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1

Philipp Brassard zahlte und blieb am Leben, denn anscheinend hielt der Rote Kreis Wort. Jacques Rizzi, der Bankier, zahlte auch, lebte aber in beständiger Angst und starb einen Monat später am Herzschlag. Eisenbahndirektor Benson, der nichts auf die Drohungen gab, wurde eines Tages tot neben seinem Privatwagen aufgefunden.

Mr. Derrick Yales erstaunlichen Fähigkeiten war es gelungen, den Neger zu fangen, der sich in Bensons Auto eingeschlichen und das Attentat verübt hatte. Der Neger wurde gehängt, ohne seinen Auftraggeber verraten zu haben. Die Polizeibeamten mochten über Yale und seine psychometrischen Kräfte spotten, aber innerhalb achtundvierzig Stunden hatte er sie zum Hause des gedungenen Mörders geführt, und der überrumpelte Verbrecher hatte gestanden.

Nach diesem Vorfall zahlten wohl viele Leute, ohne die Sache der Polizei anzuzeigen; denn während einer langen Zeit brachten die Zeitungen keine Nachrichten über den Roten Kreis.

Aber eines Morgens fand James Beardmore auf dem Frühstückstisch einen Umschlag mit einer Karte, auf der ein roter Kreis aufgedruckt war.

»Du interessierst dich ja für Sensationen, Jack – lies das einmal.«

James Stamford Beardmore warf die Karte seinem Sohne über den Tisch zu und griff nach dem nächsten Brief.

Es handelte sich um eine gewöhnliche Postkarte ohne Adresse. Der rote Kreis reichte bis an die vier Ränder. Er schien mit einem Gummistempel aufgedrückt zu sein, da die Farbe ungleichmäßig verteilt war. In dem Kreis selbst stand in Druckschrift:

 

»Hunderttausend Pfund sind nur ein kleiner Teil Ihres Vermögens. Zahlen Sie diesen Betrag in Banknoten einem Boten aus, den ich schicken werde. Im Annoncenteil der ›Tribune‹ werden Sie innerhalb vierundzwanzig Stunden die Zeit angeben, die Ihnen paßt. Das ist die letzte Warnung.«

 

Eine Unterschrift war nicht vorhanden.

»Nun?«

Der alte Jim Beardmore schaute lächelnd zu seinem Sohn hinüber.

»Der Rote Kreis!« rief Jack erschrocken.

Jim Beardmore lachte laut, als er das besorgte Gesicht seines Sohnes sah.

»Ja, der Rote Kreis – ich habe schon vier solche Wische bekommen!«

Jack starrte ihn an.

»Vier?« wiederholte er. »Wohnt deshalb Yale bei uns?«

»Ja.«

»Selbstverständlich weiß ich, daß er ein Detektiv ist; aber ich hatte nicht die geringste Ahnung –«

»Mach dir wegen dieses verfluchten Kreises keine Sorgen«, unterbrach ihn sein Vater ungeduldig. »Ich fürchte mich nicht. Froyant ist in Todesangst, daß er auch noch zu den Leidtragenden gehören wird. Ich würde mich auch nicht darüber wundern; er und ich haben uns in dieser Zeit manchen Feind gemacht.«

Man hätte James Beardmore mit seinem harten, durchfurchten Gesicht und seinem grauen Stoppelbart für den Großvater des hübschen jungen Mannes halten können, der ihm gegenübersaß. Er hatte sein Vermögen unter großen Mühen zusammengetragen und schon zu viel wirklichen Gefahren ins Auge gesehen, um sich durch die Drohung des Roten Kreises beunruhigen zu lassen. Außerdem galt seine Sorge im Augenblick nicht ihm selbst, sondern seinem Sohne.

»Bis jetzt habe ich mich niemals um deine Vergnügungen gekümmert«, begann er, »weil ich weiß, daß du ein vernünftiger Mensch bist. Aber – glaubst du, daß du gerade jetzt klug handelst?«

Jack verstand diese Anspielung sehr gut.

»Du denkst an Miß Drummond?«

Jim Beardmore nickte.

»Sie ist die Sekretärin von Froyant.«

»Gewiß, und dadurch wird sie nicht schlechter. Aber weißt du etwas Näheres über sie?«

Der junge Mann kam etwas in Verlegenheit, aber trotzdem zeigte sich ein entschlossener Ausdruck in seinem Gesicht.

