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15

Derrick Yale saß noch in seinem kleinen hübschen Arbeitszimmer, als es lange nach Mitternacht klopfte. Er stand auf und ließ Inspektor Parr herein.

Parr erzählte, was er erlebt hatte.

»Warum haben Sie mich denn nicht benachrichtigt?« fragte Derrick vorwurfsvoll und lachte dann. »Es tut mir leid, daß ich mich immer in Ihre Angelegenheiten einmische. Aber wie konnte der Mörder denn entwischen? Sie sagen, daß Sie das Haus zwei Stunden lang umstellt hatten. Kam das Mädchen heraus?«

»Ja. Sie kam heraus und fuhr nach Hause.«

»Und kein anderer ging ins Haus?«

»Das möchte ich nicht beschwören. Jedenfalls hat sich der Betreffende dann schon lange vor Marls Rückkehr im Hause aufgehalten. Ich habe auch entdeckt, daß es noch einen Ausgang durch die Garage hinter dem Hause gibt. Wenn ich sage, daß das Haus umstellt war, so ist das eine Übertreibung. Es gab noch einen Ausweg durch den Garten hinter dem Hause, den ich nicht kannte. Ich ahnte nicht einmal, daß sich dort ein Garten befand. Sicherlich ist der Täter durch die Gartentür entkommen.«

»Verdächtigen Sie das Mädchen?«

Parr schüttelte den Kopf.

»Aber warum hatten Sie Marls Haus überhaupt umstellt?« fragte Derrick ernst.

Die Antwort war ebenso unerwartet wie verblüffend.

»Weil Marl von der Polizei beobachtet wurde, seitdem er nach London zurückkehrte. Besonders, als ich entdeckte, daß er den Brief geschrieben hatte, von dem ich nach Beardmores Tod ein Stückchen fand. Er schrieb mir die Adresse seines Schneiders auf, und ich konnte die Handschrift vergleichen.«

»Marl?« fragte der Detektiv ungläubig.

Der Inspektor nickte.

»Ich weiß nicht, was zwischen dem alten Beardmore und Marl spielte, oder was ihn in das Haus führte. Aber ich habe versucht, mir die Szene vorzustellen. Sie wissen vielleicht noch, daß Marl bei seinem damaligen Besuch von einem panischen Schrecken gepackt wurde?«

»Ja, ich erinnere mich daran. Jack Beardmore hat mir davon erzählt. Und?«

»Er weigerte sich, im Hause zu bleiben, und erklärte, daß er nach London zurückkehren wolle. Er ist aber dann nur bis Kingside gefahren, das acht oder neun Meilen entfernt liegt. Er kehrte zu Fuß zurück, und der Mörder sah ihn wahrscheinlich in jener Nacht im Walde. Warum kam er aber zurück, wenn er zuerst vor Schrecken davonlief? Warum schrieb er den Brief, der noch in der Nacht abgeliefert werden sollte, wenn er Gelegenheit hatte, mit James Beardmore am Tage zu sprechen?«

Es entstand eine Pause.

»Wie wurde Marl getötet?« fragte Yale schließlich.

»Das ist mir noch ein Rätsel. Der Mörder konnte ganz unmöglich das Zimmer betreten. Ich habe mit Flush Barnet gesprochen. Er weiß nichts von dem Mord, aber er gibt zu, daß er eine gute Beute im Haus machen wollte. Er hat gehört, daß sich jemand im Haus bewegte, und hat sich versteckt. Außerdem behauptet er, ein eigenartiges Geräusch gehört zu haben, als ob Luft aus einer Röhre entwiche. Sehr merkwürdig ist auch der runde feuchte Fleck auf dem Kissen – nur ein paar Zentimeter von dem Kopf des Toten entfernt und genau kreisförmig. Erst dachte ich, daß es sich um ein Symbol des Roten Kreises handelte, aber ich entdeckte noch einen weiteren Fleck auf der Bettdecke. Der Arzt hat die Todesursache nicht feststellen können, aber das Motiv ist klar. Ich habe eben mit Brabazon telephoniert und erfahren, daß Marl gestern einen großen Geldbetrag bei der Bank abhob. Brabazon hat sein Konto geschlossen, weil sie über irgend etwas uneinig waren. Der Geldschrank wurde selbstverständlich von Flush Barnet geöffnet. Aber es wurde kein Geld bei Flush gefunden, als man ihn auf der Polizeiwache durchsuchte. Wir entdeckten nur ein paar Kleinigkeiten. Wer hat nun aber das Geld genommen?«

