Berthold Auerbach
Das Landhaus am Rhein / Band IV
Berthold Auerbach

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Zehntes Buch.

Erstes Capitel.

Die Sage erzählt von einem Riesenkinde, das den pflügenden Bauer sammt Pflug und Pferd für Spielzeug hielt, in die Schürze nahm und davon trug.

Aehnlich erging es Manna.

Weit hinausgetragen, weltvergessend und weltüberwindend war all die Tage und Nächte ihr Denken gewesen, daß ihr das Treiben der Menschen wie Kinderspiel vorkam. Das Leben ist eitel Spiel, nur der Tod ist ernst.

So denkend stand Manna früh am Morgen nach dem Geburtstage Rolands am Fenster; sie sah in die Landschaft, sie dachte an die Menschen, aber Alles erschien ihr weit, weit entfernt.

Die Klosterglocke, die beim ersten Morgenstrahl die Zöglinge geweckt hatte, lag ihr noch so in der Erinnerung, daß sie im Schlafe ihren Schall zu hören vermeinte und davon erweckt wurde. Sie hatte sich erst besinnen müssen, wo sie denn sei.

Du bist daheim. – Wo ist daheim?

Alles war noch ruhig in der Villa, Manna allein wachte und mit ihr das zahllose Heer der Vögel im Garten.

Sie ging in den Park, sie empfand eine Unruhe, sie schaute um, als fühlte sie den Blick, der auf ihr ruhte. Auch Erich war am frühen Morgen erwacht und stand am Fenster. Aber er hütete sich wohl, durch Zeichen kund zu geben, wen er gesehen.

Er hatte das Fenster geöffnet und Manna gewahrt. Leise zog er sich zurück und dachte sich, die erfahrene Herbheit vergessend, in die Seele des Mädchens, das aus klösterlicher Abgeschiedenheit in das so reich ausgestattete elterliche Haus zurückgekehrt war.

Es läutete im nahen Dorfe und es läutete von allen Enden, diesseits und jenseits am Ufer, stromauf, stromab.

Manna verließ den Park und kehrte in das Haus zurück, um ihr Gebetbuch zu holen. Auf dem Flur hörte sie, wie Fräulein Perini den Dienern Auftrag gab, die Zimmer für die Tochter des Landrichters bereit zu halten. Manna hatte es auf den Lippen, der vormaligen Erzieherin zu klagen, wie sie sich eine unwahre Beziehung auferlegt, denn sie fürchtete Lina's Ankunft, deren flatterhaftes Wesen ihr am gestrigen Tage so störend gewesen; aber sie hatte sich vorgesetzt, Alles in sich allein zu überwinden, und es war ihr Entschluß, Lina gradaus zu bitten, sie jetzt nicht zu besuchen; sie war es sich schuldig, jetzt allein zu bleiben.

Da kam ein Bote mit einem Briefe von Lina, die bedauerte, daß ihr nicht möglich sei, die längere Gastfreundschaft auf Villa Eden anzunehmen. Sie bat Manna um ein Wort der Beruhigung, daß sie ihr deßhalb nicht zürne. Manna war froh, nun ohne Verletzung frei sein zu können.

Die Glocke läutete wieder und Manna ging zur Kirche.

Fräulein Perini war stolz und glücklich; die Anderen mochten Manna mit Allerlei zu gewinnen suchen, sie allein konnte mit ihr zur Kirche gehen.

»Haben Sie noch immer die Gewohnheit, Morgens nicht gern zu sprechen?« fragte Fräulein Perini.

Manna nickte still.

Als die Messe zu Ende war und die Beiden mit einander die Kirche verließen, sagte Fräulein Perini, daß sie Manna bei dem Pfarrer einführen wolle, der erst während ihrer Abwesenheit hieher versetzt war.

Manna bat, sie allein gehen zu lassen. Sie ging nach dem Pfarrhause. Sie schien erwartet worden zu sein, denn der Pfarrer kam ihr auf der Treppe entgegen und begrüßte sie mit einem Segensspruche. Er führte sie an der Hand in sein Zimmer.

