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Als Willy mit diesem festen Entschlusse in das Haus trat, begegnete ihm der Diener, den seine Mutter zur Apotheke schickte.
Seit jener Unterredung mit Mignon hatte auch sie keinen ruhigen Augenblick mehr gehabt. Bei dem kleinsten Geräusche schrak sie zusammen. Sie konnte keine Minute mehr ruhig bleiben; eine fieberhafte Rastlosigkeit hatte sich ihrer bemächtigt, daß ihre Pulse schlugen.
Sie saß und grübelte und grübelte, wie sie das Entsetzliche abwenden konnte … und sie fand nichts.
Nur das eine: die volle Wahrheit. – Ein einziges Wort genügte, und alles war gelöst; aber damit vernichtete sie ihre ganze Existenz, damit stieß sie ihren Sohn für immer von sich.
Es mußte ein anderes Mittel geben. Aber all ihr Grübeln fruchtete nichts. Sie machte sich nur krank damit.
Willy stieg langsam das hellerleuchtete Treppenhaus hinauf, Stufe um Stufe, schwerfällig, langsam.
Er suchte nach seiner Mutter.
Im ersten Zimmer war sie nicht … er traf sie im Boudoir, dort, wo er einst den Brief gefunden hatte, den Brief, dessen Inhalt jetzt eine ganz andere Bedeutung für ihn erhalten hatte. –
Ohne anzuklopfen, war er in das Zimmer getreten, denn die Tür war nur angelehnt, und er hatte geglaubt, er werde sie auch dort nicht finden.
Sie schrak zusammen, als sie ihn so plötzlich vor sich sah.
Das eine Fach des Schreibtisches stand offen, und die Briefe lagen im wirren Durcheinander vor ihr.
Sie drehte sich um, damit sie ihm all diese Briefe verdeckte, und lächelte ihm gezwungen zu, während er auf der Schwelle stehen blieb.
»Nun?« fragte sie, »weshalb kommst Du nicht herein?«
Eine jähe Ahnung hatte sie ergriffen, als er dort stehen blieb. Aber sie verstand die Kunst, sich zu beherrschen.
Er trat näher und legte den Hut auf einen Stuhl.
Jetzt, wo sie im Schein der Lampe sein Gesicht sehen konnte, erschrak sie noch mehr.
Sie war so bleich geworden wie er.
So hatte sie ihn noch nie gesehen. Was wollte er?
»Was ist denn, Willy?« wagte sie endlich zu fragen.
Er schwieg noch immer, denn er fürchtete, sich mit dem ersten Laute zu verraten. Die Stimme drohte ihm zu versagen.
Sie saß vor dem Schreibtische, halb mit dem Rücken dagegen gelehnt, während ihre Hand die Lehne des Stuhls umkrampfte.
Er bereitete ihr mit seiner Ruhe Angst.
Endlich sah er sie an, aber in seinen Augen lag eine fremde Feindseligkeit.
Sie lächelte ihm zu, als sei nichts zu befürchten.
Sie wollte auf ihn zugehen, aber sie fühlte sich durch die fieberhafte Aufregung, in der sie sich den ganzen Tag über befunden hatte, so schwach, daß sie es bei dem Versuche ließ und ihn nur schmeichelnd beim Namen rief.
Das riß ihn aus seinem Brüten. –
Sein Name von den bittenden Lippen der Mutter hatte die alte Gewalt über ihn.
Im nächsten Augenblicke lag er aufschluchzend zu ihren Füßen und klammerte sich an ihre Kleider, während sie ihn zu umfassen suchte.
»Mutter! – liebe Mutter!«
»Aber, Will! Was hast Du? … Bist Du krank?«
Er schüttelte den Kopf. Und dann hastig:
»Ja doch! Vielleicht doch! … nur krank.«
Sie zog ihn fester an sich und küßte sein Haar, während er sich ausweinte.
Sie sagte kein Wort mehr, denn sie wagte es nicht, ihn zu fragen.
»Nicht wahr,« fragte er wie im Fieber, noch immer von der halbschlummernden Ungewißheit geschüttelt: »Es ist ja nicht möglich! … Wie einen die Leute erschrecken können!«
Als sie schwieg und er vergeblich wartete, daß sie etwas erwidern sollte, die auf seine Worte lauerte, sagte er wie nebenher:
»Ich weiß, daß Mignon seine Tochter ist.«
Sie zuckte zusammen. Er merkte es nicht. Ihm war es wie im Traum, und er sprach weiter, eigentlich ohne zu wissen, was er sagte. Er horchte mehr auf den Klang seiner Stimme, und das schien ihm so seltsam, als habe er sich nie sprechen hören, als sei er ein anderer, der sich selbst zum ersten Male hörte.