Derrick Yale ging im Zimmer auf und ab. Er hatte die Hände auf dem Rücken gekreuzt und den Kopf gesenkt.

»Wissen Sie etwas über Brabazon?« fragte er.

»Ich weiß nur, daß er ein Bankier ist und viele Geschäfte mit dem Ausland macht.«

»Ist er zahlungsfähig?« fragte der Detektiv geradezu.

»Nein. Und ich kann ruhig zugeben, daß wir ein oder zwei Beschwerden über ihn hatten.«

»Waren Marl und Brabazon gute Freunde?«

»Ziemlich gute«, erwiderte Parr zögernd. »Aus verschiedenen Berichten habe ich den Eindruck gewonnen, daß Marl Brabazon irgendwie in der Hand hatte.«

»Und Brabazon ist nicht zahlungsfähig«, meinte Derrick Yale nachdenklich. »War Marl in der Bank? Unter welchen Umständen hat er sein Konto geschlossen?«

Der Inspektor erzählte kurz, was vorgefallen war. Er schien über alle Vorgänge in Brabazons Bank sehr genau unterrichtet zu sein.

Derrick Yale begann diesen Mann zu schätzen, den er zuerst mit gutmütiger Verachtung behandelt und für etwas beschränkt gehalten hatte.

»Könnte ich heute nacht noch in Marls Haus gehen?«

»Das wollte ich gerade vorschlagen. Mein Auto wartet unten.«

Während der Fahrt nach Bayswater sprach Derrick Yale kein Wort. Erst als sie in der Eingangshalle des Hauses standen, brach er das Schweigen.

»Wahrscheinlich finden wir irgendwo einen kleinen Stahlzylinder«, sagte er langsam.

Ein Polizist im Vorsaal trat vor und salutierte.

»In der Garage haben wir eine Stahlflasche gefunden«, meldete er.

»Aha!« rief Derrick Yale triumphierend. »Das hatte ich mir doch gedacht!«

Er eilte vor dem Detektiv die Treppe hinauf und blieb im Gang stehen, der jetzt hell erleuchtet war. Der kleine Tisch stand noch unter dem Ventilator, und Yale ging darauf zu. Er ließ sich auf die Knie nieder und roch am Teppich. Sofort mußte er husten, und als er aufstand, war sein Gesicht gerötet.

»Zeigen Sie mir den Zylinder«, sagte er.

Der Polizist hatte ihn als »Flasche« beschrieben, was der Wirklichkeit näherkam. Es war eine eiserne Flasche, deren Hals in eine kleine Röhre mit einem winzigen Abschlußhahn überging.

»Nun müßten wir auch noch eine Tasse finden.« Yale sah sich um. »Falls er es nicht in einer Flasche mitgebracht hat.«

»In der Garage lag neben dem Stahlzylinder eine kleine Flasche«, sagte der Polizist. »Aber sie war zerbrochen.«

»Bringen Sie sie schnell her«, befahl der Detektiv. »Hoffentlich ist sie nicht vollständig zerbrochen, so daß nichts mehr vom Inhalt übrig ist.«

Der dicke Mr. Parr schaute ihn düster an.

»Was soll denn das alles bedeuten?« fragte er.

Derrick Yale lachte.

