Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

27

Harvey Froyants Besuch in Frankreich blieb nicht unbekannt. Yale und Parr wußten, daß er verreist war. Ebenso war der Rote Kreis darüber orientiert, falls Thalia Drummonds Telegramm seinen Bestimmungsort erreicht hatte.

Eigentümlicherweise waren die Telegramme und Mitteilungen Thalia Drummonds die Veranlassung zu Derrick Yales Besuch im Polizeipräsidium an dem Abend, an dem Mr. Froyant triumphierend aus Frankreich zurückkehrte.

Als Parr in sein Büro trat, fand er Yale schon dort. Er legte ein Kuvert in die ausgestreckte Hand des Detektivs.

»Sagen Sie mir, von wem das kommt?«

Yale lachte.

»Von einem sehr kleinen Mann mit einem gelben Bart. Er spricht durch die Nase und hat einen Laden.«

Parr lächelte leicht.

»Das ist aber nicht Psychometrie«, fügte Yale hinzu. »Ich weiß zufällig, daß es von Johnson in der Mildred Street ist.«

Er lachte über die Verwunderung des Inspektors.

»Sie haben herausgebracht, wohin alle Mitteilungen an den Roten Kreis geschickt werden. Ich habe das aber schon lange gewußt. Jede Nachricht an den Roten Kreis ist von mir gelesen worden. Mr. Johnson sagte mir, daß Sie nachgeforscht hätten, und ich bat ihn, Ihnen volle Aufklärung zu geben.«

»Sie wußten es also schon die ganze Zeit?« fragte Parr langsam.

»Ja, ich weiß, daß Mitteilungen für den Roten Kreis an diese kleine Annoncenexpedition adressiert wurden. Jeden Nachmittag und Abend holte sie ein kleiner Junge ab. Es ist beschämend, aber ich muß eingestehen, daß ich nie herausbringen konnte, wer die Taschen des Jungen leerte.«

»Die Taschen leerte?« wiederholte Parr.

»Der Junge hatte den Auftrag, die Briefe in die Tasche zu stecken und durch die belebte High Street zu gehen. Dort nahm sie ihm jemand ab, ohne daß er es bemerkte.«

Parr rieb sein Kinn.

»Man muß Sie bewundern«, sagte er. »Welche Entdeckungen haben Sie sonst noch gemacht?«

»Was ich schon dauernd vermutete – Thalia steht mit dem Roten Kreis in Verbindung und berichtet ihm alles, was sie nur erfahren kann.«

»Und was soll nun werden?«

»Sie wissen, daß ich immer gesagt habe, sie wird uns noch zum Roten Kreis führen«, erwiderte Yale ruhig. »Früher oder später wird sich meine Voraussage auch verwirklichen. Es sind nun schon zwei Monate her, seit ich unseren Freund in der Mildred Street überredete, mir Einsicht in alle Briefe zu geben, die für Johnson ankamen. Ich habe mir dabei die Freiheit genommen, anzudeuten, daß ich Polizeibeamter bin. Hoffentlich haben Sie nichts dagegen.«

»In manchen Augenblicken denke ich wirklich, Sie sollten ein Polizeibeamter sein. Thalia Drummond steht also mit dem Roten Kreis in Verbindung?«

»Selbstverständlich beschäftige ich sie weiter. Je näher ich sie bei mir habe, um so weniger gefährlich ist sie.«

»Warum fuhr Froyant eigentlich ins Ausland?«

»Er hat dort viele Geschäftsverbindungen. Ein Drittel der Weinberge in der Champagne gehört ihm. Das wissen Sie doch?«

Parr nickte. Die beiden schwiegen dann eine Weile und hingen ihren Gedanken nach. Der Inspektor dachte immer noch an Froyant.

»Woher wußten Sie, daß er in Toulouse war?« fragte Derrick Yale.

Die Frage kam Parr so unerwartet, daß er aufsprang.

