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35

Seit der Kabinettssitzung waren sieben Tage vergangen, und die Regierung gab in deutlichen Worten bekannt, daß sie es ablehne, mit dem Roten Kreis oder seinen Abgesandten zu verhandeln.

An demselben Nachmittag bereitete sich Mr. Raphael Willings auf den Besuch Thalias vor. Sein Haus in Onslow Gardens gehörte zu den Sehenswürdigkeiten des Landes, und seine Sammlung alter Rüstungen und Schwerter hatte in der ganzen Welt nicht ihresgleichen. Aber er dachte kaum daran, daß sich Thalia dafür interessieren könnte. Das vertrauliche Schreiben, das ihm in klaren Worten Aufschluß über ihren Charakter gegeben hatte, schreckte ihn nicht ab, sondern erhöhte sein Interesse an ihr nur noch mehr.

Seinetwegen mochte sie jedes Schwert aus der Rüstkammer und jeden Kupferstich von der Wand nehmen, wenn sie sich nur entgegenkommend und gefügig zeigte.

Als Thalia kam, wurde sie von einem exotisch aussehenden Diener empfangen. Sie betrachtete das Zimmer genau, in das er sie führte. Die Fenster waren zu ihrem Erstaunen weit geöffnet. Sie hatte erwartet, einen kleinen, für zwei Personen gedeckten Teetisch vorzufinden. Aber auch dieser fehlte. Dagegen befand sich in diesem Raum der schönste Teil der Sammlung, wie sie auf den ersten Blick sehen konnte.

Willings kam einige Augenblicke später und begrüßte sie sehr herzlich.

»Eßt, trinkt und seid fröhlich, denn morgen sind wir tot – vielleicht schon heute«, sagte er pathetisch. »Haben Sie schon das Neueste gehört?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin das neueste Opfer des Roten Kreises«, erklärte er heiter. »Sie lesen doch wahrscheinlich Zeitungen und wissen alles über diese Bande. Ja, von all meinen Kollegen bin ich als erstes Opfer auserkoren worden.«

Sie wunderte sich, daß er unter diesen Umständen eine so ruhige Miene zeigte.

»Da die Tragödie im Laufe des Nachmittags in diesem Hause stattfinden soll«, fuhr er fort, »so möchte ich Sie bitten –«

Es klopfte. Ein Diener trat ein und sprach italienisch mit Willings, was Thalia nicht verstand.

Raphael nickte.

»Mein Wagen steht vor der Tür«, wandte er sich dann an Thalia. »Wenn Sie mir die Ehre geben wollen, nehmen wir den Tee auf meinem Landsitz. In einer halben Stunde sind wir dort.«

Eine solche Entwicklung hatte sie nicht erwartet.

»Wo liegt Ihre Besitzung?«

Er erklärte ihr, daß sie zwischen Barnet und Hatfield liege, und sprach begeistert von der Schönheit von Hartfordshire.

»Ich hätte allerdings lieber hier Tee getrunken«, wandte sie ein.

»Glauben Sie mir, die Drohung des Roten Kreises stört mich gar nicht. Wenn Sie hier weilen, ist Onslow Gardens ein Paradies, aber die Polizei ist heute nachmittag hier erschienen und hat alle meine Pläne umgestoßen. Ich sagte, daß ich zum Tee Besuch erwartete, und darauf erwiderte man, daß ich einen öffentlicheren Treffpunkt wählen sollte. Die Beamten billigen aber meinen abgeänderten Plan. Wir wollen uns den schönen Nachmittag nicht verderben lassen, Miß Drummond. Ich muß Sie tausendmal um Entschuldigung bitten. Aber ich wäre unendlich enttäuscht, wenn Sie nicht mitkommen wollten. Ich habe schon zwei Diener vorausgeschickt, die alles vorbereiten, und ich hoffte so sehr, Ihnen das schönste kleine Haus zu zeigen, das innerhalb hundert Meilen von London liegt.«

Sie stimmte schließlich zu, und während sie durch das Zimmer schritt, betrachtete sie interessiert die entzückende Ausstattung.

Er kam im Mantel zurück und fand sie vor einem Teil der Wand, die mit wunderbaren Erzeugnissen östlicher Waffenschmiedekunst bedeckt war.

»Sind Sie nicht herrlich?« fragte er. »Es tut mir nur leid, daß ich Ihnen nicht jede Geschichte darüber erzählen kann. Aber wer hat denn den assyrischen Dolch genommen?«

Er sah auf eine leere Stelle an der Wand. Das kleine Etikett darunter genügte, um auf das Fehlen der Waffe aufmerksam zu machen.

»Ich wunderte mich auch schon darüber«, erwiderte Thalia.

Er runzelte die Stirne.

»Vielleicht hat ihn einer der Diener herabgenommen. Ich habe allerdings Anweisung gegeben, daß sie nur in meiner Gegenwart gereinigt werden dürfen.« Er zögerte etwas, bevor er weitersprach. »Ich werde die Sache untersuchen, wenn ich zurückkomme.«

Dann führte er sie zu dem wartenden Wagen. Sie fühlte aber, daß der Verlust des wertvollen Gegenstandes ihn beunruhigte, denn seine gute Laune war zum Teil verflogen.

»Ich kann es nicht verstehen«, sagte er, als sie durch Barnet fuhren. »Gestern war der Dolch bestimmt noch da, denn ich zeigte ihn Sir Thomas Summers. Er interessiert sich sehr für solche Arbeiten. Keiner der Diener würde es wagen, die Schwerter zu berühren.«

»Vielleicht sind Fremde in dem Zimmer gewesen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nur der Herr vom Polizeipräsidium, und ich bin ganz sicher, daß der ihn nicht genommen hat. Nein, dahinter muß irgend etwas stecken. Aber wir wollen jetzt nicht mehr davon sprechen.«

Während der weiteren Fahrt war er aufmerksam und höflich zu ihr und ließ sie nicht im geringsten merken, welcher Art seine Gefühle ihr gegenüber waren.

