen schwebte. Theilnehmend blickte er sie an und sagte:

»Es führt mich wieder die traurige Pflicht zu Ihnen, Madame, eine Haussuchung zu halten.«

»Eine Haussuchung? Und weswegen?«

Ein Hoffnungsstrahl dämmerte in ihr auf und verklärte ihr Antlitz und mit freudiger Bewegung fragte sie:

»Ist es, um Beweise für die Unschuld meines Mannes zu schaffen?«– Sagen Sie, Sir, welche Schriftstücke wünschen Sie, – ich will Ihnen Alles aushändigen, was Sie verlangen.«

Der Beamte schüttelte den Kopf.

»Es ist nicht mehr in der Untersuchungssache gegen Ihren Mann, der ist bereits verurtheilt. – Doch beantworten Sie mir noch erst einige Fragen.« –

Der Ton, in welchem der Criminalbeamte sprach, ließ schnell ihre Hoffnung sinken und kleinlaut antwortete sie:

»Ich bin bereit.«

»Haben Sie bemerkt, daß, als Sie an dem Tage, an welchem Ihr Mann verhaftet wurde, kamen, um denselben zu besuchen, aus dem Fenster einer Zelle des Courte-Hauses ein Zettel herabgeworfen wurde?«

Mrs. Powel mußte sich besinnen; ihre Gedanken hatten sie so ausschließlich die ganze Zeit mit ihrem Kummer beschäftigt, daß ihr jenes Factum ganz entfallen war. Erst nach einer Pause bejahte sie diese Frage.

»Ein Gefangener der untern Zellen sah, daß Sie den Zettel aufhoben; ist das wahr?« fuhr der Beamte fort.

»Es ist wahr.«

»Sie wußten, wer den Zettel. herabwarf?«

»Nein, mein Herr.«

»Sie wußten aber, an wen der Brief gerichtet war?«

»Nein, Sir, das wußte ich nicht.«

»Jedenfalls haben Sie doch die Adresse darauf gelesen?«

Mrs. Powel mußte sich besinnen, bevor sie antworten konnte.

»Jetzt fällt es mir ein: es standen statt der Adresse nur die Buchstaben K. G. O. daraus.«

»Was haben Sie mit dem Brief gemacht?«

»Der Brief wurde mir von Mr. Atzerott, der eben hinzukam, als ich ihn aufhob aus den Händen genommen. Er sagte, wenn ich nicht irre, daß er ihn dem Inspector geben wolle.«

Der Commissarius schüttelte ungläubig den Kopf und schwieg einen Augenblick. Dann begann er von Neuem:

»Ich muß Sie um Ihrer selbst willen bitten, nur die reine Wahrheit zu sagen. Ich kann mir wohl erklären, daß Sie einen Haß haben auf Mr. Atzerott, aber lassen Sie sich durch diesen Haß nicht verleiten, auf ihn eine Beschuldigung zu wälzen.«

Die Wangen der betroffenen Frau rötheten sich in edlem Zorn als sie entgegnete:

»Ich hoffe, Sir, Sie haben keinen Grund so niedrig von mir zu denken, und zu glauben, daß ich gegen mein besseres Wissen selbst auf meinen Feind die Last eines Verbrechens wälzen möchte, übrigens sehe ich noch gar nicht ein, wie es sich hier tun irgend eine strafbare That handeln kann. Ich wenigstens habe, als ich den Brief aufhob, der vor mir niederfiel, nicht im Entferntesten daran gedacht, mich dadurch eines Verbrechens schuldig gemacht zu haben.«

»Sie wissen also nicht, von wem der Brief war?«

»Wie soll ich das wissen, da ich ihn nicht öffnete?«

»Der Brief wurde von Berckley herabgeworfen, dem Vorsitzenden eines Bundes der Führer der Rebellen, welche Verbindungen selbst in dieser Stadt haben. Jenes Ereigniß nun hat Sie verdächtigt, Ma'am, mit jenem Berckley und dessen Anhängern im Einverständnisse zu stehen.«

»Was, Sir, höre ich recht? Man meint, daß ich an einem Complot Theil hätte gegen unsere Regierung?« rief entsetzt die junge Frau.

