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20

»Ich dachte, Sie sind ein tüchtiger Detektiv – aber Sie sind ein Idiot!«

Mr. Froyant befand sich in einem Zustand unbeschreiblicher Angst und Wut, denn vor ihm auf dem Schreibtisch lagen die ansehnlichen Stöße von Banknoten, von denen er sich trennen sollte. Der Gedanke, dieses Geld weggeben zu müssen, bereitete ihm wahre Folterqualen. Es war ihm beinahe unmöglich, dieses Vermögen auch nur für kurze Zeit aus den Augen zu lassen.

Derrick Yale war ein Mann, den man schwer beleidigen konnte.

»Vielleicht haben Sie recht«, erwiderte er, »aber ich muß mein Geschäft nach meinen Prinzipien führen, Mr. Froyant. Und wenn ich der Meinung bin, daß mich das Mädchen zum Roten Kreis führen kann, dann beschäftige ich sie eben bei mir.«

»Denken Sie an meine Worte! Sie gehört zu der Bande, und bestimmt ist sie der Bote, der das Geld abholt!«

»In diesem Fall wird sie festgenommen. Glauben Sie mir, Mr. Froyant, ich habe nicht die geringste Absicht, diese Scheine aus den Augen zu verlieren. Wenn sie vom Roten Kreis genommen werden, so trage ich und nicht Sie die Verantwortung. Meine Pflicht ist es, Ihr Leben zu retten und die Rache des Kreises von Ihnen auf mich abzulenken.«

»Ganz recht«, entgegnete Mr. Froyant hastig. »Sie sehen die Sache vollkommen richtig an. Sie sind doch nicht so unverständig, wie ich dachte. Machen Sie es nur, wie Sie wollen.« Er spielte liebevoll mit den Banknoten, steckte sie in einen großen Umschlag und übergab sie dann höchst widerwillig dem Detektiv. »Über Brabazon hört man nichts Neues? Der Schuft hat mich um mehr als zweitausend Pfund gebracht, die ich dummerweise in einer der faulen Gesellschaften von Marl anlegte.«

»Wissen Sie etwas Näheres über Marl?« fragte Yale, als er die Tür öffnete.

»Ich weiß nur, daß er ein Erpresser war.«

»Haben Sie keine Ahnung, wie er angefangen hat, und wo er hergekommen ist?« fragte Yale geduldig.

»Ich glaube, er ist aus Frankreich gekommen. Aber ich weiß wirklich sehr wenig über ihn. Übrigens hat mich James Beardmore mit ihm bekannt gemacht. Es wurde erzählt, er wäre in Frankreich in Grundstücksschwindeleien verwickelt gewesen und hätte dort im Gefängnis gesessen. Aber ich achte niemals auf Klatsch. Mir war er sehr nützlich, ich habe ganz anständig bei ihm verdient.« –

Yale wurde in seinem Büro schon von Parr und Jack Beardmore erwartet. Auf den Besuch des jungen Mannes war er nicht vorbereitet, vermutete aber, daß Thalia Drummond die Anziehungskraft gewesen war.

»Ich habe Miß Drummond nach Hause geschickt«, entschuldigte er sich. »Sie soll nicht in diese Geschichte verwickelt werden. Es mag vielleicht etwas grob zugehen.«

»Welchen Plan haben Sie?« fragte Parr.

»Kurz bevor der Bote erscheinen soll, werde ich in mein Zimmer gehen. Die Türen nach dem Gang und nach diesem Zimmer schließe ich ab. An dieser Tür lasse ich den Schlüssel auf Ihrer Seite und bitte Sie, mich einzuschließen. Ich will dadurch eine Überraschung verhindern. Sobald Sie hören, daß angeklopft wird, und daß ich aufstehe, um zu öffnen, wissen Sie, daß der Besucher gekommen ist. Und wenn ich die Tür wieder geschlossen habe, stellen Sie sich draußen auf dem Gang auf.«

Der Inspektor nickte.

»Das scheint einfach genug zu sein«, meinte er, ging an das Fenster und winkte mit dem Taschentuch.

Yale lächelte zustimmend.

»Ich sehe, daß Sie die nötigen Vorbereitungen getroffen haben. Wieviel Leute haben Sie da?«

»Ich glaube achtzig. Sie werden das Haus umzingeln.«

Yale nickte.

»Der Rote Kreis kann allerdings auch einen ganz gewöhnlichen Eilboten schicken. In diesem Fall muß der Mann natürlich verfolgt werden. Das Geld soll in die Hände des Führers gelangen – das ist wesentlich.«

»Ganz meine Meinung«, erwiderte Parr. »Aber ich habe eine Ahnung, daß der Herr nicht selbst kommen wird. Kann ich mir Ihr Büro einmal ansehen?«

Er trat ein und schaute sich das Zimmer an. Es wurde durch ein Fenster erhellt. Parr öffnete den Wandschrank, der in einer Ecke stand. Es hing nur ein Mantel darin.

