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12

Mr. Marl mußte durch die Bank gehen. Er schaute die beiden Pultreihen entlang, aber er konnte das Mädchen nicht entdecken, das er suchte. Erst am Ende des Schalterraums sah er ein kleines Abteil, das durch undurchsichtiges Glas geschützt war. Die Tür stand offen, und er konnte Thalia Drummond flüchtig sehen. Sofort trat er näher, während ihn eine andere Stenotypistin neugierig beobachtete.

Thalia Drummond blickte von ihrem Schreibtisch auf und sah in Marls lächelndes Gesicht.

»Sind Sie beschäftigt, Miß Drummond?«

»Sehr«, antwortete sie, ohne an seiner Aufdringlichkeit Anstoß zu nehmen.

»Hier gibt es wohl nicht viel Spaß?«

»Nicht besonders viel.« Ihre dunklen Augen schätzten ihn ab.

»Wie wäre es, wenn wir einmal abends zusammen speisten und dann ins Theater gingen?«

»Sie scheinen ja gefährlich zu sein. Aber ich speise abends gerne gut.«

Er grinste und freute sich über die gelungene Eroberung.

»Wie wäre es mit ›Moulin Gris‹?« Er zweifelte nicht daran, daß ihr dieses Lokal angenehm sein würde.

Aber sie lächelte verächtlich.

»Warum nicht gleich ein Apachenrestaurant? Für mich kommt nur das Ritz-Carlton in Betracht, weiter nichts.«

Mr. Marl schaute sie verblüfft an, aber innerlich war er doch zufrieden.

»Die geborene Prinzessin«, erwiderte er strahlend. »Sie sollen ein königliches Essen haben! Wie ist es mit heute abend?«

Sie nickte.

»Kommen Sie um halb acht zu meinem Hause, Marisburg Place, Bayswater Road. Mein Name steht an der Tür.«

Er machte eine kleine Pause, weil er Widerspruch erwartete; aber zu seinem Erstaunen nickte sie wieder.

»Auf Wiedersehen, mein Schatz.« Kühn warf er ihr eine Kußhand zu.

»Schließen Sie die Tür«, sagte Thalia und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Aber sie wurde bald wieder gestört. Die Stenotypistin, die Mr. Marl beobachtet hatte, kam herein. Thalia lehnte sich in ihren Stuhl zurück, als das Mädchen die Tür sorgfältig hinter sich schloß und sich hinsetzte.

»Was beißt Sie denn?« begrüßte sie ihre Kollegin in wenig gewählter Sprache. Ihre Ausdrucksweise paßte so wenig zu ihrem feinen, zarten Gesicht, daß Milly Macroy sie nicht zum erstenmal verwundert ansah.

»Wer ist denn dieser alte Kerl?« fragte sie.

»Ein Verehrer«, erklärte Thalia ruhig.

»Sie können die Leute aber scharf machen«, meinte Milly etwas neidisch. Dann trat eine kleine Pause ein.

»Nun?« fragte Thalia. »Was wollen Sie denn eigentlich?«

»Ich will eine offene Aussprache mit Ihnen haben.«

»Offene Aussprachen sind mir wie tägliches Brot«, entgegnete Thalia.

»Können Sie sich an das Geld erinnern, das am vergangenen Freitag eingeschrieben an die Sellinger Korporation gesandt wurde?«

Thalia nickte.

»Die Gesellschaft behauptet, daß die Sendung bei der Ankunft nur Papier enthielt.«

»Was Sie nicht sagen! Mr. Brabazon hat mir davon noch nichts mitgeteilt.« Sie wich dem forschenden Blick Millys keine Sekunde aus.

»Ich habe das Geld in den Umschlag getan«, sagte Milly Macroy langsam, »und Sie mußten es nachzählen. Nur Sie und ich hatten damit zu tun, und eine von uns beiden hat das Geld geklaut. Und ich schwöre, daß ich es nicht war.«

»Dann muß ich es wohl gewesen sein«, erwiderte Thalia mit einem unschuldsvollen Lächeln. »Wissen Sie auch, daß Sie eine sehr ernste Anklage gegen mich erheben?«

Milly bewunderte Thalia immer mehr.

»Sie sind so ausgekocht wie keine andere! Aber nun wollen wir einmal unsere Karten auf den Tisch legen. Vor einem Monat, kurz nach Antritt ihrer Stellung hier, fehlte am Schalter für ausländische Devisen eine Hundertpfundnote. Ich weiß zufällig, daß Sie den Schein hatten, und daß er bei Bilbury auf dem Strand gewechselt wurde. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die Nummer nennen.«

Thalia runzelte die Stirne.