»Es ist leider so,« antwortete der Beamte. »So leid es mir auch thut, so gebietet mir die Pflicht, Ihre und Ihres Mannes Papiere sämmtlich in Beschlag zu nehmen«

Mit Ruhe und Fassung, die ihr das Gefühl ihrer Unschuld verlieh, sah sie, wie der Beamte, alle Briefe und Papiere zusammenpackte und dem Gerichtsdiener übergab.

Als das Geschäft beendet war, wandte sich der Beamte wieder an die Dame:

»Nun, Ma'am, muß ich Sie ersuchen, sich anzukleiden und mich auf das Courte-Haus zu begleiten.«

»Das ist nicht möglich Sir,« antwortete sie angstvoll. »Das Kindchen hier,« – sie deutete auf das schlafende Kind in der Wiege – »wird bald aufwachen, und dann muß ich ihm zu Trinken geben. Wenn aber meine Gegenwart nöthig ist, so werde ich kommen, sobald der Kind wieder schläft.«

In dem Blick, den der Beamte auf die junge Frau richtete, sprach sich das aufrichtigste Mitgefühl aus, und ließ sich erkennen, wie schwer ihm hier die Erfüllung seiner Pflicht ankam.

»Ich bedaure von ganzem Herzen, Ma'am,« sagte er sanft; »auf Ihr Gefühl und Ihre Mutterpflicht nicht Rücksicht nehmen zu dürfen. Es ist durchaus nothwendig, daß Sie mich begleiten.«

»Das werden Sie nimmermehr verlangen, Sir. Ich will Ihnen hier jede Auskunft geben, die Sie wollen, aber befehlen Sie nicht, daß ich meine Kinder verlasse!« rief sie mit Entschiedenheit.

»Ich muß es leider verlangen. – Halten Sie mich nicht für hartherzig, Ma'am. – Sehen Sie dies –.«

Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche und hielt es der zitternden Frau hin. Dieselbe warf nur einen flüchtigen Blick darauf, dann sank sie mit einem gellenden Schrei auf einen Stuhl.

»Ein Verhaftsbefehl gegen mich! – Gerechter Gott!«

Der Beamte bat sie, sich zu fassen, und tröstete sie mit der Aussicht, daß der Richter vielleicht keinen Grund zu einer Anklage finden würde, und daß alsdann ihre Freilassung schon nach kurzer Zeit erfolgen würde.

»Aber meine Kinder!« jammerte sie. »Meine armen Kinder!«

Wie im Wahnsinn der Verzweiflung sprang sie auf und riß das jüngste Kind aus der Wiege und preßte es an die Brust. Die beiden andern Kinder drängten sich an sie und baten laut weinend in den zärtlichsten Ausdrücken, daß sie sie nicht verlassen möge.

Der greise, durch manche ergreifende Scene abgehärtete Beamte wischte eine Thräne aus den Augen.

Jetzt kam der Gerichtsdiener, der sich entfernt hatte, herein und meldete, daß ein Hausom unten bereit stehe.

»Mäßigen Sie Ihren Schmerz,« begütigte der Beamte die junge Frau. »Für Ihre Kinder wird bestens gesorgt werden. Man wird sie in ein gutes Waisenhaus geben.«

»Nein, Sir, das ist nicht nöthig,« ließ sich hier plötzlich die Stimme Mr. Powis' vernehmen. »Die Kinder nehme ich zu mir.« Dann wandte er sich an die Dame: »Sein Sie unbesorgt, Ma'am, Ihre Unschuld muß bald genug an den Tag kommen. – Du meine Güte, Ma'am, ich hoffe, sie weisen mein Anerbieten nicht zurück. Sein Sie überzeugt, daß ich die Vorwürfe nicht verdiene, welche Sie mir machen. Ich will wie ein Vater sorgen für Ihre Kleinen, und meine Frau wird ihnen eine Mutter sein, und gegen Sie und Ihren Mann will ich thun, was in meinen Kräften steht, wie ein echter und wahrer Freund.« –

Fünf Minuten später stiegen Mrs. Powel und der Criminal-Commissarius in den vor der Thür haltenden Hausom ein.

»Nach dem Court-House!« rief der Beamte dem Kutscher zu.


 << zurück weiter >>