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36

»Was eigentlich vorgegangen ist, muß ich noch herausfinden«, sagte Derrick Yale zu dem schweigsamen, aber sehr aufmerksamen Inspektor Parr. »Ich kam in Onslow Gardens an, als Willings gerade mit ihr weggefahren war. Die Diener gaben mir nur widerwillig Auskunft, aber ich erfuhr doch, daß sie nach seinem Landsitz gefahren waren. Ob er sie oder sie ihn dazu veranlaßte, muß noch geklärt werden. Ich habe Thalia Drummond schon die ganze Zeit in Verdacht gehabt, daß sie etwas mehr als ein gewöhnliches Mitglied des Roten Kreises ist. Natürlich war ich sehr bestürzt und eilte sofort zu dem Landhaus. Aber als ich ankam, hatte sie gerade das Haus verlassen. Sie flüchtete in Willings' Wagen und zertrümmerte auf dem Wege das Einfahrtstor – das Mädchen besitzt wirklich eine ungeheure Kaltblütigkeit.«

»Wie geht es Willings?«

»Er wird sich erholen, die Wunde ist nur äußerlich. Es war aber zweifellos ein Verbrechen gegen ihn geplant. Willings vermißte den Dolch, mit dem er verwundet wurde, am Nachmittag. Während er seinen Mantel anzog, blieb Thalia Drummond allein im Zimmer. Er nimmt an, daß sie den Dolch nahm und versteckte, und das ist sehr wahrscheinlich. Über die Vorgänge, die dem Dolchstoß unmittelbar vorausgingen, kann er mir keine klaren Angaben machen.«

»Hm. Wie sah denn das Zimmer aus, ich meine das Zimmer, wo ... es ... beinahe geschehen wäre?«

»Es ist ein hübscher, kleiner Salon; er steht mit einem Raum in Verbindung, den Willings sein ›Türkisches Zimmer‹ nennt. Übrigens eine wundervolle Nachahmung eines östlichen Interieurs. Ich kann mir ungefähr vorstellen, was da vorgegangen ist – Willings hat nicht den allerbesten Ruf. Das Zimmer ist vom Salon nur durch einen Vorhang getrennt, und dort wurde Willings gefunden.«

Mr. Parr war so in Gedanken versunken, daß sein Kollege dachte, er wäre eingeschlafen. Aber der Inspektor schlief nicht, er war im Gegenteil sehr wach. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß sein Mitarbeiter wieder einmal allen Ruhm davontrug, aber er beneidete ihn nicht um diese Ehre.

Plötzlich machte er eine Bemerkung, die in keinem Zusammenhang mit der eben besprochenen Angelegenheit zu stehen schien.

»Alle großen Verbrecher kommen durch kleine Rechenfehler zu Fall«, sagte er orakelhaft.

Yale lächelte.

»In diesem Fall ist der kleine Rechenfehler wohl der nicht eingetretene Tod unseres Freundes Willings. Und ich bin sehr froh, daß diese Teufel ihn nicht erwischten, obwohl man ihn unter allen Mitgliedern des Kabinetts am ersten entbehren könnte.«

»Ich meine nicht Mr. Willings.« Parr stand langsam auf. »Ich meine eine dumme, kleine Lüge, die mir von einem Mann erzählt wurde, der es wirklich besser hätte wissen sollen.«

Mit diesen rätselhaften Worten machte er sich auf den Weg, um Jack Beardmore die letzten Ereignisse mitzuteilen.

Es war sehr bezeichnend für ihn, daß er zuerst an Jack dachte, als er von Thalia Drummonds Verhaftung hörte. Er hatte Jack gern, und er wußte sogar besser als Yale, wie schwer Thalia Drummonds Schuld auf dem Mann lasten würde, der sie liebte.

Aber Jack wußte schon alles, und als Parr kam, bot er ein Bild der Verzweiflung. In den Abendzeitungen hatte er von der Verhaftung Thalias gelesen.

»Sie muß die besten Rechtsanwälte haben, die man nur auftreiben kann«, sagte er entschieden. »Ich weiß nicht, ob ich Sie ins Vertrauen ziehen darf, Mr. Parr, denn Sie gehören selbstverständlich zur Gegenpartei.«

»Natürlich, aber ich habe auch eine gewisse Achtung vor Thalia Drummond.«

»Sie?« fragte Jack erstaunt. »Ich dachte –«

»Ich bin auch ein Mensch. Ein Verbrecher ist für mich nichts weiter als ein Verbrecher. Ich fühle keinen persönlichen Groll gegen die Leute, die ich festnehme.«

»Denken Sie wirklich, daß sie die Anführerin des Roten Kreises ist?«

»Wenn jemand zu mir käme und sagte, der Erzbischof wäre der Anführer, so würde ich auch nicht überrascht sein. Wir werden noch genug Überraschungen erleben. Ich nahm früher an, daß jeder der Rote Kreis sein könnte – Sie oder Marl, der Kommissar oder Derrick Yale, Thalia Drummond oder sonst jemand.«

»Und Sie halten immer noch an dieser Ansicht fest? Dann könnten Sie doch auch selbst der Schuft des Theaterstücks sein.«

Mr. Parr stritt diese Möglichkeit nicht ab.

»Mutter denkt –« begann er.

Jack mußte lachen.

»Ihre Großmutter ist sicherlich eine ungewöhnliche Persönlichkeit. Hat sie auch ihre Ansichten über den Roten Kreis?«

Der Inspektor nickte energisch.

