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5

Der Kommissar schaute auf den Zeitungsausschnitt und zupfte nervös an seinem Schnurrbart. Inspektor Parr, der diese Anzeichen kannte, beobachtete ihn gespannt.

Parr war ein kleiner, untersetzter Mann. Er war fast fünfzig Jahre alt, hatte aber ein faltenloses Gesicht, das jedoch nicht die geringste Intelligenz verriet. Runde, ausdruckslose Augen, eine große, fleischige Nase, dicke Hängebacken und ein halb kahler Kopf machten es unscheinbar.

Der Kommissar nahm den Ausschnitt in die Hand. »Hören Sie sich das an«, sagte er und las dann den Leitartikel im »Morning Monitor« vor.

 

»Zum zweitenmal in diesem Jahre werden wir durch die Ermordung eines bekannten Mannes schwer getroffen. Es erübrigt sich, hier Einzelheiten über das neue Verbrechen des Roten Kreises zu geben, da diese an anderer Stelle gefunden werden können. Aber wir müssen mit allem Nachdruck feststellen, daß das Polizeipräsidium dieser Verbrecherbande gegenüber vollständig hilflos zu sein scheint. Inspektor Parr, der sich während des letzten Jahres ausschließlich der Verfolgung dieser Erpresser gewidmet hat, kann uns nichts weiter bieten als unbestimmte Versprechungen über Enthüllungen, die sich niemals verwirklichen. Im Polizeipräsidium müßte man einmal gründlich aussieben. Wir hoffen, daß die Verantwortlichen jetzt nicht mehr zögern, endlich wirksame Maßnahmen zu ergreifen.«

 

Kommissar Morton schaute auf.

»Nun, was denken Sie davon, Parr?«

Der Inspektor rieb sein großes Kinn und sagte nichts.

»James Beardmore wurde ermordet, obwohl die Polizei rechtzeitig gewarnt worden war«, fuhr Morton nachdenklich fort. »Er wurde dicht bei seinem Hause erschossen, und der Mörder befindet sich auf freiem Fuß. Das ist der zweite faule Fall, Parr, und ich muß Ihnen offen sagen, daß ich die Absicht habe, nach dem Vorschlag dieser Zeitung zu handeln.« Er klopfte auf das Papier. »Das letztemal haben Sie zugelassen, daß Mr. Yale sämtliche Lorbeeren für die Festnahme des Mörders einheimste. Haben Sie ihn schon gesehen?«

Der Detektiv nickte.

»Und was sagt er?«

Parr machte ein verlegenes Gesicht.

»Er hat mir eine Menge Blödsinn von einem Mann mit Zahnschmerzen erzählt.«

»Wie kommt er denn darauf?« fragte der Kommissar schnell.

»Er hat eine Patronenhülse auf dem Boden gefunden. Aber ich will von diesem psychometrischen Zeug nichts wissen –«

Morton lehnte sich zurück und seufzte.

»Ich glaube, Sie wollen von allem, was nützlich ist, nichts wissen. Spotten Sie nicht über Yale. Dieser Mann besitzt wirklich eine ungewöhnliche Begabung, auch wenn Sie es nicht verstehen.«

»Sie wollen doch damit nicht sagen, daß ein Mann nur eine Hülse in die Hand zu nehmen braucht, wenn er das Aussehen und die Gedanken der Person beschreiben will, die zuletzt damit umging?« Parr war von Widerspruchsgeist erfüllt. »Das wäre doch zu albern!«

»Nichts ist albern«, erklärte Morton ruhig. »Man arbeitet schon jahrelang wissenschaftlich mit Psychometrie. Es gibt eben Menschen, die für Eindrücke sehr empfänglich sind und die sonderbarsten Dinge feststellen können. Yale gehört zu ihnen.«

»Er war dort, als der Mord begangen wurde. Er und der junge Beardmore standen keine hundert Schritte entfernt, und doch hat er den Mörder nicht gefangen.«

»Ihnen ist es doch auch nicht gelungen. Vor zwölf Monaten haben Sie mir von Ihrem Plan erzählt, wie Sie den Roten Kreis fassen wollten. Ich glaube, wir haben beide zuviel davon erwartet. Sie müssen etwas anderes versuchen. Ich sage es nicht gern, aber es ist notwendig.«

Parr antwortete eine Weile nicht, dann zog er plötzlich seinen Stuhl näher an den Schreibtisch. Er machte ein ungewöhnlich ernstes Gesicht, und der Kommissar sah ihn erstaunt an.

»Die Rote-Kreis-Bande ist leicht zu fangen«, begann der Inspektor. »Ich schaffe Ihnen jeden einzelnen her, wenn Sie mir Zeit geben. Aber vor allem will ich die Nabe des Rades packen. Wenn ich die habe, sind die Speichen bedeutungslos. Und dazu müssen Sie mir etwas größere Vollmachten als bisher geben.«

»Etwas größere Vollmachten?« fragte der Kommissar verblüfft. »Was soll denn das heißen?«

»Ich will es Ihnen erklären.«

Und er erklärte es so gut, daß der Kommissar nachdenklich und schweigsam zurückblieb, als sich Parr verabschiedet hatte.

