Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

21.

Er war wie gelähmt; allein endlich hatte er es doch über das Herz gebracht, ihr den letzten Liebesdienst zu erweisen.

Dann, ohne den Mut zu finden, es den andern zu sagen, setzte er sich an den Tisch, stützte den Kopf in die Hände und schluchzte auf in wilder, endloser Qual.

Noch lag Haß in seinem Herzen gegen den Mann, der eben hier eingedrungen war, den er von der Schwelle des Zimmers hatte fortweisen müssen.

Er war es ja gewesen, der ihm alles geraubt hatte, seinen Glauben, seine Liebe; so daß der Tod ihn jetzt nicht mit Schmerz, sondern nur mit Entsetzen erfüllen konnte, daß er ihn fast wie eine Erlösung willkommen hieß. –

Hinter seinem Rücken hatte sich der Tod eingeschlichen. Während er sich um seine aufgeregte Schwester gesorgt hatte, war seine Mutter gestorben.

Vielleicht hatte sie noch gehört, wie abwehrend er seinem Vater entgegengetreten war. –

Die ganze Welt schien ihm aus den Fugen zu sein. Er wußte nicht mehr, was Recht und was Unrecht war. Alles um ihn herum war zusammengebrochen, und nun stand er allein da und kannte sich nicht mehr aus in dieser fremden Welt, die ihn mit Angst und Grauen erfüllte.

Nun war die Mutter tot. Sie nahm das Geheimnis mit ins Grab. Allein in seinem Herzen stand es aufgerichtet, drohend, und marterte und quälte ihn und ließ ihm nicht einen Augenblick Ruhe.

Während er so im Sessel saß und nachgrübelte, fiel sein Blick durch die weit offenstehende Tür auf den zierlichen Schreibtisch.

Dort hatte er einst den Brief gefunden.

Dort lag noch alles wie damals, wirr durcheinander.

Wenn jemand die Briefe fand! –

Nein! … Das durfte nicht sein.

Es war seine Pflicht, jetzt die Briefe zu vernichten, alle! – so schnell als möglich.

Er ging auf den Schreibtisch zu, und wie gestern Nacht – nur diesesmal mit vollem Bewußtsein – tastete er an den Schubfächern herum.

Er sah bald, so konnte er die Schreibklappe nicht öffnen. Mit roher Gewalt – das erweckte Verdacht. Und das durfte nicht sein. Um keinen Preis!

Den Schlüssel trug die Mutter stets bei sich.

Er mußte also …

Der Gedanke durchfuhr ihn mit Schaudern.

Das hieß, sich an der Toten vergreifen!

Er wollte rufen. Sie sollten wissen, daß seine Mutter nicht mehr war. Man würde den Schlüssel finden, und dann bot sich schon eine Gelegenheit.

Doch nein! – noch sollte kein Mensch etwas erfahren.

Solange es niemand wußte, schien ihm, als habe er sie noch nicht ganz verloren. –

Es war alles so still. Sie gingen ahnungslos ihren Geschäften nach, und ein einziges Wort würde genügen, um sie alle aufzurütteln; wie ein Gedanke genügt hatte, um aus ihm einen anderen Menschen zu machen.

Er mußte den Schlüssel haben, ehe sie kamen.

Aber er traute sich nicht in das Zimmer zurück, wo die Tote lag.

Endlich entschloß er sich. Es mußte sein!

Nun stand er vor dem Lager. –

Er sah die feine, rote Schnur, an der der Schlüssel hing, wie sie sich abzeichnete auf dem bleichen Halse, gleich einem schmalen Blutstreifen.

Er überwand sein Grauen.

Er zerrte an der Schnur, aber sie gab nicht nach.

Der Schlüssel mußte sich verhakt haben.

Seine Hände zitterten.

Endlich zerriß die Schnur, aber die Bewegung war so heftig, daß ihm schien, die Tote rege sich.

In bangem Entsetzen stürzte er aus dem Zimmer.

Er hatte den Schlüssel. –

Und dabei quälte ihn die Vorstellung, als habe er eben einen grauenvollen Frevel begangen …

Er mußte warten, bis er sich darüber beruhigt hatte.

Endlich öffnete er die Schublade. –

Eine Fülle von Briefen quoll ihm entgegen.

Er sah, daß sie von verschiedenster Hand waren, allein er hatte nicht die Geduld, sie zu sondern.

Er wollte von dem Inhalte nichts wissen.

Mochte drin stehen, was wollte.

Er ergriff die Briefe, eine Handvoll, wie er sie faßte, und ging zum Kamin, um sie in die Flammen zu werfen.

Immer wieder mußte er den Weg vom Kamin zu dem Schreibtische machen.

Hie und da entfiel seinen bebenden Händen ein Brief, und er mußte die zerstreut liegenden wieder auflesen.

