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38

Yale konnte keine weiteren Einzelheiten über die Flucht erfahren. Er nahm daher ein Auto und fuhr zu seinem Büro in der City, das er zwei Tage lang nicht besucht hatte.

Die Flucht Thalia Drummonds war eine viel wichtigere Angelegenheit, als Parr zu glauben schien. Parr! Yale kam ein schrecklicher Gedanke. Dieser ruhige Mann mit dem dummen Gesicht – es war unmöglich! Er schüttelte den Kopf, reihte im Geiste aber doch alle Vorgänge aneinander, an denen der Inspektor beteiligt war. Schließlich murmelte er wieder vor sich hin: »Unmöglich!« und stieg langsam die Treppe zu seinem Büro hinauf, ohne die Dienste des Fahrstuhlführers in Anspruch zu nehmen.

Als er die Tür aufschloß, bemerkte er, daß sein Briefkasten geleert war. Nicht einmal eine Drucksache lag darin. Er ging weiter zu seinem Arbeitszimmer, blieb aber in der Tür stehen. Jede Schublade seines Schreibtisches stand offen. Der kleine Safe neben dem Kamin, der von der hölzernen Wandtäfelung verdeckt wurde, war aufgeschlossen worden. Auch das Geheimfach unter dem Schreibtisch, in dem Yale die vertraulichen Dokumente über den Roten Kreis aufbewahrte, war erbrochen.

Er setzte sich und starrte zum Fenster hinaus. Er konnte erraten, wer das getan hatte. Trotzdem erhob er sich kurze Zeit später und fragte den Fahrstuhlführer oberflächlich aus. Er erhielt auch alle Auskünfte, die er brauchte.

»Ja, Ihre Sekretärin war heute morgen hier. Sie kam schon sehr früh, blieb ungefähr eine Stunde da und ging dann wieder weg.«

»Hatte sie eine Handtasche?«

»Ja, eine kleine.«

»Danke schön.« Derrick Yale kehrte ins Polizeipräsidium zurück und erzählte dem phlegmatischen Parr, was vorgefallen war.

»Ich will Ihnen noch etwas sagen, Parr. Ich habe noch mit niemand darüber gesprochen, nicht einmal mit dem Kommissar. Wir nehmen an, daß die Organisation des Roten Kreises von einem Mann geleitet wird. Ich weiß zufällig, daß Thalia den Mann getroffen hat, der sie in die Geheimnisse der Bande einweihte. Aber ich weiß auch, daß dieser geheimnisvolle Mann im Auto weit davon entfernt ist, der Herr zu sein. Er bekommt seine Befehle wie jeder andere vom eigentlichen Mittelpunkt der Organisation, – und das ist – Thalia Drummond!«

»Großer Gott!« rief der Inspektor.

»Sie wunderten sich, warum ich sie in mein Büro nahm? Ich sagte Ihnen schon damals, daß wir durch sie näher an den Roten Kreis herankommen würden. Und ich hatte recht.«

»Aber warum haben Sie sie denn dann entlassen?«

»Weil sie die Entlassung verdiente. Hätte ich sie damals nicht weggeschickt, so hätte sie gewußt, daß ich sie aus einem bestimmten Grunde halten wollte. Aber anscheinend hätte ich mir die Mühe sparen können«, meinte er lächelnd. »Die saubere Arbeit von heute morgen beweist, daß sie genau wußte, was ich wollte!« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Wenn Sie heute abend dem Premierminister und seinen Freunden Ihre Geschichte erzählt haben, will ich auch eine kleine Geschichte zum besten geben, die Sie vielleicht überraschen wird.«

Als Derrick Yale um sechs Uhr nach Hause kam und einen Rundgang durch die Räume machte, entdeckte er, daß auch sein Wohnzimmer durchsucht worden war. Die Haushälterin war durch eine Nachricht weggelockt worden, die angeblich von ihm selbst kam – soviel konnte er erraten. Und während sie abwesend war, hatte Thalia Drummond in der Wohnung gearbeitet.

Derrick Yale war so objektiv, daß er ein Genie auch dann bewundern konnte, wenn es seine Kraft gegen ihn einsetzte. Thalia hatte keine Zeit verloren. Sie war innerhalb zwölf Stunden aus dem Gefängnis entflohen und hatte sowohl sein Büro als auch seine Privatwohnung nach wichtigen Dokumenten durchsucht, die in Beziehung zum Roten Kreis standen.

Er kleidete sich langsam um und dachte darüber nach, was nun folgen würde. Seiner selbst war er sicher. Parr aber würde in vierundzwanzig Stunden ein gebrochener Mann sein. Nach kurzem Zögern steckte der Detektiv einen Revolver in die Tasche. Es sollte ein überraschendes und sensationelles Ende der Jagd nach dem Roten Kreis geben, ein Ende, das von den Zuschauern der Tragödie nicht erwartet wurde.

In der großen Eingangshalle im Hause des Premierministers fand er auch Jack Beardmore, und war etwas verwundert darüber. Der junge Mann hatte allerdings auch unter der Tätigkeit des Roten Kreises gelitten, aber an den letzten Vorgängen war er unbeteiligt.

»Sie sind erstaunt, mich hier zu finden«, lachte Jack und drückte ihm die Hand. »Ich selbst bin es auch.«

»Wer hat Sie eingeladen? Parr?«

»Um genau zu sein, der Sekretär des Premierministers. Aber sicherlich steckt Parr dahinter. Fürchten Sie sich nicht in dieser Gesellschaft?«

»Nicht sehr«, erwiderte Derrick lächelnd.

