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34

Jack Beardmore ging wütend und schmerzlich enttäuscht nach Hause. Thalia Drummond war für ihn das Ideal einer Frau, und doch hatte er allen Grund, das Schlimmste von ihr zu denken. In seiner Bibliothek wanderte er ziellos auf und ab und verwünschte sich selbst, weil er ein solcher Narr war. Er hätte sie in diesem Augenblick schlagen und ihr wehtun können. Schließlich warf er sich in einen Stuhl und blieb eine Stunde lang sitzen, um zu grübeln und zu denken.

Dann stand er müde auf, öffnete seinen Geldschrank und nahm ein Paket Dokumente heraus. Der versiegelte Umschlag interessierte ihn am meisten. Er hatte plötzlich den kindischen Wunsch, ihn zu öffnen, und wenn er auch nur Thalia damit ärgerte.

Warum wollte sie verhüten, daß er die Photographie sah, die in dem Kuvert lag? Hatte sie so großes Interesse für Marl? Er dachte wieder daran, daß sie an dem gleichen Abend mit ihm zusammen war, an dem Marl auf so rätselhafte Weise den Tod fand.

Seine Müdigkeit war aber so groß, daß er die Papiere in sein Schlafzimmer mitnahm. Als er sie auf den Toilettentisch warf, schauderte er plötzlich bei dem Gedanken an den grauenvollen Inhalt und beschloß, sich nicht mehr darum zu kümmern.

Er erwartete, daß er eine schlaflose Nacht verbringen müßte, aber er schlief beinahe in demselben Augenblick ein, in dem sein Kopf das Kissen berührte. Er träumte auch, und zwar von Thalia Drummond. Er sah sie in der Gewalt eines Scheusals, das große Ähnlichkeit mit Inspektor Parr hatte. Und er träumte von Marl, den er auf irgendeine Weise mit Parrs Großmutter in Zusammenhang brachte.

Der Widerschein eines Lichtes im Spiegel des Toilettentisches weckte ihn auf. Der Widerschein war verschwunden, als Jack sich aufrichtete, aber er glaubte doch deutlich, ihn gesehen zu haben. Ein Blitz konnte es in dieser Jahreszeit nicht gewesen sein.

»Wer ist da?« fragte er und streckte die Hand nach der Taschenlampe aus. Aber er fand sie nicht, es mußte sie jemand weggenommen haben. Im nächsten Augenblick sprang er aus dem Bett.

Er hörte ein Geräusch in der Nähe der Tür, eilte hin und packte jemand, der sich unter seinem Griffe wehrte. Plötzlich entfuhr ihm ein Ausruf des Erstaunens, und er ließ die Gestalt los. Es war eine Frau, und eine innere Stimme verriet ihm, daß Thalia Drummond vor ihm stand.

Er tastete nach dem Lichtschalter, und im nächsten Moment erstrahlte das Zimmer in leuchtender Helle.

Thalia lehnte bleich und zitternd an der Wand. Sie hielt etwas hinter dem Rücken und versuchte mit größter Anstrengung, seinem traurigen Blick herausfordernd zu begegnen.

»Thalia!« stöhnte er und setzte sich nieder. »Warum kamen Sie her, und was verstecken Sie vor mir?«

»Warum haben Sie diese Papiere in Ihr Zimmer mitgenommen?« fragte sie wütend. »Warum haben Sie sie nicht im Geldschrank gelassen?«

Er sah jetzt, daß sie das versiegelte Kuvert in der Hand hielt.

»Aber – aber Thalia, ich kann Sie wirklich nicht verstehen. Warum sagten Sie mir nicht –«

»Ich bat Sie, das Bild nicht anzusehen, und ich ließ mir niemals träumen, daß Sie es in Ihr Schlafzimmer mitnehmen würden. Sie waren heute nacht hier und haben es gesucht.«

Sie war den Tränen nahe.

»Sie waren heute nacht hier?« wiederholte er langsam. »Wer war hier?«

»Der Rote Kreis. Sie wußten, daß Sie diese Photographie besaßen, und sind in Ihre Bibliothek eingebrochen. Ich war im Hause, als sie kamen, und ich betete – betete –« sie rang die Hände verzweifelt. Auf ihrem Gesicht lag ein qualvoller Ausdruck. »Ich betete, daß sie sie finden möchten. Aber jetzt nehmen sie an, daß Sie die Photographie gesehen haben. Ach, warum taten Sie das?«

»Das ist mir alles vollkommen unverständlich. Ich begreife nur, daß in mein Haus eingebrochen wurde. Wollen Sie bitte mitkommen?«

Er schlüpfte schnell in seinen Schlafrock, und sie folgte ihm in die Bibliothek. Sie hatte die Wahrheit gesprochen: die Tür des Geldschranks hing schief in den Angeln, und in den Fensterladen war ein Loch eingeschnitten worden. Der Inhalt des Safes lag auf dem Boden verstreut; die Fächer des Schreibtisches waren aufgebrochen und die Papiere durchwühlt worden. Sogar der Papierkorb lag umgestülpt auf dem Boden.

»Das kann ich nicht verstehen«, murmelte Jack, als er schließlich die schweren Gardinen vor das Fenster zog.

»Nehmen Sie jetzt ein Blatt Papier und schreiben Sie, was ich Ihnen diktiere«, sagte Thalia sehr ernst.

»An wen soll ich denn schreiben?« fragte er überrascht.

»An Inspektor Parr. Schreiben Sie: ›Einliegend finden Sie die Photographie, die mein Vater am Tage vor seinem Tode erhielt. Ich habe den Umschlag nicht geöffnet, aber der Inhalt wird Sie vielleicht interessieren.‹«

Gehorsam schrieb er den Text, unterzeichnete den Brief und steckte ihn mit der Photographie in einen großen Umschlag.

»Und nun die Adresse«, befahl sie. »Links oben in die Ecke schreiben Sie ›Von Jack Beardmore‹ und darunter ›Photographie, sehr eilig‹.«

Als er fertig war, nahm sie das Kuvert und ging zur Tür.

»Morgen sehe ich Sie wieder, Mr. Beardmore, wenn Sie dann noch am Leben sind.«

Hätte sie diese Worte nicht mit zitternden Lippen gesprochen, so hätte er am liebsten wild aufgelacht.


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