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28

Derrick Yale saß mit aufgestützten Händen und las eine Zeitung. Er hatte an diesem Morgen schon ein Dutzend durchflogen, aber eine nach der anderen beiseitegeworfen.

»Unter den Augen der Polizei«, las er vor. »Ohnmacht des Polizeipräsidiums.« Er schüttelte den Kopf. »Über unseren armen Freund Parr weiß die Presse nichts Gutes zu sagen. Und doch konnte er ebensowenig wie ich oder Sie das Verbrechen verhindern.«

Thalia Drummond sah angegriffen aus. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, und sie machte einen müden, abgespannten Eindruck.

»Muß man nicht damit rechnen, ab und zu Rippenstöße zu erhalten, wenn man sich mit Verbrechern befaßt?« fragte sie kühl. »Die Polizei kann nicht alles nach ihrem Willen haben.«

Er schaute sie neugierig an.

»Sie bewundern doch nicht etwa die Polizeimethoden?«

»Nicht sehr«, erwiderte sie und legte eine Anzahl Briefe vor ihm nieder. »Sie erwarten doch nicht von mir, daß ich dem Polizeipräsidium ein Zeugnis über seine Tüchtigkeit ausstelle?«

Er lachte.

»Sie sind ein eigenartiges Mädchen. Sie haben doch auch für Froyant gearbeitet?«

»Ja«

»Sie haben auch eine Zeitlang im Hause gelebt?«

»Gewiß. Warum wollen Sie das wissen?« Ihre grauen Augen hielten seinem Blick ruhig stand.

»Ich dachte nur daran, ob Ihnen wohl die Existenz des unterirdischen Zimmers bekannt war?« fragte Yale leichthin.

»Selbstverständlich. Der arme Mr. Froyant machte kein Geheimnis daraus. Er hat mir oft genug erzählt, wieviel es gekostet hat.«

»Wo wurden die Schlüssel zu dem bombensicheren Raum gewöhnlich aufbewahrt?«

»In seinem Schreibtisch. Wollen Sie vielleicht damit andeuten, daß ich sie nahm oder an dem Mord gestern abend beteiligt war?«

Er lachte wieder.

»Ich will gar nichts andeuten. Ich frage nur. Und da Ihnen das Haus besser bekannt ist als jedem anderen, ist meine Neugierde doch erklärlich. Glauben Sie, daß man die Falltür hochheben kann, ohne ein Geräusch zu verursachen?«

»Sicherlich. Sie bewegt sich durch Gegengewichte. Wollen Sie einen dieser Briefe beantworten?«

Er schob den Stoß zur Seite.

»Womit haben Sie sich gestern abend die Zeit vertrieben, Miß Drummond?«

»Ich war zu Hause.« Sie legte die Hände auf den Rücken und richtete sich straff auf, als er diese persönliche Frage stellte.

»Waren Sie den ganzen Abend zu Hause?«

Sie antwortete nicht.

»Sind Sie nicht um halb neun ausgegangen, und zwar mit einem Paket?«

Wieder schwieg sie.

»Einer meiner Leute sah Sie zufällig«, sagte Derrick Yale leichthin. »Er verlor Sie aber aus den Augen. Wo waren Sie denn – Sie sind erst gegen elf heimgekommen.«

»Ich habe einen Spaziergang gemacht«, erwiderte Thalia gelassen. »Wenn Sie mir einen Plan von London geben, will ich versuchen, Ihnen meinen Weg zu beschreiben.«

»Angenommen, ein Teil davon ist bereits bekannt?«

Sie schloß die Augen halb.

»Dann kann ich mir ja die Mühe ersparen.«

»Hören Sie einmal zu, Miß Drummond.« Er lehnte sich über den Tisch. »Ich bin sicher, daß Sie im Grunde Ihres Herzens keine Mörderin sind. Dieses Wort läßt Sie zusammenschrecken, und es ist auch ein schreckliches Wort. Aber in Ihren gestrigen Bewegungen liegen verdächtige Momente, die ich Parr noch nicht mitgeteilt habe.«

»Verdächtigt zu werden, bedeutet für mich einen absolut normalen Zustand«, erklärte sie. »Und da Sie soviel wissen, brauche ich Ihnen ja nichts weiter zu erzählen.«

Er schaute sie an, aber sie zuckte nicht mit den Wimpern.