Manna mußte sich auf das Sopha setzen. Sie begann:

»Fräulein Perini wollte mich bei Ihnen, hochwürdiger Herr, einführen. Das muß man bei einem fremden Manne, aber Sie sind kein fremder Mann, Sie sind ein Diener unserer heiligen Kirche.«

Der Pfarrer legte die Spitzen der feinen Hände auf einander und sagte mit ruhigem Tone:

»Sie sind auf dem rechten Weg, halten Sie ihn inne. Die Weltlinge kommen in einen Ort, sind fremd, wildfremd, sie wissen nicht, ob hier ein Mensch ist, der gleiche Gedanken hegt wie sie, und unter ihnen sind auch nicht zwei Menschen, die das Gleiche denken bei denselben Worten; sie haben kein Band der Einigung, sie flattern in der Schwebe wie das Sonnenstäubchen. Sie aber, treten Sie in das entlegenste Dorf, Sie sind daheim, da ist ein Haus und darin ein Mann, der Ihres Geistes, der Sie als Bruder, als Vater begrüßt; denn er ist hingesetzt von einem Höhern, und Sie sind hergeführt von einem Höhern. Seien Sie mir doppelt willkommen, da Sie dieses sogleich wußten. Klopfe an meine Thür, es wird Dir aufgethan zu jeder Zeit; klopfe an mein Herz, es ist Dir aufgethan. Ich habe kein eigen Haus, kein eigen Herz, mein Haus ist dem, der mir nachfolgt, und mein Herz dem, der es bewegt.«

Der Pfarrer hielt eine Weile inne, er betrachtete Manna, die die Augen geschlossen hatte, wie wenn sie nicht in die Sonne schauen könne, nicht in das Antlitz, auf welches der Geist sich niederläßt. Der Pfarrer mochte ahnen, wie sie bewegt war, er verweilte absichtlich auf der allgemeinen Betrachtung, ohne ins Persönliche überzugehen, er wollte den Zwiespalt zwischen der Tochter und dem Vater nicht erweitern; Manna dagegen war zurückhaltend, denn sie hatte nur dem Klostergeistlichen den ersten Grund ihrer Opferbereitschaft gebeichtet und hatte die Erlaubniß erhalten, es fortan zu verschweigen.

Beide waren zurückhaltend und Beide wußten nicht, daß sie nichts vor einander zu verheimlichen hatten. Der Pfarrer legte ihr freundlich die Hand aufs Haupt und sagte:

»Ja, daß Sie allein gekommen und wissen, warum Sie allein gekommen, das überhebt uns jeder Verständigung, wie es die Weltlinge nennen. Verständigung!« wiederholte er lachend. »Und sie verstehen einander doch nie, die Gebildeten, wie sie sich nennen, oder die Selbstgebildeten, wie sie sich nennen sollten, denn sie glauben, daß sie sich selbst zu etwas machen. Freilich sie bedürfen der Empfehlung von einem Andern, der muß sagen, das ist der und der und er ist so und so; wir aber, wir bedürfen keiner Empfehlung, keiner Einführung. Sprechen Sie mit mir von Allem, von Heiligem und Verkehrtem, von allem Großen und allem Kleinen. Wenn man Sie in der Welt beunruhigt und heimatlos macht, wissen Sie, hier ist Ruhe und Heimat. Da drüben hat Ihr Vater ein Warmhaus für Pflanzen, die nicht heimisch sind in unserm Klima; diese Stube ist ein Warmhaus für die Pflanze des heiligen Glaubens, die nicht heimisch dort ist. Ich hebe keinen Stein auf, gegen Niemand, aber ich sage und Sie wissen es, diese Pflanze ist vom Himmel in uns gebracht und ist in dieser Welt in fremdem Klima.«

Der Pfarrer blieb am Fenster stehen und schaute hinaus; Manna saß auf dem Sopha.

Geraume Zeit wurde kein Wort gesprochen.

Manna war ergriffen von dieser edlen Bereitwilligkeit.

Schüchtern fragte sie, wie sie sich zu all den Menschen verhalten solle, die sich in freundlicher Weise ihrem Elternhause angeschlossen und sich der Bildung rühmen dürften.