Willings hatte die Schönheit seines »kleinen Hauses« an der Hatfield Road nicht übertrieben. Es lag mitten in einem waldigen Gelände, drei Meilen von der Hauptstraße entfernt.

»Hier wären wir also«, sagte er, als er sie durch die getäfelte Eingangshalle in einen wunderbar ausgestatteten Salon führte.

Der Teetisch war gedeckt, aber es war kein Diener zu sehen.

»Und nun sind wir Gott sei Dank allein, mein Liebling«, fuhr er fort.

Sein Ton und sein Benehmen änderten sich, und Thalia fühlte, daß der kritische Augenblick näherkam. Aber ihre Hand zitterte nicht, als sie die Teekanne aus dem dampfenden Kessel füllte, und sie schien kaum auf seine Worte zu achten. Sie hatte den Tee eingeschenkt und seine Tasse vor ihn hingesetzt, als er sich plötzlich über sie neigte und sie küßte. Dann zog er sie in die Arme.

Sie wehrte sich nicht, aber sie schaute ihn ernst an.

»Ich möchte Ihnen etwas sagen«, erklärte sie ruhig.

»Mein Liebling, Sie können sagen, was Sie wollen«, erwiderte er verliebt, hielt sie noch fester und küßte sie aufs neue.

Sie versuchte, ihren Arm zwischen ihn und sich zu schieben und einen Jiu-Jitsu-Griff anzuwenden, den sie in der Schule gelernt hatte. Aber ihm war der Griff auch bekannt. Beim Betreten des Zimmers hatte sie gesehen, daß eine Ecke durch Vorhänge abgeteilt war. Dorthin trug er sie. Sie schrie nicht und erschien ihm gefügiger, als er zu hoffen gewagt hatte. Zweimal versuchte sie zu sprechen, aber zweimal hinderte er sie daran. Als sie den Brokatvorhängen näher und näher kam, wehrte sie sich mit allen Kräften.

Die beiden italienischen Diener waren in der Küche beschäftigt, die etwas abseits lag, aber sie hörten doch den Aufschrei, schauten sich entsetzt an und stürzten dann nach der Vorhalle. Die Tür zum Salon war nicht verschlossen, und sie rissen sie auf. Willings lag in der Nähe des Vorhangs auf dem Gesicht, und ein assyrischer Dolch stak in seiner Schulter. Neben ihm stand ein junges Mädchen mit bleichem Gesicht.

Einer der Männer riß die Waffe aus der Wunde und trug seinen stöhnenden Herrn auf ein Sofa, während der andere an das Telephon eilte. In der Aufregung sprach der Italiener, der die [Blutung] aufzuhalten suchte, in unverständlichen Worten auf das Mädchen ein, aber sie hörte ihn nicht. Wie im Traum verließ sie das Zimmer und ging durch die Eingangshalle ins Freie.

Willings' Wagen stand noch vor dem Haupteingang, und der Chauffeur war nicht zu sehen.

Thalia schaute sich um – es war niemand in der Nähe. Da erwachte plötzlich ihre alte Energie wieder; sie sprang auf den Führersitz und ließ den Motor an. In rasendem Tempo fuhr sie den Weg entlang, stieß aber gleich auf ein Hindernis. Die eisernen Tore waren geschlossen, und sie erinnerte sich daran, daß der Chauffeur vorher ausgestiegen war, um sie zu öffnen. Aber sie durfte keine Zeit verlieren. Sie fuhr mit dem Wagen zurück und raste dann mit voller Wucht gegen das Tor. Scheiben klirrten, und sie kam mit einem beschädigten Radiator auf der Chaussee an. Die Lampen waren bis zur Unkenntlichkeit verbogen, und das Schutzblech hing in Stücken herab. Aber der Wagen lief noch, und mit tollkühner Geschwindigkeit flog sie London entgegen.

Sie sah so wild und verändert aus, daß der Portier ihres Hauses sie zuerst nicht erkannte.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?« fragte er, als er sie im Aufzug nach oben brachte.

Sie schüttelte nur den Kopf.

Sobald sie in ihrer Wohnung ankam, eilte sie an das Telephon und verlangte eine Nummer. Dann erzählte sie eine zusammenhanglose Geschichte. Mehrmals schluchzte sie verzweifelt auf. Der Mann, der ihren wilden Worten lauschte, hatte große Mühe zu verstehen, was vorgefallen war.

»Ich kann nicht mehr!« stöhnte sie. »Es war zu entsetzlich!«

Sie legte den Hörer nieder und wankte zu einem Stuhl. Erst nach Stunden erlangte sie ihre Fassung wieder.

Als Derrick Yale am Abend kam, hatte sie ihr Selbstbewußtsein wiedergefunden.

»Eine unerwartete Ehre«, begrüßte sie ihn kühl. »Wer ist denn Ihr Freund?«

Sie schaute auf den Mann, der hinter Yale stand.

»Thalia Drummond, ich habe einen Haftbefehl gegen Sie«, erwiderte er ernst.

»Welches Verbrechen soll ich denn begangen haben?«

»Sie werden des versuchten Mordes an Raphael Willings beschuldigt. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß alles, was Sie von jetzt ab sagen, gegen Sie benutzt werden kann.«

Der zweite Mann trat vor und nahm sie am Arm.

Die Nacht verbrachte Thalia Drummond in einer Zelle der Marylebone-Polizeiwache.


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