Nachdem Inspektor Parr Scotland Yard verlassen hatte, machte er einen Besuch in der Mitte der Stadt.

In einer kleinen Wohnung im dritten Stock erwartete ihn Mr. Derrick Yale.

Einen größeren Unterschied in der Erscheinung zweier Männer hätte man sich kaum vorstellen können: Yale, der überreizte, nervöse und sensible Träumer – Parr in erdenschwerer Massigkeit.

»Nun, wie steht es?« fragte Yale.

»Nicht besonders gut«, erwiderte der Inspektor bedrückt. »Ich glaube, der Kommissar hat etwas gegen mich. Haben Sie schon etwas herausgebracht?«

»Ich habe den Mann mit den Zahnschmerzen gefunden. Sein Name ist Sibly. Er ist ein Seemann, und man hat ihn einen Tag nach dem Mord in der Nähe des Hauses gesehen.« Er nahm ein Telegramm in die Hand. »Gestern wurde er wegen Trunkenheit festgenommen. In seinem Besitz fand man einen Revolver, und meiner Ansicht nach wurde das Verbrechen mit dieser Waffe verübt.«

Parr starrte ihn verwundert an.

»Wie haben Sie das herausgefunden?«

Derrick Yale lachte leise.

»Sie haben ja kein großes Vertrauen zu meinen Schlußfolgerungen. Aber als ich jene Hülse berührte, wußte ich, daß ich den Mann sehen würde. Ich habe einen meiner Leute hingeschickt, um Nachforschungen anzustellen, und das ist das Ergebnis.« Er wies auf das Telegramm.

Auf Parrs Stirne zeigten sich tiefe Falten.

»Man hat ihn also gefangen. Ich möchte nur wissen, ob er das geschrieben hat.«

Er holte ein angebranntes Stückchen Papier aus seiner Brieftasche, und Yale nahm es ihm aus der Hand.

»Wo haben Sie das gefunden?« fragte er.

»Das habe ich gestern aus dem Beardmoreschen Ascheneimer gerettet.«

Die kritzligen, großen Schriftzüge lauteten:

 

»Sie allein
ich allein
Block B
Schmiergeld.«

 

»Ich allein – Sie allein«, las Yale. »Block B – Schmiergeld?« Er schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht. Ich kann auch nichts herausfühlen. Feuer zerstört die Aura.«

Parr legte das Blättchen wieder sorgfältig in seine Brieftasche und steckte sie ein.

»Ich möchte Ihnen noch etwas mitteilen«, sagte er. »Es war jemand im Walde, der spitze Schuhe trug und Zigarren rauchte. Ich fand in einer kleinen Höhlung Zigarrenasche, und die Fußabdrücke sah ich auf den Blumenbeeten.«

»In der Nähe des Hauses?« fragte der Detektiv erstaunt.

»Ja. Ich nehme an, daß jemand Beardmore warnen wollte, diesen Brief schrieb und ihn im Hause nach Einbruch der Dunkelheit abgab. Der alte Beardmore muß den Brief bekommen haben, denn er verbrannte ihn.«

Es klopfte leise.

»Jack Beardmore«, sagte Yale halblaut.

Die sorgenvollen Tage, die er durchlebt hatte, waren dem jungen Mann anzusehen. Er nickte Parr zu und streckte Yale die Hand entgegen.

»Ich habe eben Froyant aufgesucht«, erzählte er. »Er ist hier in London. Es war allerdings nicht sehr angenehm, denn er ist vollständig herunter mit den Nerven.«

Derrick Yale berichtete ihm nun von der Verhaftung Siblys.

»Aber geben Sie sich deshalb noch keinen zu großen Hoffnungen hin«, schloß er. »Selbst wenn dieser Mann den Schuß abfeuerte, ist er doch nur ein Helfershelfer. Wahrscheinlich hören wir die alte Geschichte, daß es ihm schlecht ging, und daß ihn der Führer des Roten Kreises zu dieser Tat überredete. Von der endgültigen Lösung sind wir noch genau so weit entfernt wie früher.«

Sie verließen das Haus zusammen und traten auf die Straße hinaus, die von der Herbstsonne überstrahlt wurde.

Jack hatte eine Verabredung mit einem Rechtsanwalt, der die Erbschaftsangelegenheiten regelte, und begleitete die beiden Herren nach dem Bahnhof. Sie wollten nach der Stadt fahren, in der der vermeintliche Mörder festgehalten wurde.

In einer der belebtesten Straßen fuhr Jack plötzlich zusammen. Auf der anderen Seite lag ein großes Leihhaus, und aus dem Nebeneingang kam eben ein junges Mädchen heraus. Diesen Weg benutzten gewöhnlich die Leute, die etwas versetzen wollten.

»Donnerwetter!« rief Parr. »Ich habe sie schon seit zwei Jahren nicht mehr gesehen.«

Jack schaute ihn betroffen an.

»Sie haben sie seit zwei Jahren nicht mehr gesehen?« fragte er langsam. »Sprechen Sie von der Dame dort drüben?«

Der Inspektor nickte.

»Ja, ich meine Thalia Drummond. Sie ist eine Betrügerin und verkehrt in Hochstaplerkreisen.«


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