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18

Es wurde vereinbart, daß Froyant am Donnerstagmorgen das Geld von der Bank abheben sollte, um die Forderung zu bezahlen. Yale sollte es abholen und sich früh genug in seinem Büro einfinden, um die nötigen Vorbereitungen für den Empfang der Besucher treffen zu können.

Mr. Parr kam auf seinem Weg zum Polizeipräsidium an dem großen Haus vorbei, in dem Jack Beardmore einsam lebte.

Die Ereignisse der letzten Wochen hatten den jungen Mann sehr verändert. Er war viel ruhiger und verständnisvoller als früher. Aber er konnte Thalia Drummond nicht aus seinen Gedanken verbannen. Ob er schlief oder wachte, immer stand ihr Bild vor ihm. Er nannte sich selbst einen Narren, aber alle Einwände der Vernunft verblaßten vor den Wünschen des Herzens.

Zwischen Inspektor Parr und ihm hatte sich eine seltsame Freundschaft entwickelt. Eine Zeitlang hatte er den kleinen, dicken Mann gehaßt, aber sein Verstand sagte ihm, daß persönliche Empfindungen und Gefühle niemals Handlungen und Anschauungen eines Polizeibeamten beeinflussen dürften.

Parr wollte schon an dem Haus vorbeigehen, aber er folgte einem Impuls, stieg die Stufen langsam hinauf und klingelte.

Ein Diener führte ihn ins Eßzimmer, wo Jack bei einem späten Frühstück saß.

»Gibt es etwas Neues?« fragte der junge Mann sofort nach der Begrüßung.

»Nein. Höchstens, daß sich Mr. Froyant entschlossen hat zu zahlen.«

»Wirklich?« fragte Jack etwas verächtlich und lachte dann. »Ich möchte nicht der Rote Kreis sein.«

»Warum nicht?« erwiderte Parr belustigt, denn er erriet die Antwort.

»Mein armer Vater sagte immer, daß Froyant über jeden Pfennig jammerte, der ihm genommen wurde, und daß er nicht ruhte, bis er ihn wiederhatte. Wenn Harveys Schrecken sich gelegt hat, wird er dem Roten Kreis nachstellen und nicht eher von ihm ablassen, bis jede Banknote wieder zurückgezahlt ist.«

»Leicht möglich«, stimmte der Inspektor zu. »Aber sie haben das Geld noch nicht.«

Er erzählte Jack von dem Brief, den Froyant am Morgen erhalten hatte.

»Das ist allerdings ein ziemliches Wagestück für den Roten Kreis. Wer Derrick Yale besiegen will, muß ungewöhnlich tüchtig sein.«

»Das glaube ich auch«, entgegnete Parr und schlug die Beine übereinander. »Vor Yale nehme ich den Hut ab.«

Er wurde plötzlich schweigsam, und Jack sah seine Niedergeschlagenheit.

»Sie haben augenblicklich gewiß keine angenehme Zeit im Polizeipräsidium?« fragte er mitfühlend. »Man ist dort natürlich nicht sehr davon erbaut, daß der Rote Kreis nicht zu fassen ist.«

Parr nickte.

»Ich bin im Moment nicht gerade auf Rosen gebettet«, gab er zu. »Aber das macht nichts.« Er schaute Jack fest an. »Ihre junge Freundin hat übrigens eine neue Anstellung.«

»Meine junge Freundin?« erwiderte Jack verwirrt. »Meinen Sie Miß –«

»Ja, Miß Drummond. Sie arbeitet jetzt bei Derrick Yale.«

»Bei Derrick Yale? Sie scherzen doch nur?«

»Ich dachte auch, er scherzte, als er davon sprach. Aber Yale ist ein seltsamer Kauz.«

»Viele Leute sagen, man sollte ihn eigentlich im Polizeipräsidium anstellen«, meinte Jack. Zu spät erkannte er, welchen Fehler er gemacht hatte.

Aber wenn Mr. Parr vielleicht auch verletzt war, so ließ er doch nichts davon merken.