»Um's Himmels willen, Sie können ja Gedanken lesen!«

»Manchmal«, erwiderte Yale, ohne zu lächeln. »Ich dachte, er wäre in Paris gewesen.«

»Er war in Toulouse«, entgegnete Parr kurz, gab aber keine weitere Aufklärung, woher er das wußte.

Parr war noch durch keinen Beweis der ungewöhnlichen Fähigkeiten Yales in solche Verwirrung versetzt worden wie durch diese Gedankenübertragung. Er war noch beunruhigt und verstört, als Harvey Froyant anrief.

»Sind Sie es, Inspektor? Bitte kommen Sie zu mir. Bringen Sie auch Yale mit. Ich habe Ihnen eine sehr wichtige Mitteilung zu machen.«

Parr legte den Hörer nachdenklich nieder.

»Was mag er erfahren haben?« fragte er sich selbst.

Derrick Yale hatte den Inspektor während des Telephongesprächs scharf beobachtet, und ein seltsames Licht glänzte in seinen Augen.

*

Thalia Drummond hatte ihre Abendmahlzeit beendet und war damit beschäftigt, Strümpfe zu stopfen. Sie bemühte sich, ihre Gedanken von Jack Beardmore fernzuhalten, denn die Erinnerung an ihn war qualvoll. Es gelang ihr aber nicht, und sie warf gerade die Arbeit weg, um eine andere Ablenkung zu suchen, als es klingelte.

Ein Eilbote lieferte ein viereckiges Paket ab, das wie ein Schuhkarton aussah.

Die Adresse war in gedruckten Buchstaben geschrieben, und ihr Herz schlug schneller, als sie sah, von wem es kam.

In ihrem Schlafzimmer zerschnitt sie den Bindfaden und öffnete die Schachtel. Obenauf lag ein Brief des Roten Kreises.

 

»Sie kennen den Weg in Froyants Haus. Vom Garten aus gibt es einen Eingang in den feuerfesten Raum unter seinem Arbeitszimmer. Verschaffen Sie sich Zutritt und nehmen Sie den Inhalt dieser Schachtel mit. Warten Sie von neun Uhr ab in dem unteren Raum, bis ich Ihnen weitere Anweisungen gebe.«

 

Sie packte die Schachtel aus und fand einen großen Stulphandschuh, der ihr beinahe bis zum Ellenbogen reichte. Außerdem lag noch ein langes, scharfes Messer mit einem tassenförmigen Schutzkorb darin. Vorsichtig prüfte sie die Schneide – sie war so scharf wie ein Rasiermesser. Lange Zeit saß sie da und schaute auf die beiden Gegenstände, dann stand sie auf und versuchte, einen Telephonanschluß zu erhalten. Sie bekam aber den Bescheid, daß niemand antworte.

Neun Uhr ... es war schon acht ... sie hatte keine Zeit zu verlieren. Sie legte Handschuh und Messer in eine große Ledertasche, zog einen Mantel an und ging.

Eine halbe Stunde später stiegen Yale und Parr die Stufen zu Mr. Froyants Haus hinauf. Ein Diener empfing sie. Derrick Yale bemerkte sofort, daß der Gang hell erleuchtet war. Alle Lampen in der Diele und auf dem oberen Treppenabsatz brannten in voller Stärke. Das war ungewöhnlich, denn im allgemeinen begnügte sich der sparsame Mr. Froyant mit einem schwachen Licht in der Diele. Jeder andere Raum, der nicht benutzt wurde, war dunkel.

Die Bibliothek lag gleich neben der Diele. Die Tür stand weit offen.

Harvey Froyant saß an seinem Schreibtisch und lächelte. Trotzdem er sehr abgespannt aussah, drückte sich in seinen Zügen und in seiner Stimme große Zufriedenheit aus.