»Ich habe hier einmal einen Brief gefunden, hier. Aber ich habe ihn verbrannt …«
Da wußte sie, daß es nun nichts mehr zu verbergen gab.
Sie lehnte sich zurück, um ihm nicht so nah zu sein, sie wollte ihn abwehren, denn ihr schien, als halte er sie mit seinen Armen gefangen.
Die Sinne drohten ihr zu schwinden, und nur mit äußerster Anstrengung, mit der Begierde, jetzt alles zu hören, was er ihr zu sagen hatte, hielt sie sich aufrecht.
Sie atmete krampfhaft, und nun fühlte er, wie ein Zittern sie durchlief. Das riß ihn aus seiner Schwäche.
Er hielt sie an den Armen gefaßt, beugte sich über sie und fragte mit ausbrechender Heftigkeit:
»Sag' doch, daß es nicht wahr ist! … sag' es mir doch!«
Sie atmete schneller und schwerer, und nur ihr totenbleiches Gesicht gab ihm Antwort.
Er schrie es fast, indem er ihren Arm schüttelte.
»Und nun sagen sie, ich .. ich sei auch sein Kind! … Mutter … Mutter …! Ich! …«
In ihren Augen stand die Antwort, deutlich, ohne Lüge. Und vor diesen irren Augen wich er zurück, die Hände wie abwehrend ausgestreckt.
Bis jetzt hatte er gleichsam immer nur mit dem Gedanken gespielt, wie mit einer Möglichkeit. Jetzt war Ernst daraus geworden, und er starrte die Frau da vor sich an und sagte sich dabei fortwährend: Das ist Deine Mutter … das ist Deine Mutter!
Mit einem Schlage sah er in ihr nichts anderes als ein Weib, das seinem Vater die Treue gebrochen.
Bei diesem Gedanken stockte er und kam zur Besinnung. Es war ja gar nicht sein Vater. Das war ja der andere …
Und das kam ihm so grotesk vor, daß er auflachte, denn die ganze Welt drehte sich um ihn wie eine große Lüge. Alles ringsum schien zusammenzubrechen. Und er suchte sich an einen Gedanken zu klammern, um nicht verrückt zu werden.
Sie erhob sich … sie … seine Mutter.
Es schien, als wolle sie den Mund öffnen, ihm etwas zu sagen, etwas zu erwidern. Sie griff um sich, schwankte, und dann wortlos, mit dumpfem Laute wie ein Aufstöhnen, brach sie zusammen.
Da schrie er auf, als ob er den Tod vor sich sehe. –
Er wagte es nicht, sich ihr zu nähern, nicht sie anzurühren, wie sie da regungslos vor ihm auf dem Teppich lag.
Dann schrie er nach den Leuten, nach dem Mädchen! …
Er riß die Türen auf und rief um Hilfe.
Aber niemand hörte ihn. –
Er eilte hinunter … Es schien, als sei das Haus ausgestorben. – – Endlich fand er die Köchin und jagte sie hinauf. Dann kam das Hausmädchen und dann der Diener von der Apotheke zurück. Den schickte er sofort zum Arzt.
Inzwischen hatten die Mädchen sich um Anna bemüht und die Besinnungslose zu Bett gebracht.
Der Diener kam endlich zurück mit dem Doktor.
Als der Arzt sie zu untersuchen anfing, schlug sie einen Augenblick die Augen auf. Dann fiel sie in die Ohnmacht zurück.
Und nun brach das Fieber durch, das die letzten Tage schon in ihr gewühlt, das sie mit der äußersten Willensanstrengung beständig niedergekämpft hatte, um nicht zu unterliegen. Sie mußte bei Verstand bleiben, sonst war es um sie alle geschehen. Sie mußte handeln, damit sie nicht alle zugrunde gingen.
Aber sie war doch zu schwach gewesen. Nun lag sie und phantasierte, wirr und sinnlos, bald aufschreiend, dann wieder flüsternd, als ob sie ein krankes Kind besänftigen wolle.
Als der Arzt, ein alter Freund des Hauses, sich nach Willy umsah, fand er ihn im vordersten Zimmer im Dunkeln sitzen. Er suchte ihn, der gleichgültig abgestumpft dasaß, zu beruhigen, daß er noch nichts sagen könne, aber er hoffe, daß es nur ein heftiges, hoffentlich schnell vorübergehendes Fieber sei.
Er fragte, ob Doktor Braun benachrichtigt sei.