»Man nimmt nicht jeden«, sagte er lächelnd. »Sonst hätten wir Sie genommen, Mr. Beardmore! Sie glauben doch selbst kaum, daß ein Beamter des Polizeipräsidiums etwas mit einem sogenannten Amateurdetektiv zu tun haben will? Aber zugegeben, Yale ist sehr tüchtig.«

Sie waren ans Fenster getreten und schauten auf die ruhige Straße hinunter.

»Ist das nicht Miß Drummond?« fragte Jack plötzlich.

Parr hatte sie auch entdeckt. Sie schaute auf die Hausnummern, während sie auf der anderen Seite der Straße langsam entlangschritt.

»Jetzt kommt sie herüber«, sagte Jack erstaunt. »Was soll das nur –« Er verließ eilig das Zimmer und öffnete die Eingangstür, als Thalias Finger den Klingelknopf berührte.

»Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Thalia«, begrüßte er sie und drückte ihre Hand. »Kommen Sie herein. Sie finden einen alten Bekannten im Eßzimmer.«

»Doch nicht etwa Mr. Parr?«

»Sie können wunderbar raten!« Jack schloß die Tür und lachte. »Wollten Sie mich allein sprechen?«

»Nein. Ich sollte Ihnen nur etwas von Mr. Yale ausrichten. Er bittet Sie um Ihren Schlüssel zu dem Haus am Fluß.«

Inzwischen waren sie im Eßzimmer angekommen. Thalia nickte Mr. Parr kurz zu.

Jack erklärte den Zweck ihres Besuches.

»Mein Vater hatte eine vernachlässigte Besitzung am Flußufer. Sie ist seit Jahren unbewohnt, und Sachverständige sagen, daß die Ausbesserungskosten beinahe ebensoviel betragen, als das ganze Anwesen wert ist. Yale glaubt nun aus irgendeinem Grunde, daß sich Brabazon dort versteckt hat. Brabazon hatte es lange Zeit an Hand und versuchte, es zu verkaufen. Er verwaltete einen Teil unseres Vermögens. Besteht überhaupt die Möglichkeit, daß er dort sein könnte?«

Mr. Parr sah ihn nachdenklich an.

»Ich weiß weiter nichts, als daß er bis jetzt die Grenzen nicht verlassen hat, und ich glaube kaum, daß er in ein Haus gehen würde, das vermutlich durchsucht wird.« Er warf Thalia einen zerstreuten Blick zu. »Und doch wäre es möglich. Sicherlich hat er einen Schlüssel zu dem Haus? Was für ein Gebäude ist es denn eigentlich?«

»Halb Wohn- und halb Lagerhaus«, erwiderte Jack. »Ich habe es nie gesehen.« Er schloß seinen Schreibtisch auf und suchte einen Schlüssel. »Ich glaube, das ist er, Miß Drummond. Wie gefällt Ihnen übrigens Ihre neue Stellung?«

Sie lächelte.

»Sie ist interessant, ohne im geringsten verführerisch zu sein. Im übrigen kann ich noch nicht viel sagen, denn ich habe sie erst heute morgen angetreten.« Sie wandte sich dem Detektiv zu. »Ich werde Sie nicht viel belästigen, Mr. Parr. Das einzige Wertstück im Büro ist ein silberner Briefbeschwerer. Ich brauche nicht einmal die Briefe zur Post zu tragen«, fügte sie spöttisch hinzu. »Das Gebäude ist nach amerikanischem Muster erbaut, und in Mr. Yales Büro befindet sich eine mechanische Vorrichtung, die die Briefe nach dem Kasten in der Eingangshalle befördert. Das ist sehr schade.«

Ihre Augen blitzten vor Übermut, obwohl sie ernst sprach.

»Sie sind ein sonderbares Wesen, Miß Drummond«, meinte Parr. »Aber ich glaube, es steckt doch ein guter Kern in Ihnen.«

Diese Bemerkung schien ihr großes Vergnügen zu bereiten, denn sie lachte, bis ihr die Tränen herunterliefen.

Jack lachte mit, aber Parr blieb ernst.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte er bedeutungsvoll.

Das Lächeln verschwand plötzlich von ihren Lippen.

»Sie können versichert sein, daß ich sehr vorsichtig bin. Und wenn ich irgendwelche Sorgen haben sollte, schicke ich sofort nach Ihnen!«

»Hoffentlich!« erwiderte Parr gelassen.


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