»Es macht schließlich auch nicht soviel aus, wo Sie waren«, sagte er dann.

»Ich möchte Ihnen beinahe beipflichten«, entgegnete sie spöttisch und ging in ihr Zimmer zurück.

Frauen interessierten Yale im allgemeinen nicht, aber Thalia Drummond machte eine Ausnahme. Es war allerdings nicht ihre Schönheit, die ihn fesselte.

Er nahm die Zeitung wieder auf und las weiter. Bald darauf erschien Parr, wie er es erwartet hatte. Der Inspektor war lebhaft und ließ sich in einen Stuhl fallen.

»Der Kommissar hat mich aufgefordert, mein Entlassungsgesuch einzureichen«, begann er, aber seine Stimme klang fast heiter. »Ich mache mir keine Sorgen darüber, denn ich wollte schon vor drei Jahren den Abschied nehmen, als mein Bruder mir sein Vermögen hinterließ.«

Durch diese Bemerkung erfuhr Yale zum erstenmal, daß Parr ein verhältnismäßig reicher Mann war.

»Was machen Sie nun?« fragte er.

Parr lächelte.

»Vor Ende des nächsten Monats gehe ich nicht. Ich muß doch noch wissen, was Ihnen passiert.«

»Mir?« fragte Derrick überrascht. »Ach, Sie meinen die Drohung, die ich vom Roten Kreis erhielt? Warten Sie mal, danach hätte ich ja nur noch ein paar Tage zu leben!« Er lachte ironisch und schaute auf den Kalender. »Aber ich glaube, darauf brauchen Sie nicht zu warten. Scherz beiseite, warum wollen Sie überhaupt Ihren Abschied einreichen? Denken Sie nicht, wenn ich mit dem Kommissar sprechen würde –«

»Sie würden auch nichts ausrichten. Ich kann übrigens an dem Fall arbeiten, bis ich gehe. Das habe ich Ihnen sowieso zu verdanken.«

»Mir?«

»Ich habe ihm gesagt, Ihr Leben sei für das Land so wertvoll, daß ich wenigstens dabei bleiben müßte, bis ich Sie über dieses verhängnisvolle Datum gebracht habe«, erwiderte er lachend.

In diesem Augenblick erschien Thalia Drummond mit neuen Briefen.

»Guten Morgen, Miß Drummond.« Der Inspektor sah sie prüfend an.

»Ich habe heute morgen schon von Ihnen gelesen«, sagte Thalia spöttisch. »Sie entwickeln sich allmählich zu einer ganz bekannten Persönlichkeit.«

»Was tut man nicht alles für ein bißchen Reklame. Ihren Namen habe ich übrigens schon seit langer Zeit nicht mehr in der Zeitung gesehen.«

»Wenn die Zeit kommt, werden Sie schon wieder von mir hören«, entgegnete sie. »Was ist denn das Neueste vom Roten Kreis?«

»Daß sämtliche Korrespondenz, die bisher nach der Mildred Street gesandt wurde, in Zukunft an eine andere Adresse gerichtet werden muß.«

Die Wirkung seiner Worte befriedigte den Inspektor sehr, obwohl die Veränderung in Thalias Gesicht kaum eine Sekunde dauerte.

»Machen die Leute vom Roten Kreis etwa ein Büro in der City auf?« fragte sie rasch, um ihn abzulenken. »Ich wüßte nicht, warum sie das nicht tun sollten. Sie müßten in ein großes Geschäftshaus ziehen und viel Lichtreklame machen – aber nein, das wäre doch nicht angebracht. Lichtreklame würde sogar die Polizei sehen!«

»Dieser Sarkasmus ist für eine junge Dame absolut unschicklich«, sagte Mr. Parr streng.

Yale hörte diesem Wortgefecht lächelnd zu.

»Wo waren Sie denn gestern abend, Miß Drummond?« fragte Parr.

»Im Bett – ich habe auch geträumt.«

»Dann sind Sie um halb zehn wohl im Schlaf hinter Froyants Haus umhergegangen?«

»Haben Sie meine zierlichen Fußabdrücke im Garten gefunden? Mr. Yale hat schon etwas Ähnliches angedeutet. Nein, ich bin während der Nacht im Park spazierengegangen. Die Einsamkeit ist sehr wohltuend.«

Parr betrachtete den Teppich mit großer Aufmerksamkeit.


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