Ein Privatsekretär kam eilig herein und führte sie in einen Salon, wo sich etwa ein Dutzend Herren in zwei Gruppen unterhielten.

Der Premierminister trat vor, um den Detektiv zu begrüßen.

»Inspektor Parr ist noch nicht da«, sagte er. Dann schaute er fragend auf Yales Begleiter. »Mr. Beardmore? Parr hat besonders darum gebeten, Sie einzuladen. Ich nehme an, daß er etwas Licht in die rätselhaften Umstände bringen will, die den Tod von James Beardmore veranlaßten – Ihr Vater war übrigens ein guter Freund von mir.«

In diesem Augenblick kam der Inspektor herein. Er trug einen Frack, der bessere Tage gesehen hatte, und einen niedrigen Kragen mit einem merkwürdigen Schlips. Seine Erscheinung paßte kaum in diese Atmosphäre von Geist und Bildung. Dann trat Morton ein, nickte seinem Untergebenen kurz zu und führte den Premierminister auf die Seite. Die beiden unterhielten sich eine Weile im Flüsterton, dann ging der Kommissar auf Yale zu.

»Wissen Sie, was Parr vortragen wird?« fragte er etwas ungeduldig. »Ich dachte, er würde einen zusammenhängenden Bericht erstatten, höre aber eben, daß er vorgeschlagen hat, die Geschichte des Roten Kreises auseinanderzusetzen. Hoffentlich macht er sich nicht selbst zum Narren.«

»Das glaube ich kaum«, erwiderte Jack Beardmore.

Morton schaute ihn fragend an, und Yale stellte den jungen Mann vor.

»Ich stimme Mr. Beardmore bei«, sagte er dann. »Mr. Parr wird seine Sache bestimmt sehr gut machen und uns bisher zusammenhanglose Tatsachen logisch aneinanderreihen können. Sollten Lücken bleiben, so bin ich bereit, sie auszufüllen.«

Die Versammelten nahmen Platz, und der Premierminister winkte dem Inspektor zu.

Parr räusperte sich und begann dann zu sprechen. Anfangs kamen ihm die Worte nur zögernd, und er machte viele Pausen, um den richtigen Ausdruck zu finden. Aber als er sich nach kurzer Zeit sicherer fühlte, sprach er auch schneller und verständlicher.

»Der Rote Kreis ist der Name des Verbrechers Lightman, der in Frankreich mehrere Morde beging und zum Tode verurteilt wurde. Durch einen Zufall wurde er vor der Hinrichtung gerettet. Sein voller Name ist Ferdinand Walter Lightman. An dem Tage, an dem er sterben sollte, war er dreiundzwanzig Jahre und vier Monate alt. Man brachte ihn nach Cayenne, aber von dort entfloh er, nachdem er einen Aufseher ermordet hatte. Wahrscheinlich hat er sich dann nach Australien gewandt. Ein Mann, der seiner Beschreibung entsprach, aber einen anderen Namen angab, arbeitete achtzehn Monate lang für einen Kaufmann in Melbourne und später zwei Jahre und fünf Monate für einen Farmer Macdonald. Dann verließ er Australien sehr eilig, da ein Haftbefehl wegen Erpressungsversuchen gegen ihn ausgestellt wurde.

Was weiter mit ihm geschah, wissen wir nicht. Aber schließlich tauchte in England ein unbekannter und geheimnisvoller Verbrecher auf, der sich der Rote Kreis nannte und durch sorgfältige Organisation eine große Zahl von Helfershelfern zusammenbrachte. Die Leute kannten sich gegenseitig aber nicht.

Der Rote Kreis fand stets Menschen in verantwortungsvoller Stellung, die Geld brauchten oder Strafe für ein Vergehen fürchten mußten. Oder er wandte sich an verurteilte Verbrecher, zum Beispiel an Sibly. Dieser stand schon im Verdacht, einen Mord begangen zu haben, und eignete sich deshalb hervorragend für die Zwecke des Roten Kreises. Auf diese Weise sicherte er sich auch Thalia Drummond, die eine Diebin war, und den Schwarzen, der den Eisenbahndirektor ermordete. Er verpflichtete sich den Bankier Brabazon, und auch Marl hätte daran glauben müssen. Aber unglücklicherweise waren er und Marl an dem Verbrechen beteiligt, das Lightman beinahe mit dem Tode bezahlte. Noch unglücklicher war es, daß Marl Lightman erkannte, als er ihn in England traf. Deshalb wurde Marl beiseitegeschafft. Der Täter wandte dabei wahrscheinlich die genialste Methode an, die jemals ein Mörder ersann.«

Alle lauschten dem kleinen Mann mit gespanntem Interesse.

»Der Rote Kreis –«

»Warum nannte er sich der Rote Kreis?« Derrick Yale stellte diese Frage.

Der Inspektor machte eine kleine Pause.

»Er nannte sich so«, sagte er dann langsam, »weil er diesen Namen von seinen Mitgefangenen erhalten hatte. Um seinen Hals lief ein rotes Geburtsmal – und ich jage Ihnen eine Kugel durch den Kopf, wenn Sie sich rühren!«

Sein schwerkalibriger Revolver richtete sich auf Derrick Yale.

»Hände hoch!« rief der Inspektor, streckte die Hand aus und riß den hohen weißen Kragen herunter, der Yales Hals bedeckte.

Alle blickten mit starren Augen auf das blutrote Mal, das um Derrick Yales Hals lief.


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