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37

Das Attentat auf Raphael Willings hatte im Kabinett eine neue Panik hervorgerufen. Wie groß die Bestürzung war, erfuhr Mr. Parr, als er nach Scotland Yard zurückkehrte. Die Unruhe des Premierministers war allerdings gerechtfertigt, denn der Rote Kreis hatte nicht bekanntgegeben, wann und gegen wen der nächste Schlag geführt werden sollte.

Der Inspektor wurde nach der Downing Street befohlen, und dort hatte er mit dem Premierminister eine zweistündige Unterredung. Darauf folgte eine Sitzung des inneren Kabinetts.

Die Zeitungen schrieben, daß das Leben des Premierministers bedroht worden wäre, und die Berichte wurden weder bestätigt noch dementiert.

Als Derrick Yale am Abend in seine Wohnung zurückkam, wartete Inspektor Parr vor seiner Tür.

»Gibt es etwas Neues?« fragte er schnell.

»Ich brauche Ihre Hilfe«, erwiderte Parr, als er in einem bequemen Stuhl vor dem Kamin in Yales Wohnzimmer saß. »Sie wissen, daß ich gehen muß, und der Premierminister überlegt es sich, ob es nicht ratsam wäre, daß ich etwas eher ginge, als anfangs beabsichtigt war. Das Kabinett hat eine Kommission ernannt, die die Methoden des Polizeipräsidiums untersuchen soll, und der Kommissar hat mich gebeten, morgen abend einer inoffiziellen Unterredung im Hause des Premierministers beizuwohnen.«

»Zu welchem Zweck?«

»Ich soll einen Vortrag halten«, entgegnete Parr finster. »Ich soll den Kabinettsmitgliedern die Maßnahmen auseinandersetzen, die ich gegen den Roten Kreis ergriffen habe. Sie wissen wahrscheinlich, daß mir ungewöhnliche Vollmachten gegeben wurden, und daß ich nicht aufgefordert wurde, den Regierungsmitgliedern alles mitzuteilen, was ich in Erfahrung gebracht habe. Ich beabsichtige aber, das am Freitagabend zu tun, und dazu brauche ich Ihre Hilfe.«

»Sie ist Ihnen zugesagt, bevor Sie darum bitten.«

»Eine Unmenge Dinge über den Roten Kreis sind mir noch rätselhaft, aber ich komme allmählich dahinter. Augenblicklich habe ich den Eindruck, daß ein Beamter des Polizeipräsidiums mit den Leuten zusammenarbeitet.«

»Das ist auch meine Ansicht«, erwiderte Yale schnell. »Warum denken Sie das?«

»Ich will Ihnen ein Beispiel geben. Der junge Beardmore fand unter den Papieren seines Vaters eine Photographie, die er mir schickte. Sie kam auch mit unverletztem Siegel an, aber als ich den Umschlag öffnete, fand ich nur eine leere Karte darin. Er sagte mir, daß er Thalia Drummond den Brief gab, damit sie ihn in den Briefkasten werfen sollte. Er schwört auch darauf, daß er selbst beobachtet hat, wie sie ihn einwarf. Der Umtausch kann also nur im Polizeipräsidium vorgenommen worden sein.«

»Was war das denn für eine Photographie?« fragte Yale neugierig.

»Entweder war es das Bild einer Hinrichtung oder die Photographie des verurteilten Lightman. Ich glaube, es wurde bei dem mißglückten Hinrichtungsversuch gemacht. Der alte Beardmore erhielt es am Tage vor seinem Tode. Jack fand es, und wie ich schon sagte, sandte er es –«

»Durch Thalia Drummond! Meiner Ansicht nach sind die Leute im Polizeipräsidium an dieser Sache unschuldig. Dieses Mädchen hat viel mehr mit dem Roten Kreis zu tun, als Sie glauben. Ich habe heute abend ihre Wohnung durchsucht, und ich werde Ihnen einmal zeigen, was ich gefunden habe.«

Er entfernte sich, kam aber bald mit einem kleinen Paket wieder. Als er es geöffnet hatte, war der Inspektor starr vor Staunen.