»Meine Herren, ich werde Ihnen eine Mitteilung machen«, sagte er vergnügt, »die Sie ebenso verblüffen wie amüsieren wird.« Er kicherte und rieb seine Hände. »Ich habe eben Kommissar Morton angerufen, Parr. In einem solchen Fall muß man sicher gehen. Ihnen beiden kann etwas zustoßen, wenn Sie das Haus verlassen, und wir dürfen auch nicht zuviel Leute in unser Geheimnis einweihen. Wollen Sie nicht ablegen? Meine Geschichte ist nicht gerade kurz.«

In diesem Augenblick läutete das Telephon. Die beiden beobachteten Froyant, während er sprach.

»Ja, ja, ich muß Ihnen eine sehr wichtige Mitteilung machen. Kann ich Sie in zwei Minuten wieder anrufen? Gut.« Er legte den Hörer nieder und machte ein unschlüssiges Gesicht. »Ich glaube, ich spreche erst mit Morton, wenn Sie so freundlich sein wollen, in ein anderes Zimmer zu gehen. Ich möchte die kleine Überraschung, die ich für Sie vorbereitet habe, nicht verderben.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Parr und verließ das Zimmer.

Derrick Yale zögerte.

»Betrifft diese Mitteilung den Roten Kreis?«

»Das erzähle ich Ihnen später. Geben Sie mir nur fünf Minuten Zeit, dann sollen Sie die größte Überraschung Ihres Lebens haben.«

Derrick Yale lachte.

»Es gehört viel dazu, mich aus der Fassung zu bringen«, meinte er. Er legte die Hand auf die Klinke und blieb noch einen Augenblick stehen. »Nachher werde ich Ihnen auch etwas über unsere junge Freundin Drummond erzählen. Oh, ich weiß, das interessiert Sie nicht, aber Sie werden doch sehr verwundert sein.«

Damit ging er hinaus und schloß langsam die Tür.

»Ich möchte nur wissen, was für eine Überraschung das ist«, wandte er sich an Parr. »Was hat er nur dem Kommissar zu sagen?«

Sie gingen in den vorderen Salon, der auch hell erleuchtet war.

»Ist das nicht ungewöhnlich, Steeve?« fragte Yale einen Diener, den er kannte.

»Doch. Mr. Froyant ist sonst im Stromverbrauch nicht so verschwenderisch. Aber er sagte mir, heute abend müßten alle Lampen brennen, denn er wolle nicht das geringste Risiko laufen. Was er damit meinte, verstand ich nicht. Ich habe bei ihm so etwas noch nie erlebt. Es ist auch merkwürdig, daß er zwei geladene Revolver in der Tasche hat, denn im allgemeinen haßt er Waffen.«

»Woher wissen Sie denn, daß er Revolver hat?« fragte Parr.

»Ich habe sie selbst für ihn geladen. Ich war früher bei der Kavallerie und kann mit Waffen umgehen. Der eine gehört außerdem mir.«

Derrick Yale pfiff und schaute den Inspektor an.

»Er scheint nicht nur den Roten Kreis zu kennen, sondern auch seinen Besuch zu erwarten. Haben Sie übrigens einige Leute zur Hand?«

Der Inspektor nickte.

»Es sind ein paar Detektive auf der Straße. Ich sagte ihnen, sie sollten sich in der Nähe aufhalten.«

Sie konnten Froyants Stimme am Telephon nicht hören, denn das Haus war massiv gebaut und hatte dicke Wände.

Als eine halbe Stunde vergangen war, wurde Yale ungeduldig.

»Wollen Sie nicht einmal anfragen, Steeve, ob wir wieder zu ihm kommen können?«

»Ich darf ihn nicht stören«, erwiderte der Diener. »Vielleicht geht einer der Herren selbst hinein? Wir tun es niemals, wenn er nicht nach uns klingelt.«

Parr war schon halb aus dem Zimmer und öffnete die Tür zu der Bibliothek. Die Lampen brannten hell, aber als er die zusammengekauerte Gestalt im Stuhl sah, wußte er, was geschehen war. Harvey Froyant lebte nicht mehr.

Aus seiner Brust ragte der Griff eines Messers hervor, das einen tassenförmigen Schutzkorb trug, und auf dem schmalen Schreibtisch lag ein blutbefleckter Stulphandschuh.

