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10

Mr. Felix Marl hatte sich in sein Schlafzimmer eingeschlossen, und seine augenblickliche Beschäftigung weckte unangenehme Erinnerungen in ihm.

Vor fünfundzwanzig Jahren, als er in dem großen französischen Gefängnis in Toulouse eingesperrt war, hatte er als Schuster gearbeitet und Schuhe geflickt. Heute aber schnitt er mit einem haarscharfen Messer ein Paar spitze Lackschuhe in Streifen, die er nur dreimal getragen hatte. Jeden Streifen warf er einzeln ins Feuer.

Irgendeine Zeitung hatte die Geschichte von dem Fußabdruck in Beardmores Besitztum aufgegriffen, und Mr. Felix Marl hatte eine lähmende Angst gepackt. Er saß in Hemdsärmeln, und der Schweiß rann an seinem Gesicht herunter, denn im Kamin brannte ein starkes Feuer.

Als der letzte Streifen verbrannt war, wusch sich Marl die Hände und öffnete die Fenster, um den scharfen Geruch brennenden Leders hinauszulassen.

Er verfluchte seine Feigheit, die ihn bestimmt hatte, seinen Füllfederhalter durch einen Revolver zu ersetzen. Aber er war sicher, daß niemand gesehen hatte, wie er das Grundstück verließ. Und als er zu seiner kleinen Bibliothek hinunterging, betrachtete er die Situation schon wieder hoffnungsvoller.

Bei Einbruch der Dunkelheit schrieb er einen bittenden, fast unterwürfigen Brief und hoffte, daß dieser richtig abgeliefert würde.

Sein Diener brachte ihm das Abendessen auf einem Tablett und stellte es auf einen kleinen Tisch neben dem Schreibtisch.

»Wollen Sie jetzt mit dem Herrn sprechen?« fragte er.

»Wie?« Mr. Marl wandte sich um. »Welchen Herrn meinen Sie denn?«

»Es ist ein Herr da, der Sie zu sprechen wünscht. Ich sagte es schon.«

Marl erinnerte sich, daß der Diener angeklopft hatte, als er das Leder verbrannte.

»Wer ist es? Haben Sie nicht gesagt, daß ich beschäftigt wäre?«

»Doch, aber er wollte warten, bis Sie herunterkämen.« Der Diener reichte ihm eine Visitenkarte.

Mr. Marl las sie und sprang auf. Sein Gesicht war gelb geworden.

»Inspektor Parr«, sagte er unsicher. »Was will der von mir?« Seine Hände zitterten. »Lassen Sie ihn hereinkommen«, befahl er schließlich, aber seine Stimme klang nicht fest.

Er kannte den Beamten nicht, und als er den kleinen, dicken Mann sah, beruhigte er sich wieder. In der Erscheinung dieses Detektivs lag wirklich nichts Drohendes.

»Setzen Sie sich, Inspektor. Es tut mir leid, daß ich Sie warten lassen mußte.«

Parr ließ sich auf dem nächsten Stuhl nieder und legte den Hut auf die Knie.

»Ich habe gewartet, Mr. Marl«, begann er, »weil ich wegen des Mordes an Beardmore mit Ihnen sprechen wollte.«

Mr. Marl bemühte sich, das Zittern seiner Lippen zu verbergen und höfliches Interesse zu zeigen.

»Sie kannten Mr. Beardmore gut?«

»Nicht besonders. Ich stand allerdings in Geschäftsverbindung mit ihm.«

»Hatten Sie ihn schon früher kennengelernt?«

Marl zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, denn er war daran gewöhnt, zu lügen.

»Ich hatte ihn vor Jahren gesehen, bevor er sich den Bart wachsen ließ.«

»Wo war Mr. Beardmore, als Sie in das Haus kamen?«

»Er stand auf der Terrasse«, erwiderte Marl übermäßig laut.

»Und dort sahen Sie ihn?«

Marl nickte.

»Man erzählte mir«, fuhr Parr fort und schaute auf seinen Hut nieder, »daß Sie aus irgendeinem Grunde erschraken – darf ich erfahren, was die Veranlassung dazu war?«

Mr. Marl zuckte mit den Schultern und zwang sich zu einem Lächeln.

»Ich sagte damals schon, daß es eine Art Herzkrampf war. Ich leide daran.«

»Es war doch nicht etwa der Anblick von Mr. Beardmore?« Parr hob den Blick noch immer nicht.

