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39

In wenigen Sekunden war Yale an Händen und Füßen gefesselt. Beamte nahmen ihm den Revolver ab, warfen einen Tuchsack über sein Gesicht und brachten ihn aus dem Zimmer.

Inspektor Parr wischte sich den perlenden Schweiß von der Stirne.

»Meine Herren«, sagte er etwas erschüttert, »bitte, entschuldigen Sie mich heute abend. Morgen will ich Ihnen das Ende der Geschichte erzählen.«

Die verblüfften Zuhörer umringten ihn und überschütteten ihn mit Fragen, aber er schüttelte nur den Kopf.

»Er hat eine schlimme Zeit durchlebt«, sagte Morton. »Niemand weiß das besser als ich. Ich würde mich freuen, Premierminister, wenn Sie seinem Ersuchen nachkommen würden und die weiteren Erklärungen auf morgen verschieben wollten.«

»Vielleicht kommt der Inspektor morgen zum Lunch«, erwiderte der Premierminister, und der Kommissar nahm die Einladung für Parr an.

Der Inspektor nahm Jacks Arm und trat mit ihm auf die Straße hinaus. Dort wartete schon ein Auto, und er schob den jungen Mann hinein.

»Es ist mir, als ob ich träumte«, meinte Jack, als er schließlich die Sprache wiederfand. »Derrick Yale! Unmöglich! Und doch –«

»Ach, es ist schon möglich, wie Sie gesehen haben!« Parr lachte.

»Er arbeitete also mit Thalia Drummond zusammen?«

»Jawohl.«

»Aber wie sind Sie nur auf die Zusammenhänge gekommen?«

»Mutter hat mich darauf gebracht«, lautete die überraschende Antwort. »Sie können sich nicht vorstellen, was das für eine tüchtige alte Dame ist. Sie sagte mir heute abend –«

»Dann ist sie also zurückgekehrt?«

»Ja. Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie sie kennenlernten. Sie ist zwar etwas dogmatisch veranlagt und neigt ein wenig zum Widerspruch, aber ich lasse ihr den Willen.«

»Ich sicherlich auch«, erwiderte Jack lachend, obgleich seine Stimmung nicht die beste war. »Sie glauben wirklich, daß der Rote Kreis jetzt in Ihren Händen ist?«

»Aber natürlich. So sicher, wie ich weiß, daß wir hier zusammen im Auto sitzen, und daß meine Großmutter die klügste Frau der Welt ist.«

»Das bedeutet also, daß Thalia noch tiefer in die Sache hineingezogen wird«, meinte Jack nach einer Pause. »Wenn dieser Yale der Rote Kreis ist, wird er sie sicherlich bei der Gerichtsverhandlung nicht schonen.«

»Davon bin ich überzeugt. Aber warum zerbrechen Sie sich um's Himmels willen den Kopf immer noch über Thalia Drummond?«

»Weil ich sie liebe!«

»Wenn Sie einen Rat von mir annehmen wollen, dann vergessen Sie, daß Thalia Drummond jemals existierte. Schenken Sie Mutter Ihre Liebe.«

Jack hatte eine wenig höfliche Antwort auf der Zunge, unterdrückte sie aber.

Die Wohnung des Inspektors lag in der ersten Etage, und er ging zuerst die Treppe hinauf. In der Tür zum Wohnzimmer blieb er einen Augenblick stehen.

»Hallo, Mutter!« rief er. »Ich habe Jack Beardmore mitgebracht, der dich gerne kennenlernen möchte.«

Jack hörte einen Aufschrei.

»Kommen Sie herein, Mr. Beardmore«, lud ihn Parr ein.

Jack trat ein, blieb aber wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. Vor ihm stand, etwas blaß und müde, aber unendlich schön und herrlich – Thalia Drummond!

Sie ergriff seine ausgestreckte Hand und führte ihn an den Tisch, der für drei Personen gedeckt war.

»Du sagtest doch, du würdest Morton mitbringen, Vater?« fragte sie vorwurfsvoll.

»Vater?« wiederholte Jack verwirrt. »Aber Sie sagten mir doch, daß es Ihre Großmutter wäre!«

Sie streichelte seine Hand.

»Vater hat die Sache humorvoll aufgezogen, obwohl das wenig angebracht war. Zu Hause werde ich immer ›Mutter‹ genannt, weil ich ihn betreut habe, seit meine eigene liebe Mutter tot ist. Die Geschichte über seine Großmutter ist Unsinn, die müssen Sie ihm verzeihen.«

»Er ist Ihr Vater?«

Sie nickte.

»Thalia Drummond Parr – so heiße ich. Gott sei Dank sind Sie kein Kriminalbeamter, sonst hätten Sie Nachforschungen angestellt und mein schreckliches Geheimnis aufgedeckt. Nun essen Sie aber, Mr. Beardmore. Ich habe das Abendbrot selbst zubereitet.«

Aber Jack mußte erst noch mehr erfahren, und auf seine Bitte hin erzählte sie.

