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Die Morgensonne lag breit und ruhig auf dem Pariser Platze, auf dem ein roter Sprengwagen langsam schläfrig seine nassen Kreise zog.
Vereinzelt zwängte sich eine Equipage oder eine Droschke durch die grauen Riesenpfeiler des Brandenburger Tores.
Auf der schattigen Südseite der Linden einige spärliche Fußgänger. –
Fritz Lautner war mit Wurm, der sich für alles, was bildende Kunst hieß, in helle Begeisterung redete, im Neubau des Reichstagsgebäudes gewesen, wo einer ihrer Bekannten arbeitete.
Sie schlenderten jetzt langsam der Friedrichstraße zu.
Vor den Schaufenstern einer Kunsthandlung blieben sie stehen, um sich die neuausgestellten Gemälde zu betrachten.
Lautner warf einige seiner boshaften Bemerkungen hin, als ihn Wurm anstieß und sie sich beide umwandten, um Willy Braun zu grüßen, der mit einer Dame aus der Wilhelmstraße kam.
Die Dame trug ein schlichtes graues Kleid von tadellosem Sitz.
Sie war schlank, fast zu zart gewachsen und reichte ihrem Begleiter kaum bis zur Schulter.
Als sie die beiden jungen Leute bemerkte, nickte sie ihnen freundlich zu, wobei Wurm ein schmales, etwas bleiches Gesicht zu sehen bekam, in dem zwei große dunkle Kinderaugen zu brennen schienen.
Alles an ihr war zierlich, dennoch aber Haltung und Gang stolz und kraftvoll. In der jugendlichen Toilette, dem enganschließenden Kleide hatte sie etwas durchaus Mädchenhaftes, erst wenn man genauer aufachtete, war es nicht schwer zu erkennen, daß sie älter sein mußte, als sie aussah.
Wurm sah ihr unauffällig nach, wie sie leicht und sicher elegant dahinschritt und jetzt am Ende der Häuserreihe den hellen Sonnenschirm aufspannte.
»War das die Schwester von Braun?«
»Seine Schwester?« fragte Lautner erstaunt. »Ach so – es ist zu merkwürdig … aber kein Mensch hält die Dame je für das, was sie wirklich ist.«
»Für was denn?«
»Für Willys Mutter.«
»Seine Mutter? … Seine Stiefmutter?«
»Gott bewahre! Seine richtige Mutter. Sie sehen sich doch ähnlich wie ein Ei dem andern.«
»Seine richtige Mutter? …«
»Natürlich! – Frau Doktor Braun ist jetzt – warten Sie mal – ja, sieben- oder achtunddreißig. Jawohl, mein Verehrtester, sehen Sie mich nur so an. Man sieht ihr das gewiß nicht an, aber es muß wohl so sein.«
»Das hätte ich nicht geglaubt.«
»Und hätten diesen Unglauben mit vielen geteilt. Willy beträgt sich ihr gegenüber auch kaum wie zu einer Mutter, fast wie verliebt. Ich habe selten ein herzlicheres Verhältnis gesehen als zwischen den beiden. Die machen meine neulich aufgestellten pessimistischen Paradoxe völlig zuschanden.«
»Das kann ich mir denken.«
»Er vergöttert sie fast, und das ist gefährlich. Er wird mir allzusehr zum Muttersöhnchen, immer an der Schürze, und vergibt seiner Individualität zu viel. Er tut ja keinen Schritt, ehe sie ihm nicht ihren Rat erteilt hat, – und das gefällt mir nicht. Es wäre gut, wenn er mal von Berlin fort käme, in andere Verhältnisse, und ihr nicht immer auf dem Schoße hocken könnte.«
»Er ist doch noch so jung.«
»Ach was, jung! Man kann gar nicht früh genug flügge werden. Nehmen Sie mich mal an: Ich habe solch eine Verzärtelung und Verpäppelung nie gekannt, und ich denke, es ist mir vorzüglich bekommen.«
»Sie sind gut bekannt bei Brauns, Lautner – nicht?«
»O ja! – Sie haben draußen in Charlottenburg 'ne riesig nette Villa. Ich kenne die Familie eigentlich durch Professor Reinhold Petri. – Das Haus liegt schräg gegenüber, und er geht bei ihnen ein und aus, – ich lasse mich dreimal hängen, wenn sich nicht in all seinen Arbeiten irgendein Zug findet, der an die schöne Frau Braun erinnert. Das scheint ihm ganz in Fleisch und Blut übergegangen zu sein.«
Sie waren bis zur Friedrichstraße gekommen und mußten wegen einer Wagenstockung ein paar Augenblicke vor Kranzler stehen bleiben.
