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30

Das große Haus, das ehemals Jack Beardmores Freude gewesen war, lag drei Meilen von der kleinen Bahnstation entfernt, und diese Strecke legten sie zu Fuß zurück.

Jacks Diener war vorausgefahren, um für die Bequemlichkeit seines Herrn zu sorgen. Er übergab Inspektor Parr ein Telegramm, als dieser die Schwelle übertrat.

Parr betrachtete es von beiden Seiten.

»Wie lange hat es dagelegen?«

»Vor fünf Minuten ist es gekommen. Ein Bote fuhr mit dem Rad vom Dorf herauf.«

Der Inspektor riß den Umschlag auf und nahm das Formular heraus. Es trug Derrick Yales Unterschrift und lautete:

 

»Kommen Sie sofort nach London zurück; sehr wichtige Entwicklungen.«

 

Ohne ein Wort zu sagen, reichte er Jack das Telegramm.

»Da müssen Sie natürlich fahren«, meinte der junge Mann. »Schade, daß vor neun Uhr kein Zug geht.« Es war ihm sehr unangenehm, daß er seinen Gesellschafter schon wieder verlieren sollte.

»Ich fahre nicht«, erklärte Parr ruhig. »Kein Mensch auf der ganzen Welt könnte mich dazu bringen, heute abend noch eine Bahnfahrt zu machen. Die Leute müssen eben warten.«

Diese Anschauung paßte wenig zu der Meinung, die sich Jack über Parrs Charakter gebildet hatte. Er war innerlich enttäuscht, obgleich er sich andererseits freute, daß Parr die erste Nacht in dem Hause mit ihm verbringen würde.

Der Inspektor betrachtete das Telegramm noch einmal.

»Er muß es spätestens eine halbe Stunde nach unserer Abfahrt abgesandt haben. Sie haben doch Telephon hier?«

Jack nickte, und Parr meldete sofort ein Ferngespräch an. Eine Viertelstunde später war die Verbindung hergestellt.

»Wie ich es mir gedacht hatte«, sagte Parr, nachdem er gesprochen hatte. »Das Telegramm ist gefälscht. Yale hat es mir eben bestätigt.«

»Sie nahmen schon an, daß es ein Schwindel war?«

Mr. Parr nickte.

»Es dauert nicht mehr lange, dann bin ich genau so schlau wie Mr. Yale«, erwiderte er vergnügt.

Er verbrachte den Abend damit, den jungen Mann in die Geheimnisse des Piquetspiels einzuweihen, in dem er Meister war. Die Zeit verging dabei so schnell und angenehm, daß Jack überrascht aufblickte, als eine Uhr Mitternacht schlug.

Der Inspektor sollte in dem Zimmer logieren, das James Beardmore früher bewohnt hatte. Es war ein großer, hoher Raum mit drei Fenstern, der nachts wie das andere Haus durch Acetylengas erleuchtet wurde.

»Wo schlafen Sie übrigens?« fragte er, als er sich verabschiedet hatte und vor dem Eingang seines Zimmers stand.

»Nebenan«, erwiderte Jack.

Parr nickte und schloß die Tür hinter sich ab.

Er hörte, daß sich auch Jacks Tür schloß, und legte Rock und Weste ab. Er zog sich jedoch nicht vollständig aus, sondern nahm einen alten, seidenen Schlafrock aus seiner Ledertasche und legte ihn an. Dann löschte er das Licht und zog die drei Jalousien hoch.

Die Nacht war hell genug, daß er den Weg ins Bett finden konnte; er legte sich hin und zog die Decke über sich. Er schlief jedoch nicht ein.

Gegen Morgen stand er plötzlich auf und trat geräuschlos an das nächste Fenster. Er hatte ein Geräusch gehört, wie es ein ruhig fahrendes Auto verursacht. Jetzt war wieder alles ruhig. Er wusch sein Gesicht mit kaltem Wasser und trocknete sich ab. Dann trat er wieder ans Fenster, zog einen Stuhl heran und setzte sich so, daß er vollen Ausblick auf den Weg hatte, der zum Eingang des Hauses führte.

Als er ungefähr eine halbe Stunde gewartet hatte, stahl sich eine Gestalt aus dem Schatten der Bäume, verschwand aber sofort in einem noch dunkleren Schatten.

Leise verließ er das Zimmer und stieg die Treppe hinunter. Die Haupteingangstür zum Hause war verriegelt und verschlossen, und es dauerte eine Zeitlang, bis er sie öffnen konnte. Als er dann hinaustrat, war niemand mehr zu sehen. Er schlich den Pfad entlang, der um das Haus lief, fand aber niemand. Als er den Haupteingang wieder erreichte, hörte er ein Auto abfahren. Der nächtliche Besucher hatte sich wieder entfernt.