»Als nach den ersten Morden der Fall meinem Vater übertragen wurde, ahnte ich, welch eine ungeheure Arbeit er vor sich hatte. Außerdem war es sehr wahrscheinlich, daß er keinen Erfolg haben würde. Vater hat viele Feinde beim Polizeipräsidium, und Morton bat ihn, die Sache nicht zu übernehmen. Er ist nämlich mein Pate und interessiert sich sehr für unsere Angelegenheiten. Aber Vater bestand darauf, den Fall zu bearbeiten. Ich glaube allerdings, er hat es noch im gleichen Augenblick bereut. Nun habe ich mich auch schon immer für kriminelle Dinge interessiert, und sobald Vater die Organisation des Roten Kreises und seine Methoden kennenlernte, entschloß ich mich, die Verbrecherlaufbahn einzuschlagen.

Ihr Vater erhielt die erste Drohung drei Monate vor seinem Tode. Zwei oder drei Tage nachher nahm ich die Stellung bei Harvey Froyant an. Er war ein Freund Ihres Vaters, und ich hatte auf diese Weise Gelegenheit, Beobachtungen zu machen. Ich versuchte auch, bei Ihrem Vater Stellung zu bekommen, aber das mißglückte. Am schrecklichsten war es, daß ich im Walde war, als er getötet wurde.« Sie drückte teilnahmsvoll seine Hand. »Ich sah nicht, wer den Schuß abfeuerte, aber ich eilte zu ihm. Alle Hilfe kam jedoch zu spät. Und als ich Sie dann über die Wiese kommen sah, hielt ich es für besser, mich zu entfernen, besonders, da ich einen Revolver in der Hand hatte. Ich hatte nämlich einen Mann im Walde herumschleichen sehen und wollte herausbringen, was das bedeuten sollte.

Nach dem Tode Ihres Vaters lag kein Grund mehr vor, bei Froyant zu bleiben. Ich wollte aber dem Roten Kreis näherkommen, und der beste Weg dazu war, die Aufmerksamkeit des Führers auf mich zu lenken, indem ich selbst ein Verbrechen beging. Es war kein Zufall, daß Sie gerade an dem Pfandhaus vorbeikamen, als ich herausging. Ich hatte dort Froyants Buddhafigur versetzt. Mein Vater hatte das arrangiert, und er nannte mich nur eine Hochstaplerin und Diebin, um dadurch Derrick Yale oder besser Ferdinand Walter Lightman indirekt zu beeinflussen. Es war keine Gefahr vorhanden, daß ich deswegen ins Gefängnis kommen würde. Da ich nicht vorbestraft war, behandelte mich der Richter auch entsprechend. Aber mein guter Ruf war natürlich dahin, und ich erhielt auch, wie ich erwartet hatte, eine Aufforderung, den Anführer des Roten Kreises zu treffen.

Ich sah ihn am Steyne Square. Ich glaube, Vater beobachtete den Mann die ganze Zeit und verfolgte mich bis zu meiner Wohnung.

Meine erste Aufgabe war es, zu Brabazon zu gehen. Yales Methode bestand darin, daß er ein Mitglied durch das andere ausspionieren ließ. Mr. Brabazon war mir ein Rätsel. Niemals wußte ich genau, ob er ehrlich oder unehrlich war, und selbstverständlich hatte ich zuerst keine Ahnung, daß er zu der Bande gehörte. Aus Prestigegründen mußte ich wieder anfangen zu stehlen. Das brachte mir einen Verweis meines geheimnisvollen Chefs ein, diente aber einem nützlichen Zwecke. Ich kam auf diese Weise mit einer Verbrecherbande zusammen und war in Marisburg Place, als Felix Marl starb.

Yale stellte mich dann an, um den Verdacht von sich abzulenken. Außerdem hatte er sich ein sehr schönes Ende für mich ausgedacht. Er befahl mir nämlich, in der Nacht, in der er Froyant tötete, mich mit einem ähnlichen Messer und dem anderen Handschuh in dem Hause einzufinden.«

»Aber wie sind Sie aus dem Gefängnis entflohen?« fragte Jack.

Sie schaute ihn vergnügt an.

»Ja, wie konnte ich wohl aus dem Gefängnis entfliehen? Der Direktor hat mich natürlich mitten in der Nacht hinausgelassen, und ein ehrbarer Inspektor hat mich nach Hause begleitet.«

»Wir wollten Yale auf diese Weise zur Entscheidung zwingen«, erklärte Parr. »Sobald er wußte, daß Mutter entkommen war, geriet er in Verwirrung und traf Vorbereitungen zur Flucht. Als er entdeckte, daß in sein Büro eingebrochen worden war, zweifelte er nicht mehr daran, daß hinter Thalia Drummond mehr steckte, als er sich jemals hatte träumen lassen.«


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