»Ich habe sie gern. Sie ist meine Freundin. Ich habe ihr aber niemals den Hof gemacht, wenn du das meinst, und unsere Freundschaft würde bestimmt bald zu Ende sein, wenn ich das täte.«

Jim nickte. Er hatte alles Nötige gesagt und wandte sich nun wieder seiner Post zu.

»Ach!« Er legte einen Umschlag ungeöffnet nieder. Als er sie kurz durchgesehen hatte, schaute er zu seinem Sohn hinüber. »Traue niemals einem Mann oder einer Frau, bis du das Schlimmste über sie weißt«, sagte er. »Heute besucht mich ein Herr, der zwar zur Gesellschaft gehört, aber ein sehr dunkles Vorleben hat. Trotzdem mache ich Geschäfte mit ihm – denn ich weiß ja das Schlimmste!«

Die Unterhaltung wurde durch den Eintritt ihres Gastes unterbrochen.

»Guten Morgen, Yale – haben Sie gut geschlafen?« fragte der alte Mann. »Jack, klingle nach frischem Kaffee!«

Jack Beardmore war in dem Alter, in dem alles Romantische großen Reiz ausübt, und die Gesellschaft des allergewöhnlichsten Detektivs hätte ihm schon Freude bereitet. Aber Yale besaß ungewöhnliche, fast übernatürliche Begabung. Auch seine äußere Erscheinung, sein feingeschnittenes Gesicht mit den ernsten, geheimnisvollen Augen und die Bewegungen seiner schmalen, ausdrucksvollen Hände zeichneten ihn vor seinen Kollegen aus.

»Ich schlafe niemals«, erwiderte er in guter Laune und faltete seine Serviette auseinander. Er hielt den silbernen Serviettenring einen Augenblick zwischen den Fingern, und James Beardmore beobachtete ihn belustigt.

»Nun?« fragte der alte Mann.

»Wer das zuletzt in der Hand hatte, bekam sehr schlechte Nachrichten – ein naher Verwandter ist schwer erkrankt.«

Beardmore nickte.

»Das Dienstmädchen, das den Tisch deckte, hat heute morgen erfahren, daß ihre Mutter im Sterben liegt.«

Jack war erstaunt.

»Und das haben Sie am Serviettenring gefühlt?« fragte er überrascht. »Wodurch erhalten Sie diese Empfindung, Mr. Yale?«

Der Detektiv schüttelte den Kopf.

»Ich will nicht versuchen, es zu erklären. Ich weiß nur, daß ich ein Gefühl tiefen Kummers hatte, als ich die Serviette aufnahm. Ist das nicht unheimlich?«

»Aber woher wußten Sie das von der Mutter?«

»Ich fühlte es irgendwie«, entgegnete Yale fast gereizt. »Es ist eine gewisse Schlußfolgerung. Haben Sie neue Nachrichten, Mr. Beardmore?«

Als Antwort übergab ihm Jim die Karte, die er am Morgen erhalten hatte.

Yale las die Mitteilung und wog die Karte dann in der Hand.

»Von einem Seemann in den Briefkasten geworfen«, sagte er. »Der Mann ist im Gefängnis gewesen und hat in letzter Zeit viel Geld verloren.«

Jim Beardmore lachte.

»Was ich sicherlich nicht ersetzen werde«, meinte er und stand auf. »Nehmen Sie diese Warnungen ernst?«

»Sogar sehr ernst«, erwiderte Derrick ruhig. »So ernst, daß ich Ihnen raten möchte, dieses Haus nur in meiner Gesellschaft zu verlassen. Der Rote Kreis arbeitet mit ungewöhnlichen Methoden, und es ist für Ihre Erben sicherlich kein Trost zu hören, daß Sie auf irgendeine theatralische Weise umgekommen sind.«

Sein Sohn schaute ihn besorgt an.

»Warum fährst du nicht ins Ausland, Vater?« fragte er.

»Ins Ausland!« fuhr der alte Mann auf. »Vor einer gewöhnlichen Verbrecherbande ausreißen? Ich werde schon dafür sorgen, daß sie zur –!«

Er erwähnte den Bestimmungsort nicht, aber sie konnten ihn erraten.


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