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8

Der Richter schien ein gutherziger Mann zu sein. Sein Blick wanderte von dem gefühllosen Mr. Parr zu dem jungen Mädchen, das auf der Anklagebank saß. Miß Drummond war beinahe ebenso kühl und beherrscht wie der Inspektor, der als Zeuge gegen sie auftrat.

»Ist etwas Nachteiliges über die Frau bekannt?« fragte der Richter. Er fand es aber selbst lächerlich, von dieser schlanken, mädchenhaften Erscheinung als »Frau« zu sprechen.

»Sie stand schon einige Zeit unter Beobachtung«, lautete die Antwort, »aber sie hatte noch nichts mit der Polizei zu tun.«

Der Richter betrachtete sie nachdenklich.

»Es ist mir unverständlich, daß Sie sich in eine solche Lage gebracht haben. Sie besitzen doch anscheinend die Bildung einer Dame. Ich nehme an, daß Sie einer großen Versuchung unterlegen sind, weil Sie das Geld dringend brauchten. Das entschuldigt aber Ihre Handlungsweise nicht. Ich will Ihnen Bewährungsfrist geben, da Sie noch nicht vorbestraft sind, aber ich ermahne Sie ernstlich, eine Wiederholung dieser unangenehmen Erfahrung zu vermeiden.«

Miß Drummond verneigte sich leicht und verließ die Anklagebank, damit der nächste Fall verhandelt werden konnte.

Harvey Froyant stand auch auf und ging aus dem Gerichtssaal. Er war reich und geizig und hätte unter ähnlichen Umständen auch seine eigene Mutter festnehmen lassen.

Seine Empörung kannte keine Grenzen, denn er hatte sehr strenge Ansichten über die Unantastbarkeit des persönlichen Eigentums.

»Eine solche Person ist eine Gefahr für die Gesellschaft«, beklagte er sich bei Parr, der mit ihm gegangen war. »Wie kann ich wissen, ob sie nicht mit diesen Erpressern zusammenarbeitet, die mich bedrohen? Sie verlangen von mir vierzigtausend Pfund! Vierzigtausend!« jammerte er. »Es ist Ihre Pflicht, darauf zu achten, daß mir nichts zustößt. Verstehen Sie das – es ist einfach Ihre Pflicht!«

»Ja, ja«, erwiderte der Inspektor gelangweilt. »Ich glaube aber wirklich kaum, daß sie jemals von dem Roten Kreis gehört hat. Sie ist noch sehr jung. Einundzwanzig.«

»Jung!« brummte Harvey Froyant. »Gerade in der Zeit sollte man sie ordentlich bestrafen! Fangt sie, wenn sie jung sind, und bestraft sie, dann werden später anständige Leute aus ihnen!«

»Vielleicht haben Sie recht«, gab Mr. Parr seufzend zu. »Kinder sind immer eine große Verantwortung.«

Ohne zum Abschied auch nur zu nicken, ging Froyant schnell zu seinem Wagen. Der Inspektor sah ihm lächelnd nach, und als er sich umdrehte, stand Mr. Beardmore vor ihm.

»Guten Morgen«, begrüßte ihn Parr. »Warten Sie auf die junge Dame?«

»Ja. Wird man sie noch lange zurückhalten?« fragte der junge Mann nervös.

»Ich glaube, Sie nehmen ein größeres Interesse an Miß Drummond, als für Sie gut ist.«

»Was wollen Sie damit sagen? Es war doch nur eine gemeine Falle – dieser Froyant –«

»Miß Drummond hat eingestanden, daß sie die Figur genommen hat. Und außerdem sahen wir doch, wie sie aus dem Leihhaus kam.«

»Denken Sie, daß ein solches Mädchen stehlen würde?« rief Beardmore heftig. »Warum sollte sie das tun? Ich hätte ihr alles gegeben, was sie brauchte –« er hielt plötzlich ein. »Es steckt irgend etwas dahinter«, fuhr er ruhiger fort. »Aber ich verstehe es nicht. Sie wahrscheinlich auch nicht, Inspektor.«

In diesem Augenblick kam Thalia Drummond heraus. Als sie Jack sah, trat etwas Farbe in ihr blasses Gesicht.

»Waren Sie bei der Verhandlung zugegen?« fragte sie schnell.

Er nickte nur.

»Das hätten Sie nicht tun sollen«, erwiderte sie fast leidenschaftlich. »Woher wußten Sie es? Wer hat es Ihnen erzählt?« Zum erstenmal zeigte sich die unterdrückte Erregung in ihrem Gesicht. Ihre Stimme zitterte, als sie weitersprach. »Es tut mir sehr leid, daß Sie davon erfahren haben, Mr. Beardmore, und noch entsetzlicher ist es, daß Sie hierherkamen.«

»Aber es ist doch nicht wahr«, unterbrach er sie. »Das können Sie doch bestätigen, Thalia? – Es war eine Falle! Eine Falle, um Sie zu verderben!«

»Es war keine Falle«, erklärte sie ruhig. »Ich habe Mr. Froyant bestohlen.«

»Aber warum, warum?« fragte er verzweifelt.

»Ich bedauere, daß ich Ihnen darauf keine Antwort geben kann. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich das Geld brauchte, und das ist ja schließlich auch ein ausreichender Grund.«

»Ich werde es niemals glauben.« Jack sah sie ernst an. »Sie gehören nicht zu den Menschen, die so handeln.«

Sie warf ihm einen rätselhaften Blick zu und wandte sich dann an den Inspektor.

»Vielleicht können Sie Mr. Beardmore aufklären? Ich fürchte, ich kann es nicht.«

»Wohin gehen Sie jetzt?« fragte Jack.

»Nach Hause. Aber bitte folgen Sie mir nicht.«

»Sie haben kein Heim.«

»Ich habe ein möbliertes Zimmer«, erwiderte sie ungeduldig.

»Ich begleite Sie«, fuhr er hartnäckig fort.

Sie erhob keinen Einspruch mehr, und die beiden traten zusammen auf die belebte Straße. Sie sprachen kein Wort, bis sie die nächste Untergrundbahnstation erreichten.

»Nun muß ich fahren«, sagte Thalia etwas freundlicher als vorher.

»Aber was wollen Sie machen? Wie wollen Sie sich Ihren Lebensunterhalt verdienen, nachdem diese schreckliche Beschuldigung gegen Sie vorliegt?«

»Ist sie so schrecklich?« entgegnete sie kühl.

Plötzlich ergriff er ihren Arm und hielt sie beinahe heftig zurück, als sie weitergehen wollte.

»Hören Sie mich an, Thalia«, sagte er heiser. »Ich liebe Sie und möchte Sie heiraten. Ich habe es Ihnen noch nicht gesagt, aber vielleicht haben Sie es schon erraten. Sie dürfen nicht aus meinem Leben verschwinden. Begreifen Sie mich? Ich glaube nicht, daß Sie eine Diebin sind –«

»Mr. Beardmore«, erwiderte sie leise, »Sie übertreiben die Sache etwas. Sie dürfen Ihr Leben nicht einer überführten Diebin wegen ruinieren. Ich bin äußerlich ein hübsches Mädchen, das wissen Sie, aber näher kennen Sie mich nicht.« In ihren Augen lag ein Schimmer von Fröhlichkeit, als sie seine Hand ergriff. »Vielleicht sehen wir uns eines Tages wieder, und dann ist der romantische Glanz verblaßt. Leben Sie wohl.«

Sie verschwand im Schalterraum, bevor er seine Fassung wiedergefunden hatte.


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