Nach einer Weile fragte der Musiker:
»Brauns haben eine chemische Fabrik, nicht?«
»Ja! Das heißt: gehabt! Vor kurzem wurde der ganze Krempel verkauft. Mich wundert eigentlich, daß Willy Jurist geworden ist, statt die Fabrik zu übernehmen. Er interessiert sich doch für solche Sachen sehr. – Ich würde mich keinen Augenblick bedenken, wenn ich vor der Wahl stände. Ich glaube, die Frau Mama hat da mal wieder die zarte Hand im Spiele gehabt. Er soll was werden, darauf gibt sie kolossal. Und dann ist es auch verzeihlich, seit der Doktor das Unglück mit 'nem Experimente gehabt hat, das beinah ganz schief ausgegangen wäre. Das ist sicher nicht ohne Einfluß geblieben. Uebrigens, wenn Sie das so interessiert, können wir dieser Tage mal hinausgehen, wenn Braun draußen ist, an irgend 'nem Sonn- oder Feiertage. Er hat Sie doch schon lange eingeladen. Meinetwegen nächsten Sonntag, wenn es Ihnen recht ist.«
»Aber gewiß, mit Vergnügen.«
»Sie gehen jetzt zur Bibliothek?«
»Ja, ich habe mir ein paar Sachen in den Lesesaal bestellt. Die verfallen sonst heute.«
»Na, dann auf Wiedersehen! – Also es bleibt dabei, nächsten Sonntag.«
»Schön! … Auf Wiedersehen!«
*
Inzwischen war Willy mit seiner Mutter langsam die Ahornallee entlang gegangen, um sie zur Tiergartenstraße zu begleiten, wo sie einer Freundin einen Besuch machen wollte.
Die Begegnung mit den beiden Freunden hatte in ihm die Erinnerung an ihre Fahrt auf dem Wannsee wachgerufen, und er grübelte aufs neue über die fast beleidigend gleichgültigen Worte nach, die Lautner damals hingeworfen hatte.
Schon am folgenden Tage, als er seiner Mutter gegenübertrat, hatte er lächeln müssen – das war nicht möglich, daß eine Frau zugleich eine grausame Geliebte und eine zärtliche Mutter sein konnte. Und wenn es auch solche Wesen geben mochte, was brauchte er sich darüber den Kopf zu zerbrechen? –
Und über jene Bemerkung Lautners, die ihm Wurm voller Entrüstung nachher mitgeteilt hatte: jede Mutter sei doch schließlich das Weib ihres Mannes, ging er hinweg, weil er kein Verständnis dafür besaß. Und so schritt er neben der Mutter hin, unter den Laubgängen des Tiergartens, in dieser ruhigen Vormittagsstimmung, die hier träumte.
Wie zärtlich er auf sie niederblickte, – während sie neben ihm hinschritt und manch ein Blick ihnen folgte.
Sie mußte zu ihm aufsehen, denn er war um mehr als einen Kopf größer als sie, und sie wunderte sich zuweilen, daß dieser große breitschultrige Junge, dieser sehr ansehnliche Herr, vor dem alle Welt einen ziemlichen Respekt hatte, ihr Kind sei, … ihr Kind!
Wenn sie sich dagegen hielt mit ihrem zarten, schlanken Körper, den feinen, gebrechlichen Gliedern, die sich trotz ihres Alters wie ein Kind vorkam, – dann mußte sie lächeln; aber es war ein Gefühl von Stolz und unnennbarem Glücke, das sie erfüllte.
Er hatte nie vor ihr den gehörigen Respekt gehabt, vor seiner kleinen Mama, die er schon als fünfzehnjähriger Junge durch den ganzen Garten trug, und die er mit einer scherzenden Naivität, die er einmal, er wußte selbst nicht, wie er dazu kam, mit ihrem Vornamen nannte: mein kleines Annerl, oder auch Frau Doktorchen.
Sie hatten fast immer wie zwei Kinder miteinander gespielt, und als er älter wurde, wurden sie wie zwei gute Freunde und Kameraden.
Sie hatte jung geheiratet, als sie kaum das Spielzeug aus der Hand gelegt, und deshalb alberte sie mit dem kleinen Willy genau so wie kurz zuvor noch mit ihren Puppen.