Bei Parrs entsetztem Aufschrei stürzte Derrick Yale in das Zimmer. Das Gesicht des Inspektors war bleich wie der Tod. Zunächst brachte keiner der beiden Männer ein Wort über die Lippen.

»Rufen Sie meine Leute herein«, bat Parr schließlich. »Niemand darf das Haus verlassen. Der Diener soll die Angestellten in der Küche zusammenrufen.«

Er betrachtete das Zimmer genau. Vor den großen Fenstern hingen schwere Samtvorhänge. Er zog sie zurück und fand die Fensterläden dahinter fest verschlossen.

Wie war Harvey Froyant getötet worden?

Der Schreibtisch stand dem Kamin gegenüber. Seine geringe Breite hätte jeden Durchschnittsmenschen zur Verzweiflung gebracht, aber er war der Lieblingstisch des toten Finanzmannes gewesen.

Von welcher Seite hatte sich der Mörder herangeschlichen? Von hinten? Das Messer war von oben nach unten gestoßen worden, und es war anzunehmen, daß der Angreifer unbemerkt herangetreten war. Aber wozu war der Handschuh nötig? Parr nahm ihn vorsichtig auf. Es war ein ziemlich abgenutzter lederner Stulphandschuh, wie ihn die Chauffeure tragen.

Er rief sofort den Polizeikommissar an, der noch auf Harvey Froyants Mitteilung wartete.

»Er hat also nicht mehr mit Ihnen gesprochen?« fragte der Inspektor.

»Nein – was ist denn geschehen?«

Parr erzählte ihm alles und ließ dann gefaßt den Wutausbruch seines Vorgesetzten über sich ergehen. Er ging in die Diele zurück und fand dort bereits seine Leute auf dem Posten.

»Ich werde jetzt jedes Zimmer im Hause durchsuchen«, sagte er.

Es verging eine halbe Stunde, bis er wieder zu Derrick Yale zurückkam.

»Nun?« fragte der Detektiv neugierig.

»Es ist niemand da außer den Leuten, die das Recht haben, sich im Hause aufzuhalten. Aber wie kann denn jemand in die Bibliothek gekommen sein? In der Diele waren doch immer Leute?«

»Vielleicht ist eine Falltür im Fußboden?« meinte Yale.

»Im Westen Londons hat man keine Falltüren in den Salons«, fuhr ihn Parr an. Aber eine weitere Untersuchung hatte doch ein überraschendes Ergebnis.

Als er die Ecke des Teppichs hochhob, kam nämlich eine Falltür zum Vorschein. Der Diener erzählte ihnen, daß Mr. Froyant während der Luftangriffe zu Beginn des Krieges im Weinkeller einen bombensicheren Zufluchtsort aus Zement hatte bauen lassen; man erreichte ihn durch eine Treppe, die vom Arbeitszimmer hinunterführte.

Parr stieg mit einer brennenden Kerze die Treppe hinab und befand sich gleich darauf in einem kleinen, viereckigen Raum. Hier stieß er auf eine verschlossene Tür. Als man Froyants Taschen durchsuchte, fand man den Schlüssel. Hinter der ersten Tür entdeckte man eine zweite aus Stahl, die ins Freie führte.

Die Häuser in der Straße hatten einen gemeinsamen Rasenstreifen mit durchlaufender Hecke.

»Es ist leicht möglich, durch die Tür am Ende des Gartens hereinzukommen«, sagte Yale. »Sicherlich hat der Mörder diesen Weg genommen.«

Er leuchtete mit der Taschenlampe den Boden ab und ließ sich plötzlich auf die Knie nieder.

»Hier ist eine Fußspur«, sagte er, »und zwar von einer Frau!«

Parr schaute über seine Schulter.

»Da haben Sie zweifellos recht. Und sie ist frisch.« Plötzlich fuhr er zurück. »Mein Gott!« stöhnte er entsetzt. »Welch teuflischer Plan!« Er hatte Thalia Drummonds Fußabdruck erkannt.


 << zurück weiter >>