»Wer sind Sie denn? Eine Kriminalbeamtin? Himmel, dann bin ich erledigt!«

Der offenkundige Spott in ihren Worten verwirrte Milly.

»Ihr Gehirn ist wohl eingefroren?« Sie beugte sich vor. »Diese Sellinger Geschichte kann noch ein böses Nachspiel haben. Sie werden alle Freunde brauchen, die Sie nur auftreiben können.«

»Wenn es darauf ankommt, geht es Ihnen ebenso«, entgegnete Thalia kühl. »Sie haben das Geld in der Hand gehabt.«

»Und Sie haben es genommen. Wir wollen uns nicht darüber streiten. Wenn wir zusammenhalten, wird aus der ganzen Geschichte nichts – ich kann darauf schwören, daß der Umschlag in meiner Anwesenheit versiegelt wurde, und daß das Geld darin war.«

Thalia lachte leise.

»Gut«, sagte sie und zuckte die Schultern. »Wollen wir es dabei lassen. Aber nun wollen Sie mich wohl um eine Gefälligkeit bitten, da Sie mich vom Untergang gerettet haben? Ich will Sie auch wegen des Geldes beruhigen. Ich nahm es, weil ich sehr gute Verwendung dafür hatte. Ich brauche häufig Geld, und in der letzten Zeit sind viele Diebstähle auf der Post vorgekommen. Also, nun schießen Sie los.«

Milly Macroy, die in der Verbrecherwelt gut bekannt war, starrte Thalia verblüfft an.

»Wirklich geeicht, gekocht und durchgesiebt! Aber hören Sie, diese kleinen Diebstähle müssen unterbleiben, sonst verderben Sie noch eine wirklich große Sache. Das kann ich nicht mit ansehen. Wenn Sie daran beteiligt sein wollen, müssen Sie sich an Leute halten, die großzügig arbeiten – verstehen Sie?«

»O ja. Wer sind denn Ihre Mitarbeiter?«

»Ein Freund von mir hat Sie in den letzten beiden Wochen beobachtet und meint, Sie wären ein tüchtiges Mädel, das ohne große Mühe viel Geld verdienen könnte. Ich sprach mit ihm über die andere Sache, und er möchte gern einmal mit Ihnen zusammenkommen.«

»Noch ein Verehrer?« Thalia zog die Augenbrauen hoch.

Millys Gesicht verfinsterte sich.

»Daraus wird nichts, merken Sie sich das«, erwiderte sie entschlossen. »Ich bin sozusagen mit ihm verlobt.«

»Der Himmel soll mich davor bewahren, zwei liebende Herzen zu trennen!«

»Lassen Sie Ihre ironischen Bemerkungen gefälligst. Es handelt sich hier um ein richtiges Geschäft. Kommen Sie nach Geschäftsschluß mit, dann essen wir zusammen.«

»Lauter Einladungen zum Essen«, murmelte Thalia vor sich hin.

Milly Macroy hatte eine schnelle Auffassungsgabe und erriet die Wahrheit sofort.

»Hat der Alte Sie auch zum Essen eingeladen? Das ist aber Glück!« Sie pfiff vor sich hin, und ihre Augen leuchteten auf. »Er hat durch Geldausleihen ein Vermögen verdient. In ein oder zwei Wochen laufen Sie bestimmt mit einem Brillantkollier herum!«

Thalia richtete sich auf und griff wieder zu ihrer Feder.

»Also gut, wir können heute abend zusammen essen«, sagte sie und machte sich wieder an die Arbeit.

Milly blieb aber noch stehen.

»Sie erzählen doch dem Herrn nicht, was ich über unsere Verlobung gesagt habe?«

»Brab klingelt«, erwiderte Thalia und nahm Stenogrammheft und Bleistift. »Ich erwähne nichts – Sie können unbesorgt sein. Märchen liebe ich sowieso nicht.«

Milly Macroy sah ihr mit einem wenig freundlichen Gesicht nach.

Mr. Brabazon saß an seinem Schreibtisch, als Thalia hereinkam, und übergab ihr einen versiegelten Umschlag.

»Lassen Sie das durch Boten überbringen«, sagte er.

Thalia schaute auf die Adresse und nickte. Dann betrachtete sie Mr. Brabazon plötzlich mit neuem Interesse. Der Rote Kreis setzte sich wirklich aus Menschen der verschiedensten Klassen zusammen.


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