»Nicht im geringsten! Warum sollte ich denn vor Mr. Beardmore erschrecken? Ich korrespondierte viel mit ihm und kannte ihn beinahe so gut –«

»Aber Sie hatten ihn seit Jahren nicht gesprochen?«

»Ich hatte ihn seit Jahren nicht gesehen«, verbesserte Marl gereizt.

»Und der Grund Ihrer Aufregung war nur ein Herzkrampf, Mr. Marl?« Parr schaute ihn jetzt an.

»Ja.« Marls Stimme klang aufrichtig. »Ich hatte den kleinen Anfall schon wieder vergessen.«

»Es handelt sich noch um einen anderen Punkt.« Parr betrachtete seinen Hut aufs neue mit großer Aufmerksamkeit. »Als Sie zu Mr. Beardmore kamen, trugen Sie spitze Lackschuhe.«

Marl runzelte die Stirne.

»So? Das habe ich ganz vergessen.«

»Sind Sie dort spazieren gegangen?«

»Nein.«

»Sie sind nicht um das Haus herumgegangen, um – die Architektur zu bewundern?«

»Nein. Ich hielt mich nur ganz kurz in dem Haus auf und fuhr dann wieder weg.«

»Würden Sie die Liebenswürdigkeit haben, mir die Lackschuhe zu zeigen, die Sie an jenem Tage trugen?

»Aber natürlich.« Marl erhob sich bereitwillig.

Wenige Sekunden später kam er mit einem Paar langer, spitzer Lackschuhe zurück.

Der Detektiv nahm sie in die Hand und betrachtete die Sohlen nachdenklich.

»Das sind natürlich nicht die Schuhe, die Sie damals trugen«, sagte er dann. »Auf diesen liegt Staub, und in der vorigen Woche war der Boden naß.«

Marls Herz blieb fast stehen.

»Diese Schuhe habe ich getragen«, erwiderte er herausfordernd. »Was Sie Staub nennen, ist weiter nichts als ausgetrockneter Schmutz.«

Parr schaute auf seine staubigen Finger und schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, das ist ein Irrtum«, entgegnete er sanft. »Das ist Kalkstaub.« Er stellte die Schuhe nieder und stand auf. »Aber es ist nicht besonders wichtig.« Er stand noch eine Zeitlang da und sah auf den Teppich nieder, so daß Mr. Marl trotz seiner Furcht ungeduldig wurde.

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Inspektor?«

»Ja. Bitte schreiben Sie mir die Adresse Ihres Schneiders auf.«

»Die Adresse meines Schneiders?« Mr. Marl starrte den Besucher an. »Was wollen Sie denn von ihm?« Er lachte auf. »Inspektor, Sie sind ein neugieriger Mann, aber ich will Ihnen den Gefallen tun.«

Er ging an den Schreibtisch, nahm ein Blatt Papier und schrieb die Adresse darauf.

»Danke schön.« Parr schaute sie nicht an, sondern steckte sie nur in die Tasche. »Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe, aber Sie werden begreifen, daß jeder befragt werden muß, der in den letzten vierundzwanzig Stunden vor Mr. Beardmores Tod im Hause war. Der Rote Kreis –«

»Der Rote Kreis!« wiederholte Mr. Marl entsetzt.

»Wußten Sie denn nicht, daß der Rote Kreis an diesem Mord schuld ist?«

»Großer Gott, nein! Ich dachte niemals –« Er hielt ein.

»Was dachten Sie niemals?« fragte Parr freundlich.

»Der Rote Kreis«, erwiderte Marl mühsam. »Ich dachte, es wäre nur –« Er vollendete den Satz nicht.

Als der Detektiv schon eine Stunde gegangen war, saß Felix Marl immer noch zusammengekauert in seinem Stuhl und stützte den Kopf in die Hände.

Der Rote Kreis!

Zum erstenmal kam er in Berührung mit dieser Erpresserorganisation, und es packte ihn eine quälende Unruhe, daß sie alle seine Pläne durchkreuzen könnte.

»Das gefällt mir nicht«, murmelte er vor sich hin, als er sich mühsam erhob, um das Licht einzuschalten.

Er verbrachte den Abend mit der Prüfung seines Bankbuches. Sie fiel sehr zufriedenstellend aus. Er hoffte, daß er etwas mehr herausdrücken könnte, und dann –


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