Was sollte sie auch sonst beginnen? – Sie hatte so gar nichts zu tun. Vom Hauswesen verstand sie nicht das geringste. Sie sollte sich auch nicht darum kümmern, das wollte Braun nicht. Dazu hatte man seine Leute. Und sie fühlte auch keine Neigung, sich in der Küche aufzuhalten oder frische Wäsche einzuzählen. Der Geruch schon verursachte ihr Kopfschmerzen.
Wenn sie nicht Besuche machte, was in den ersten Jahren ihrer Ehe geradezu eine Leidenschaft von ihr war, so ging sie oft den ganzen Vormittag langsam, ganz langsam im Garten spazieren, oder sie ließ sich zwischen den Bäumen, ganz hinten, an einer recht schattigen Stelle ihre englische Hängematte befestigen, und dort sich leise wiegend verträumte sie die Stunden.
Meist war sie so träge, daß selbst der neueste und spannendste Roman tagelang sich unaufgeschnitten umhertrieb, und das gelbe Buch, denn meist war es ein Franzose, wiederholt draußen im langen Grase gefunden wurde, manchmal von einem plötzlichen Regenschauer völlig wie in eine Schmutzmasse verwandelt. –
Willy kannte seine Mutter nicht anders, als daß sie ihre Zeit verträumte, und als er noch kleiner war, erzählte sie ihm ihre Träume; aber sie waren immer so seltsam phantastisch, daß er sie nie recht verstand, und immer, wenn sie eine Geschichte anfing, ward stets eine ganz andere daraus, mit ganz anderen, fremden Personen.
Wenn er sie dann erstaunt ansah, nahm sie ihn in die Arme, und lachend über sich selbst und seine fragenden Augen herzte und küßte sie ihn, bis auch er anfing zu jubeln, und dann wirbelte sie ihn übermütig durch das Zimmer, bis sie wieder müde geworden war.
Hie und da hatte sie wohl eine leichte Stickerei zur Hand genommen, aber niemals hatte er gesehen, daß eine dieser Arbeiten fertig geworden war.
Das dauerte oft Wochen und Monate, während deren sie sich in allen Ecken und Winkeln umhertrieben, bis sie zu schmutzig waren, als daß sie weiter daran arbeiten konnte.
Dann wurden sie fortgelegt oder beiseitegeworfen, und nach langer, langer Zeit ward eine neue angefangen, der es nach geraumer Weile nicht besser erging.
Willy hatte sich dermaßen daran gewöhnt, sie unbeschäftigt zu sehen, daß, wenn sie anfing zu arbeiten, er ihr lachend die Stickerei aus den Händen wand: sie sollte mit ihm plaudern und sich nicht ihre schönen, weißen Finger zerstechen. –
Als er auf die Universität und damit in neue, ihnen beiden ganz fremde Verhältnisse kam, fing er an, ihr alles zu erzählen, was sie nur irgend interessieren konnte; und alles interessierte sie, selbst die geringfügigste Kleinigkeit.
Er bemühte sich, ihr seine Bekannten, seine Lehrer zu schildern, und gewöhnte sich dabei, ihre Schwächen stets etwas zu karikieren, bis sie zu lachen anfing; dann erst war er zufrieden.
Er hörte sie so gern lachen; es klang so rein und hell, so kindlich vergnügt, daß es ihm die schönste Aufgabe schien, sie zum Lachen zu bringen.
Wo er ihr eine Freude bereiten konnte, tat er es.
Wenn er in diese lieben guten Augen sah, begriff er nicht, wie jemand ein böses Wort über die Frauen sagen konnte.
Jedenfalls war sein Mütterchen die edelste, liebste und beste Frau, die es auf der weiten Welt gab.
So leicht würde er Lautner nicht verzeihen, was er an jenem Tage gesagt hatte. Bei Gelegenheit wollte er ihm seine Meinung gründlichst sagen. –
Er war mit der Mutter in die Siegesallee eingebogen, und sie schritten jetzt der Tiergartenstraße zu. Dann ging er noch eine kleine Strecke mit den Tiergarten entlang und verließ sie vor der Gartentür einer der kleinen, in dichtem Grün versteckten Villen. Und während er zurückging, wandte er sich noch ein paarmal, bis daß sie durch den Vorgarten schreitend in dem Häuschen verschwunden war.
Dann ging er schneller, aber mit ihm gingen die Gedanken an sein Mütterchen, deren Bild ihn keinen Augenblick verließ; sein ganzes Leben, das bis jetzt noch immer keinen rechten Zweck hatte, ging auf in der Liebe zu diesem, für ihn edelsten und reinsten Wesen, das seine Mutter war.