Niemand hatte an ihn gedacht, und der Doktor selbst ging zu ihm hinauf und fand ihn über seinen Zeitungen eingeschlafen. – –
*
Es hatte Willy nicht im Hause gelitten.
Er ging in den Garten hinaus und irrte durch die verlassenen Wege.
Es war bitterlich kalt geworden, allein er fühlte die Kälte nicht. Barhäuptig, wie er war, ging er vor sich hin, ohne Gedanken, um die Rasenplätze, die Gebüsche; nur zuweilen griff seine Hand achtlos in die kahlen Zweige, an denen noch vereinzelte dürre Blätter zitterten, die er gedankenlos abriß und zu Boden warf.
Dann setzte er sich auf eine Bank, die unter einem Schutzdache an der Mauer vom Regen fast ganz verschont geblieben war, und vergrub das Gesicht in die aufgestützten Hände.
Vom Hause her drang zuweilen leises Geräusch zu ihm herüber, und durch die kahlen, schwarzen Aeste sah er die erleuchteten Fenster, und er wußte: dort hinter jenen Fenstern lag seine Mutter.
Seine Mutter!
Es war also doch so …
Er versuchte es, sich an alte Zeiten zu erinnern, die hinter ihm lagen; aber er vermochte es nicht.
Es war wie flutender Nebel, nach dem die Hand greifen will, und der vor uns gleich wieder zerrinnt.
Nur an die eben erlebte Szene konnte er denken, und er sah immer jenen angstvollen Blick des Entsetzens auf sich gerichtet.
Und es war seine Mutter! – seine Mutter, die er über alles geliebt, die er angebetet hatte. –
Ueber den Gedanken kam er nicht hinweg.
Weshalb brach nicht alles um ihn zusammen? … Aber es änderte sich ringsum nichts. Es blieb alles beim alten. Nur er selbst war ein anderer geworden.
Er war aufgestanden, und aufstöhnend in seinem Schmerz hatte er sich an einen Baum gelehnt, dessen feuchte glatte Rinde seine heißen Hände umklammerten.
Wie in sinnloser Wut schüttelte er jetzt den Stamm, um der Qual einen Ausweg zu schaffen, die ihn zu ersticken drohte.
Dann mußte er über sich selbst lachen.
Was wollte er denn? …
Alles ging seinen ruhigen Gang weiter. Es war ja schon immer so gewesen, alles – alles! Seit Jahrzehnten war alles so, immer schon gewesen, nur nicht für ihn.
Er irrte wieder durch den Garten.
Am dunklen Abendhimmel jagten schwarze Wolken, als ob die graue Decke geborsten und zerrissen sei und nun einzelne Fetzen vom Winde dahin getrieben würden.
Durch eine Lücke brach der Mond.
Nur einen Augenblick. Dann verschwand er wieder.
Willy starrte zum Himmel auf. Dort hinter jener Wolke mußte er jetzt stehen.
Langsam schob sich die breite Flache vorüber, jetzt ward der Rand heller, dann brach das Licht aufs neue durch. –
Und nun sah der Garten ganz anders aus.
Die dünnen Aeste der Bäume und das feine Gewirr der Gebüsche zeichneten sich als schwarze Striche auf dem feuchten Boden ab, und wie eine gewaltige Silhouette gegen den hellen Himmel erhob sich die Villa, in die er noch immer nicht zurückzukehren wagte.
Er stand unter einer Kastanie und blickte zu den erleuchteten Fenstern hinauf, während seine nervös unruhigen Finger die kleinen morschen Zweige eines kahlen Strauches mit fieberhafter Hast zerbrachen.
Endlich hielt es ihn nicht länger und er verließ den Garten. –
Als er in das Haus eintrat, fand er unten den Doktor, der ihm beruhigende Auskunft gab. Das Fieber schien harmloser zu sein, als er anfangs gefürchtet.
»Ich habe Ihren Vater benachrichtigt,« schloß der Doktor seine gutgemeinten Worte. »Wenn Sie selbst mal hinaufgehen wollen.«
Es durchzuckte ihn. Wie das klang: sein Vater!
Wieder diese Lüge, in der er sein ganzes Leben hingebracht hatte.
Was sollte er bei dem Kranken? … Konnte er ihm ruhig gegenübertreten, jetzt, wo er ihn mit ganz anderen Augen ansah? –
Er konnte nicht länger in diesem Hause bleiben, und dabei die Angst: wenn er nach ihm verlangte, mußte er zu ihm gehen.
Und er schlich sich in sein Zimmer und holte sich Mantel und Hut. –
*
Dann irrte er durch die Nacht, mechanisch seinen Weg suchend, ohne zu wissen, wohin er sich wandte.