Er sicherte die Tür wieder und ging in sein Zimmer. Was dieser Besuch bedeuten sollte, konnte er sich nicht erklären.

Erst beim Frühstück klärte sich das Geheimnis auf.

Jack stand vor dem Kaminfenster und las ein zerknittertes Papier. Es sah aus, als ob es irgendwo angeheftet und wieder heruntergerissen worden wäre, hatte die Größe eines kleinen Plakates und war mit Druckbuchstaben geschrieben. Noch bevor er den Inhalt las, wußte er, daß es sich um eine Mitteilung des Roten Kreises handelte.

»Was denken Sie davon?« sagte er, als der Detektiv hereinkam. »Wir haben ein halbes Dutzend dieser Plakate gefunden, die an die Bäume im Park angeschlagen oder angeklebt waren. Das war unter meinem Fenster!«

Parr las.

 

»Die Schuld Ihres Vaters ist noch immer unbezahlt. Sie mag unbezahlt bleiben, wenn Sie Ihre Freunde Yale und Parr überreden können, ihre Tätigkeit einzustellen.«

 

Darunter stand in kleineren Buchstaben der Nachsatz:

 

»Wir werden an Privatpersonen keine weiteren Forderungen stellen.«

 

»Er hat also Plakate angeklebt«, meinte Parr nachdenklich. »Ich wunderte mich, warum er so schnell wieder abfuhr.«

»Haben Sie ihn denn gesehen?« fragte Jack erstaunt.

»Nur ganz flüchtig. Ich zweifelte nicht daran, daß er kommen würde, aber ich erwartete natürlich eine ganz andere Entwicklung.«

Während des Frühstücks blieb er verhältnismäßig schweigsam, und erst als sie später über den Rasen gingen, wurde er wieder gesprächiger.

»Ob er wohl weiß, daß Sie Thalia Drummond gern haben?« fragte er plötzlich.

Jack wurde rot.

»Warum wollen Sie das wissen?« erwiderte er etwas besorgt. »Sie glauben doch nicht, daß er etwas gegen Thalia unternehmen will?«

»Wenn er es für gut hält, schafft er Thalia Drummond ohne weiteres aus dem Weg.«

Sie näherten sich dem Hause wieder, und Parr kam auf den nächtlichen Besucher zurück.

»Das ist der einzige falsche Schritt, den der Rote Kreis gemacht hat, und ich möchte schwören, daß es nicht seine ursprüngliche Absicht war, Plakate anzukleben. Erst im letzten Augenblick hat er sich anders besonnen.«

Er setzte sich auf die Terrassenstufen, und sein Blick schweifte über die Landschaft. Jack konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß kaum ein Mensch, den er kannte, so unbedeutend aussah wie Mr. Parr. Die kleine Gestalt, die Körperfülle und das dicke, ausdruckslose Gesicht paßten nach Jacks Meinung nun einmal nicht zu einem tüchtigen Kriminalbeamten.

»Ich hab's«, sagte der Inspektor schließlich. »Meine erste Idee war richtig. Er kam her, um von Ihnen das Geld zu erpressen, das Ihr Vater nicht zahlte. Unterwegs kam ihm der Gedanke, den er in seinem Nachsatz erwähnt. Er hat irgendeinen großen Schlag vor, so daß er es wirklich ernst gemeint haben mag. Er will uns tatsächlich heraushaben. Zeigen Sie mir doch das Plakat noch einmal.«

Jack gab es ihm, und der Inspektor breitete es auf den Fliesen der Terrasse aus.

»Es ist in aller Eile geschrieben. Wahrscheinlich im Auto. Natürlich ein Ersatz für das Plakat, das er ursprünglich herauszugeben beabsichtigte.« Er rieb ungeduldig sein Kinn. »Aber welchen neuen Plan mag er nun haben?«

In diesem Augenblick eilte der Diener herbei und meldete, daß das Telephon seit fünf Minuten klingle. Sie gingen sofort ins Haus.

»Man verlangt Sie«, sagte Jack und reichte dem Detektiv den Hörer.

Mr. Parr erkannte sofort die Stimme Mortons.

»Kommen Sie gleich nach London zurück«, sagte der Kommissar. »Sie müssen heute nachmittag einer Kabinettssitzung beiwohnen.«

Der Inspektor legte den Hörer hin, und auf seinem Gesicht erschien ein breites Lächeln.

»Was gibt es denn?« erkundigte sich Jack.

»Ich komme ins Kabinett!« Parr lachte, wie ihn Jack noch niemals hatte lachen hören.


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