»Sie fragen gut und bestimmt, das ist Zeichen der Reife,« erwiderte der Pfarrer. »Was Sie thun sollen? Lächeln sollen Sie zu all den Großthuereien! Diese Weltweisen thun groß und sind so klein in ihrem Dünkel, daß die Welt nicht mehr Verstand besitze und von nicht mehr Weisheit regiert werde, als ihr Verstand ausmißt; sie wiegen Gott nach dem Gewichte ihres Gehirns.«

Es war plötzlich ein anderer Ton, in dem der Pfarrer sprach, ein heftiger, anstürmender, so daß Manna erschrocken zusammenfuhr. Der Pfarrer, der das wohl merkte, faßte sich wieder und sagte:

»Sie sehen, ich bin noch schwach und lasse mich zu Heftigkeit hinreißen. Sie werden sie nun auch kennen lernen, die sogenannten Vernunfthelden, oder eigentlich die Vernunftschwächlinge, die nie bekehrt werden können, denn ihnen fehlt der Muth, der zur Demuth werden kann.«

Der Pfarrer glaubte, daß Manna verstehe, wie er damit auf Erich ziele; er wollte vorerst nicht näher eingehen, aber sie sollte vorbereitet sein. Jetzt wendete er sich lächelnd, setzte sich und sagte:

»Doch verlieren wir uns nicht so weit. Sprechen Sie.«

Manna klagte, wie schwer es ihr werde, noch ein Jahr der Prüfung durchmachen zu sollen, sich in der Welt zu bewegen, um sich von ihr abzulösen.

Der Pfarrer beruhigte sie, indem er sagte:

»Sie wollen den Schleier nehmen, er ist bereits über Sie gebreitet und über die Welt, unsichtbar für Andere. Alles in der Welt berührt nicht Sie selbst, es ist ein Schleier zwischen Ihnen und der Welt; und dieser Schleier fällt erst, wenn der Tod uns erlöst.«

Er ging behutsamer als Prancken zu Werke, er wollte nicht gegen Erich kämpfen, und dadurch vielleicht erst ein Interesse in Manna wecken, er lobte ihn, aber in jener mitleidigen Weise, die der auf Positivem Stehende so leicht einnimmt.

Als Manna fragte, warum der Pfarrer nicht seinen Einfluß darauf gewendet, daß Erich nicht ins Haus gekommen, entgegnete er, wie er sich dieses Eifers freue, aber man müsse Vieles gewähren lassen in der Welt, und gegen den Vater wäre jeder Kampf im Voraus vergebens; dazu habe Roland seinen eigenen Willen eingesetzt. Uebrigens sei Erich, wenn auch ein vollendeter Ketzer, doch von einer gewissen Anerkennung des Heiligen, obgleich viel Hochmuth in dieser Anerkennung läge.

Ohne Ueberleitung sagte der Pfarrer, Manna möge heimkehren, man werde sie zu Hause erwarten. Sie solle nie verhehlen, daß sie bei ihm gewesen, aber er verzeihe ihr im Voraus, wenn sie ihn oft geraume Zeit vernachlässige; er verbleibe unverbrüchlich der Ueberzeugung, daß ihre innerste Seele dem heiligen Glauben zugewendet bleibe.

»Nun gehen Sie,« schloß er, »und wissen Sie, daß ich für Sie bete.«

Manna sah ihn groß an. »Ich werde für Dich beten« – wie oft hatte sie dies Wort gehört, ohne einen Zweifel daran zu hegen; jetzt kam es ihr ganz neu vor, die Frage zuckte durch ihre Seele: Kann man denn für einen andern Menschen beten?

Das Räthsel, das Roland in ihre Seele geworfen, ging neu auf, und wuchs zum Räthsel ihres Lebens.

Sie wollte fragen, ob Kinder für die Sünden der Eltern büßen müssen, ob nicht vielmehr das Kind für die Eltern sühnen kann. Sie wollte dem Pfarrer das Alles sagen, er sollte ihr helfen, aber da er jetzt wiederholte: »Nun gehen Sie, mein Kind!« wendete sie ihr fragendes Auge von ihm ab und ging.


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