In seinem Fache, zuunterst, lag eine Photographie. Als er sie umkehrte: Reinhold Petri! –

Einen Augenblick zauderte er, dann warf er auch die in den Kamin.

Er setzte sich in einen Sessel vor den Kamin und sah dem Zerstörungswerke zu.

Das Feuer war unter der Masse der Briefe fast erstickt.

Nur an den Seiten schwelten kleine Flämmchen und leckten an den Ecken der überragenden Blätter.

Mit dem Haken mußte er die Glut wieder frei machen, er wühlte in dem Stoß Papier, und dann brach die Flamme endlich durch.

Langsam begann sie ihre Arbeit.

Ein dichter, grauer Qualm drang in das Zimmer.

Denn der Wind fuhr heulend in dem Kamin herab, daß die Funken nach allen Seiten schlugen.

Einzeln mußte er die Briefe wieder in die Glut schieben, bis dicke graue und schwarze, sich zusammenknüllende Flocken zurückblieben, die er immer wieder bei Seite schob, damit die Flamme durch konnte.

Es war eine langsame, qualvolle Mühe.

Einen Augenblick vergaß er darüber, daß nebenan die Tote lag, einsam und verlassen.

Seine Blicke wandten sich nicht von dem Zerstörungswerke ab.

Endlich war der letzte Brief verkohlt.

Und nun legte er frisches Holz auf, damit man nichts merkte, und öffnete die Fenster, daß der ekle Qualm abziehen konnte. –

Der Schreibtisch stand noch auf.

Er verschloß ihn und warf dann den kleinen Schlüssel mit in die Glut.

Es sollte nichts übrig bleiben. –

Ihm war, als sei er endlich von einer beängstigenden Qual befreit.

Er hatte seine Mutter gerettet. – Er hatte ihr versprochen, daß nie ein Mensch etwas erfahren sollte, daß vor allem der Mann, der ihm Vater gewesen war, nie die Wahrheit ahnen solle.

Das Bewußtsein, durch sein Schweigen ein grausames Geheimnis zu bewahren, verlieh ihm Kraft über sich selbst. –

Er hatte seine Mutter verloren. –

Nicht der Tod hatte sie ihm genommen.

Seit er nicht mehr an sie glauben konnte, hatte er sie verloren.

Er hatte Mignon geliebt. Und es war seine Schwester. Es galt jetzt, sich die Schwester zu gewinnen.

Droben der hilflose Kranke. Auch für ihn mußte er weiter leben, mußte er schweigend dulden.

Der andere, der sein Vater sein sollte, galt ihm nichts.

Er konnte nichts für ihn fühlen. Er wußte, daß er ihm immer ein Fremder bleiben würde …

Seine Mutter! – Wie hatte er sie geliebt, abgöttisch, maßlos.

Nur für sie, in der Liebe zu ihr hatte er gelebt.

Dann war er aufgeschreckt aus seinem Traum. Und das Bild seiner Mutter sank in den Staub.

Würde er je die Kraft haben, es wieder aufzurichten? jemals? –

Nebenan lag die Tote.

Der Mund, der ihm so manches liebe Wort gesagt hatte, der mit seinen letzten Worten ihn … ihn jammernd um Verzeihung angefleht hatte, war auf ewig verstummt.

Sie war gegangen und hatte ihn allein gelassen. –

Wie grauenhaft still es war! …

Nur die frischen Scheite im Kamin regten sich zuweilen knackend und feuerknisternd.

Was war ihm jetzt noch das Leben.

Er trat ans Fenster und preßte die fieberheiße Stirn an die kalten Scheiben.

Droben pochte es …

Es war der Vater, der mit dem Stock auf den Boden stieß, damit man ihn hören solle.

Es klang wie das laute Klopfen eines Totenwurms. –

Wie sollte er ihm sagen, daß sie tot sei, seine Mutter! …

Wie würde der alte, gebrochene Mann es aufnehmen?

Er selbst war noch so jung. Ein ganzes Leben voller Kampf, voll weher Herzenseinsamkeit lag vor ihm.

Die Zukunft breitete sich farblos vor ihm aus, wie die kühle Schneedecke da draußen, die immer dichter und dichter wurde. –

Unaufhörlich wirbelten die tanzenden weißen Flocken vom Himmel und kreisten wirr durcheinander.

Der Wind trieb sein neckisches Spiel mit ihnen, griff sie vom Boden auf, warf sie in die Luft und jagte sie weiter und weiter. –

Unaufhörlich, ohne Ende, fielen immer neue herab.

Der Himmel wob der frosterstarrten toten Erde ein fleckenloses, weißes Leichentuch, unter dem alles Lebendige begraben wurde, bis daß der neue Frühling neues Leben weckte …


 << zurück weiter >>