»Wenn Sie nichts dagegen haben«, bat er fast unterwürfig, »möchte ich einen Augenblick gern hier allein sein. Danke, ich will die Tür hinter Ihnen schließen. Es verwirrt mich, wenn ich beobachtet werde.«

Lachend entfernte sich Yale, und der Inspektor schloß die Tür hinter ihm. Dann öffnete er die zweite Tür, die auf den Gang hinausführte, und schaute hinaus. Bald schloß er auch diese wieder.

»Sie können wieder hereinkommen«, sagte er. »Ich habe alles gesehen, was ich zu sehen wünschte.«

Der Raum war einfach, aber behaglich eingerichtet. In dem großen Kamin brannte kein Feuer, obgleich es etwas kühl war.

»Ich erwarte nicht, daß er durch die Esse entflieht«, sagte Yale belustigt, als er die Untersuchung des Detektivs bemerkte. »Ich lasse hier nicht heizen, denn ich gehöre zu den heißblütigen Menschen, die niemals wirklich frieren.«

Jack hatte alles interessiert beobachtet und hob jetzt den kleinen Revolver auf, der auf dem Tische des Detektivs lag.

»Seien Sie vorsichtig«, sagte Yale.

Er nahm den Umschlag mit den Banknoten aus seiner Tasche und legte ihn neben die Waffe. Dann schaute er auf seine Uhr.

»Es wird allmählich Zeit«, meinte er.

Parr und Jack begaben sich in das äußere Büro, schlossen Mr. Yale ein und setzten sich.

Jack dachte darüber nach, ob Thalia wohl dem Roten Kreise angehörte. Er biß die Zähne zusammen. Er konnte und wollte nicht einmal den Beweisen glauben, die ihm seine eigenen Augen und sein gesunder Menschenverstand lieferten. Sie war ein ungewöhnliches Mädchen, und wenn sie doch schuldig sein sollte – – –

Er blickte plötzlich auf, weil er fühlte, daß Parr ihn ansah.

»Ich will nicht behaupten, daß ich auch psychometrisch veranlagt bin«, sagte der Detektiv langsam, »aber ich glaube doch, daß Sie eben an Thalia Drummond dachten.«

»Ja, das stimmt«, gab Jack zu. »Glauben Sie wirklich, daß sie so schlecht ist, wie es den Anschein hat?«

»Sie meinen, ob sie Froyants Buddhafigur gestohlen hat? Daran ist gar kein Zweifel.«

Jack schwieg. Er konnte nicht hoffen, diesen hartnäckigen Mann von der Unschuld des Mädchens zu überzeugen. Aber eigentlich konnte er sie doch wirklich nicht mehr für unschuldig halten, nachdem sie selbst ihr Vergehen eingestanden hatte!

Die beiden saßen eine Weile schweigend. Mr. Yale bewegte sich in seinem Zimmer, aber dann wurde auch er ruhig, als der angegebene Zeitpunkt immer näher rückte. Der Inspektor zog seine Uhr aus der Tasche und legte sie neben sich auf den Tisch. Die Zeiger wiesen auf halb vier. Der Bote war jetzt fällig, und Parr saß mit vorgeneigtem Kopf und horchte.

Plötzlich kam ein dumpfes Geräusch aus Yales Zimmer, als ob er sich schwerfällig hingesetzt hätte.

Parr sprang auf.

»Was war das?«

»Alles in Ordnung«, sagte Yales Stimme. »Ich bin über etwas gestolpert. Seien Sie ruhig.«

Sie blieben noch weitere fünf Minuten sitzen.

»Ist alles in Ordnung?« rief Parr dann wieder.

Es kam keine Antwort.

»Yale!« rief er noch lauter. »Hören Sie mich?«

Als keine Erwiderung kam, sprang er zur Tür, schloß sie auf und stürzte in das Zimmer. Jack folgte ihm.

Derrick Yale lag bewegungslos auf dem Boden. Seine Handgelenke waren von Handschellen umspannt, seine Füße zusammengebunden, und über sein Gesicht war ein Handtuch geworfen. Das Fenster stand offen, aber es machte sich noch ein starker Geruch von Chloroform und Äther bemerkbar. Das Geldpaket, das auf dem Tisch gelegen hatte, war verschwunden.

Drei Sekunden später verließ ein alter Briefträger das Gebäude, der einen Briefsack auf dem Rücken trug. Die Polizeibeamten, die das Haus umstellt hatten, ließen ihn passieren, ohne eine Frage zu stellen.


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