So wenig achtete er auf den Weg, daß er hie und da an einen Stein stieß und zu fallen drohte.
Die Berliner Straße wurde umgepflastert, er geriet einmal in den Teil, der aufgerissen war, und er stürzte auf einen Steinhaufen nieder, daß er sich die Hand blutig schrammte.
Dann kam er unter dem Stadtbahnbogen durch, wo sich gerade zwei Züge kreuzten, und er sah den roten Lichtern nach, wie sie bei der Krümmung verschwanden.
So gelangte er in den Seepark und ging am Ufer des Neuen Sees hin, auf dessen totenstillem Wasser der bleiche Mondschein so breit lag, still und friedlich, als ob es in der Welt nichts gab, was ein Menschenherz bis in die dunkelsten Tiefen erschüttern konnte.
Er blieb stehen und strich sich über die Stirn, auf der kalter Schweiß stand.
Seine Mutter! …
Seine Mutter, die er so abgöttisch verehrt hatte, die er unerreichbar für den Schmutz der Welt gehalten hatte – sie war nicht anders als andere Frauen.
Eine Frau, die ihren Mann betrogen hatte, seinen Vater. Und nicht minder der jähe Schreck: es war ja gar nicht sein Vater! –
Er konnte diesen Gedanken nicht fassen, daß ein anderer, neben dem er achtlos hingelebt hatte, mehr Recht auf ihn haben sollte als der Kranke.
Seit dem Tage, da er erfahren, daß der Professor seine Mutter einmal geliebt hatte, seitdem war eine unterdrückte Abneigung in ihm aufgestiegen, die zuweilen sich zum Haßgefühl steigerte.
Und nun sollte dieser Mann sein Vater sein!
Eine verzweiflungsvolle Wut bemächtigte sich seiner, daß er durch ihn seine Mutter für immer verloren hatte. Von seiner grenzenlosen Liebe war nichts geblieben als ein unendliches Wehgefühl, wie sie ihm einst alles gewesen war und nun all sein Glaube an sie zunichte geworden war.
So jählings überraschend war es gekommen, daß er sich noch immer nicht zu fassen vermochte, daß eine blinde Todessehnsucht ihn überkam, seiner Qual ein Ende zu machen.
Im Augenblicke fehlte ihm dazu die Energie.
Er empfand eine sinnlose Wollust, sich vorzureden, er sei wahnsinnig geworden, und alles sei eine Lüge. Aber dann wußte er wieder, daß es keine Lüge war.
Warum hatte er nicht weiter gelebt in der Lüge.
Wer hatte sie ihm geraubt? –
Ein Gefühl unendlicher Verlassenheit überkam ihn, als sei er mit einem Male ganz allein auf der Welt.
Rings um ihn rührte sich nichts.
Er setzte sich auf eine feuchte Bank dicht am Seeufer und biß die Zähne aufeinander, um nicht in diese totenhafte Stille seinen Schmerz hinauszuschreien. Dann fand er endlich Tränen, und das erleichterte ihn.
Die Kälte durchschüttelte ihn, und die Feuchtigkeit drang durch seine Kleider, daß er wieder weiterging.
Das starre Entsetzen, dieser versteinernde Schmerz war von ihm gewichen, und ein fast schmeichelndes Wehgefühl war an die Stelle getreten.
So verlor er sich wieder in die Irrgänge des Tiergartens, kam zuweilen von dem schmalen Wege ab und lief gegen einen Baum, wenn der Mond von einer Wolke verschleiert war und er sich tastend weiter finden mußte.
Zuletzt hatte er jede Richtung verloren. –
Ueber eine halbe Stunde irrte er umher, dann traf er auf das Friedrich-Wilhelm-Denkmal.
Von da an hielt er sich auf dem breiten Wege.
Als er an das Brandenburger Tor kam, war er versucht, wieder umzukehren.
Dann besann er sich und blieb stehen.
Was wollte er zu Hause?! –
Er konnte heute nicht unter einem Dache mit der Mutter sein. Er hätte keinen Schlaf gefunden. Und dann hatte ihn der Arzt beruhigt, es sei ein harmloser Fieberanfall.
Er ging durch das Tor. –
Das grelle Licht tat seinen Augen weh, nachdem er so lange im tiefen Dunkel umhergeirrt war.
Von der Wache marschierte gerade die Ablösung fort. Er sah nach der Uhr. Es war elf geworden.
Wie sollte er die Nacht hinbringen.
Er entschloß sich, nach seiner Wohnung zu gehen; und langsam, dumpf brütend, ging er durch die breite Wilhelm- der Mauerstraße zu.