Ein Stulphandschuh und ein langes, breites Messer kamen zum Vorschein, als Yale den Bindfaden zerschnitt und das Packpapier abnahm.

»Dieser Handschuh ist das Gegenstück zu dem anderen, der in Froyants Arbeitszimmer gefunden wurde. Und das Messer sieht genau so aus wie die Mordwaffe.«

Parr nahm den Handschuh auf und untersuchte ihn.

»Das ist der rechte – auf Froyants Schreibtisch lag der linke«, gab er zu. »Wer war der Besitzer? Versuchen Sie doch Ihre psychometrischen Kräfte.«

»Das habe ich schon getan. Aber der Handschuh ist durch so viele Hände gegangen, daß es mir unmöglich ist, etwas zu erkennen. Diese Entdeckung bestätigt aber meine Annahme, daß Thalia Drummond viel schuldiger ist, als wir annahmen. – Was nun die andere Sache anbetrifft, so freue ich mich wirklich, wenn ich Ihnen helfen kann.«

»Ich möchte Sie nur bitten, die Lücken in meinem Bericht auszufüllen.« Er schüttelte den Kopf. »Es wäre doch zu schön, wenn Mutter auch dabei sein könnte«, sagte er dann bedauernd.

»Mutter?« fragte Yale verwundert.

»Meine Großmutter«, erwiderte Parr ruhig. »Außer Ihnen und mir ist sie der einzige tüchtige Detektiv.«

Zum erstenmal bemerkte Derrick Yale, daß Mr. Parr sogar Sinn für Humor besaß.

*

In dieser Zeit der allgemeinen Erregung jagte eine Sensation die andere. Als Yale am nächsten Morgen seine Zeitung las, sprang ihm eine auffällige Überschrift ins Auge.

Thalia Drummond war entflohen!

Es gehörte viel dazu, Derrick Yale in Aufregung zu bringen, aber bei dieser Nachricht war er doch wie vom Donner gerührt. Er las die Beschreibung der Flucht Wort für Wort, und am Ende war sie ihm doch immer noch ein Rätsel.

 

»Da die Gefangene eine wichtige Persönlichkeit ist, und da schwere Anklagen gegen sie erhoben wurden, traf man auch außerordentliche Maßnahmen zu ihrer Bewachung. Die Patrouille wurde verdoppelt, und die Beamtinnen besuchten die Zelle halbstündlich. Es ist bei diesen Gelegenheiten nicht Sitte, in die Zelle hineinzusehen, aber um drei Uhr morgens schaute Miß Hardy doch einmal durch das Beobachtungsloch und sah die Gefangene. Als aber um sechs Uhr die Tür aufgeschlossen wurde, war Thalia Drummond verschwunden. Das Eisengitter vor dem Fenster war unversehrt und die Tür anscheinend unberührt.

 

Eine Untersuchung der Umgebung zeigte keine Spuren, und es ist so gut wie unmöglich, daß sie auf dem gewöhnlichen Weg herauskam, denn sie hätte dann durch sechs verschiedene Türen gehen müssen. Keine davon war mit Gewalt geöffnet worden. Außerdem hätte sie die Loge des Pförtners passieren müssen, die auch während der Nacht besetzt ist.

Dieser neue Beweis der ungewöhnlichen Macht des Roten Kreises wirkt besonders beunruhigend, da gerade jetzt das Leben der Kabinettsmitglieder von dieser Bande bedroht wird.«

Yale schaute auf die Uhr. Es war halb zwölf. Ohne Frühstück zu nehmen, eilte er nach dem Polizeipräsidium, wo er Inspektor Parr in sehr guter Laune vorfand.

»Aber das ist unglaublich, Parr!« rief er. »Das ist doch unmöglich! Sie muß im Gefängnis Freunde haben.«

»Ganz meine Meinung. Dasselbe habe ich dem Kommissar gesagt. Ich wüßte nicht, wie sie sonst herausgekommen wäre.«

Yale schaute ihn argwöhnisch an. Die Gelegenheit erschien ihm unpassend für leichtfertiges Gerede, und Inspektor Parrs Ton klang entschieden leichtfertig.


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