»Sie hatte sie schon seit dem ersten Mord, und sie legte ihren Finger auf die richtige Stelle. Aber das tat sie schon immer. Meine besten Eingebungen stammen von ihr, eigentlich –« er hielt ein.

Jack lächelte, bemitleidete ihn aber. Dieser Mann, von Natur aus so schlecht für seinen Beruf ausgerüstet, hatte sich wahrscheinlich durch Beharrlichkeit und Hartnäckigkeit zu einem hohen Posten emporgearbeitet. Es berührte Jack eigenartig, daß der Inspektor von seiner Großmutter sprach, während die tüchtigsten Köpfe sich bemühten, die Verbrecherbande zur Strecke zu bringen.

»Ich muß Sie einmal wieder besuchen und meine Bekanntschaft mit Ihrer Tante erneuern«, meinte Jack.

»Sie ist gerade auf dem Lande, ich bin allein. Nur eine Aufwartefrau besorgt meinen Haushalt.«

Für Jack bedeutete es eine Erleichterung, daß er von Parrs häuslichen Angelegenheiten sprechen konnte. Gerade ihre Unwichtigkeit war eine Erholung für seinen zermarterten Geist. Er hatte das Gefühl, daß ihn ein Abend in der Gesellschaft der Großmutter Parrs zu normalem Denken zurückbringen könnte.

Der Inspektor kam aber wieder auf das alte Thema zurück.

»Miß Drummond wird morgen vorgeführt und in Untersuchungshaft behalten.«

»Ist es möglich, sie gegen Kaution freizubekommen?«

»Nein. Sie wird nach dem Halloway-Gefängnis gebracht – das schadet ihr gar nichts«, sagte Parr herzlos. »Es ist eins der besten Gefängnisse, und vielleicht freut sie sich, daß sie Ruhe hat.«

»Wie kam denn Yale dazu, sie zu verhaften? Ich dachte, das wäre Ihre Sache?«

»Ich habe ihm den Auftrag gegeben. Er ist jetzt offizieller Polizeibeamter, und da er schon am Morgen in der Sache gearbeitet hatte, hielt ich es für besser, daß er sie zu Ende führte.«

Am nächsten Tag verlief die Verhandlung gegen Thalia Drummond vor dem Polizeigericht, wie Parr es vorausgesagt hatte. Der Richter verhörte nur die Zeugen, und Thalia Drummond wurde in Untersuchungshaft behalten.

Der Gerichtssaal war überfüllt, und eine große Menschenmenge drängte sich in den Straßen, die zum Gerichtsgebäude führten.

Mr. Willings fühlte sich nicht wohl genug, um der Verhandlung selbst beizuwohnen, aber er war wieder so weit hergestellt, daß er sein Rücktrittsgesuch einreichen konnte. Der Premierminister hatte ihm einen Brief geschickt, in dem nicht viel Angenehmes für ihn stand.

Was auch geschehen mochte, er war für immer in Ungnade gefallen. Sogar seine politischen Anhänger, die mit ihm durch dick und dünn gingen, mußten sich durch seine Aussagen abgestoßen fühlen. Er hatte ein junges Mädchen, das er kaum kannte, nach seinem Landsitz mitgenommen und es dort zu vergewaltigen versucht. Er selbst verfluchte sich wegen seiner Dummheit.

Parr besuchte Thalia einmal im Gefängnis. Sie weigerte sich, ihn in der Zelle zu sprechen, und bestand darauf, daß die Unterhaltung mit ihm im Beisein einer Aufseherin stattfinden müßte. Sie erklärte ihr Verhalten, als sie sich in dem großen Wartezimmer an einem Tisch gegenübersaßen.

»Sie müssen entschuldigen, Mr. Parr, daß ich Sie nicht in meinem Zimmer empfange. Aber viele Mitglieder des Roten Kreises haben ein vorzeitiges Ende gefunden, weil sie sich in ihren Zellen mit Polizeibeamten unterhielten.«

»Der einzige, an den ich mich erinnern kann, ist Sibly.«

»Ja, der war ein leuchtendes Beispiel von Unachtsamkeit.«

Sie lächelte und zeigte ihre herrlichen weißen Zähne.

»Was wollen Sie denn eigentlich von mir?«

»Ich möchte gern erfahren, was in Onslow Gardens geschah, als Sie dort zu Besuch waren.«

Sie schilderte ihm die Vorgänge wahrheitsgetreu und ausführlich.

»Wann entdeckten Sie, daß der Dolch verschwunden war?«

»Als ich mich im Zimmer umschaute, während Mr. Willings seinen Mantel holte. Wie geht es Lothario?«

»Gut. Er wird sich wohl bald ganz erholt haben. Leider ... Gott sei Dank, meine ich«, verbesserte er sich hastig. »Bemerkte Willings das Fehlen des Dolches zum erstenmal?«

»Ja«

»Sie hatten eine sehr große Handtasche bei sich?«

Sie dachte einen Augenblick nach und nickte dann.

Inspektor Parr erhob sich.

»Sie werden doch hier gut verpflegt?«

»Ja. Und die Gefängniskost bekommt mir ausgezeichnet. Ich wünsche jedenfalls nicht, daß mir jemand aus Menschenfreundlichkeit Speisen von außerhalb schickt, weil Untersuchungsgefangene diese zufällig annehmen dürfen.«

Er rieb sein Kinn.

»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte er dann.


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