»Eine neue Methode, einen Mord zu begehen«, erwiderte er leichthin. »Nun wollen wir in das Zimmer gehen.«

Sie hatten Marl mit einem Laken zugedeckt. Der runde, feuchte Fleck war noch nicht ausgetrocknet, obwohl die Fenster offenstanden, und der Zugwind die Gardinen hin und her bewegte.

»Hier kann man es selbstverständlich nicht riechen.« Yale sprach mit sich selbst, kniete nochmals nieder und roch am Teppich. Wieder hustete er und stand schnell auf.

Inzwischen war die untere Hälfte einer Flasche gebracht worden, die noch einige Tropfen einer Flüssigkeit enthielt. Yale schüttete sie in die Hand.

»Seife und Wasser«, sagte er. »Das habe ich mir gedacht. Und nun will ich Ihnen erklären, wie Marl getötet wurde. Ihr Dieb, Flush Barnet, hörte ein zischendes Geräusch. Es war das Geräusch eines schweren Gases, das aus dem Zylinder entwich. Ich kann mich irren, aber ich glaube, daß in dieser kleinen eisernen Flasche genug Gift war, um Sie und mich zu erledigen. Es liegt noch immer über dem Fußboden – es ist eins jener schweren Giftgase, die sich nach unten ziehen.«

»Aber wie konnte es Marl töten? Haben sie es durch das Gitter auf Marls Kopf gepumpt?«

Derrick Yale schüttelte den Kopf.

»Der Rote Kreis hat eine viel einfachere Methode angewandt«, entgegnete er ruhig. »Sie haben Seifenblasen gemacht.«

»Seifenblasen!«

»Das Ende des Zylinders – Sie können immer noch den Schleim der Seife fühlen – wurde erst in eine Seifenlösung getaucht und dann durch das Gitter gesteckt. Der Hahn wurde aufgedreht, und es bildete sich eine Seifenblase, die abgeschüttelt wurde. Vom Ventilator aus –« er sprang auf den Tisch, »kann man Marls Kopf sehen. Zwei oder drei Seifenblasen müssen ihr Ziel verfehlt haben. Eine fiel auf das Kissen, aber ich nehme an, daß diese erst nach seinem Tode geblasen wurde. Eine flog an die Wand, Sie werden den feuchten Fleck sehen, aber eine oder wahrscheinlich mehrere zerplatzten auf seinem Gesicht. Er muß sofort getötet worden sein.«

Parr starrte ihn mit offenem Munde an.

»Ich habe mir das alles auf dem Weg hierher ausgedacht. Der runde Fleck auf dem Kissen erinnert mich an meine eigenen Jugenderfahrungen, als ich Seifenblasen im Schlafzimmer machte. Als Sie dann den Ventilator und das zischende Geräusch erwähnten, war ich meiner Sache ganz sicher.«

»Aber wir rochen kein Gas, als wir in das Zimmer kamen.«

»Der Wind hat den Dunst sicherlich weggeweht. Aber trotzdem ist das Gas durch sein eigenes Gewicht auf den Fußboden gesunken und hat sich durch seine eigene Dichtigkeit gleichmäßig verteilt. Sehen Sie her!« Er brannte ein Streichholz an und schützte es, bis es richtig Feuer gefangen hatte. Dann näherte er es langsam dem Fußboden. Ungefähr drei Zentimeter oberhalb des Teppichs verlöschte es plötzlich.

»Jetzt verstehe ich«, sagte Parr.

»Wie wäre es jetzt mit einer Durchsuchung des Hauses? Vielleicht kann ich helfen?« meinte Yale.

Aber sein Anerbieten wurde nicht besonders freundlich aufgenommen, und die Polizisten, die Yales Theorie andächtig gelauscht hatten, konnten die Gefühle des Inspektors verstehen.

Yale begriff anscheinend die Situation auch, denn er verabschiedete sich mit einem heiteren Lachen und ging nach Hause. In gewissen Augenblicken muß man die Polizei sich selbst überlassen. Niemand verstand das besser als Derrick Yale ...


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