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»Weißt Du denn, weshalb Frau von Ruschwedel immer so viel von ihrem Manne spricht?« fragte Mignon eines Tages im Laufe des Gespräches.
»Nun, weshalb?«
»Ich habe es von Minna, die heute ärgerlich war und ein paar Worte fallen ließ. Das haben wir beide gewiß nicht gedacht …«
»Und?«
»Ihr Mann ist eifersüchtig gewesen auf einen jungen Leutnant seiner Kompagnie. Er hat ihn gefordert, und der Hauptmann ist in dem Duell gefallen. Ist das nicht schrecklich?! …«
Willy antwortete nicht gleich. Er dachte zurück, bei welchen Gelegenheiten er mit ihr zusammengekommen war, und wie sie stets in überschwenglicher Weise von ihrem Gatten gesprochen hatte.
Jetzt schien ihm, als ob dieser seltsame Kultus eine Art von Sühne sein sollte, den er immer unangenehm empfunden hatte, weil es scheinbar absichtslos sein sollte und doch so aufdringlich geschah.
Die Mitteilung regte in ihm wieder Gedanken an über die Beziehungen des Professors zu seiner Mutter.
Es keimte in ihm langsam eine Abneigung gegen den alten Freund auf, die sich in Kleinigkeiten Luft zu machen suchte.
Er zog sich von Petri zurück, obgleich dieser ihm gerade jetzt ungemein herzlich entgegenkam. –
Lautner, der in der ganzen Zeit nur einmal draußen gewesen war, hatte es sofort entdeckt und suchte Willy auszuforschen. Allein es gelang ihm nicht, und er gab sich auch keine besondere Mühe, da er zu sehr mit einer eigenen großen Arbeit beschäftigt war.
Willys Abneigung wuchs mit jedem Tage, und sie war bald derart, daß er manchesmal brüsk das Zimmer verließ, wenn der Professor anwesend war.
So kam er aus einer fortwährenden seelischen Erregtheit nicht heraus. Er war reizbar nervös.
Ein rascher Stimmungswechsel machte sich bei ihm bemerkbar, unvermittelt sprang er im Gespräch von einem Gegenstande zum anderen über und faßte im Augenblicke Sympathien und Antipathien, ohne sich des Grundes klar werden zu können.
Die Liebe zu Mignon hatte große Schuld an diesem Zustande. Er mußte sie vor der Mutter verheimlichen, und zugleich quälte ihn der Zwiespalt, daß Mignon die Tochter des Mannes war, der ihn mit jedem Tage mehr erbitterte.
Dabei pries sie bei jeder Gelegenheit den Vater und brachte Willy durch ihre Bitten dahin, wenigstens äußerlich die alten Beziehungen zu erhalten.
Das Leben hatte ihn zum erstenmale rauh gestreift, und er konnte sich nicht so leicht in sein Traumland zurückfinden.
Es waren kaum vierzehn Tage vergangen, als sein eingeschlummerter Verdacht aufs neue geweckt wurde. –
Er kam aus der Stadt heim, wo er für die Mutter eine Besorgung ausgerichtet hatte.
Der Abend brach an, als er zurückkam. Die frostige Sonne war im Untergehen, und ihre matten herbstlichen Strahlen zitterten nur noch um die höchsten Spitzen der Bäume und die Dächer der Häuser und liehen einer breiten weißen Wolke am Rande einen leichten rötlichen Schimmer.
Er fand die Mutter nicht daheim. Das Mädchen meinte, die gnädige Frau sei zur Frau Hauptmann von Ruschwedel gegangen.
Diese Nachricht berührte Willy unangenehm, denn er hatte sie wiederholt gebeten, diesen Verkehr möglichst einzuschränken, vollends seit er die Mitteilung von Mignon hatte.
Es schien ihm, als vergebe sie sich damit an ihrem Stolze.
Er ging mit dem kleinen Pakete in das Zimmer der Mutter und legte es auf den Tisch, so daß sie es beim Heimkommen gleich finden mußte.
Dann setzte er sich in einen der seidenen Fauteuils und sah dem sterbenden Widerscheine der Sonne zu, die mit jedem Augenblicke mehr erblaßte.
Sein Blick flog durch das Zimmer.
Es war nicht groß, nur einfenstrig, und sah noch kleiner dadurch aus, daß es mit Luxusgegenständen aller Art überladen war, die trotz ihrer Verschiedenheit doch zu einem etwas bunten, aber harmonischen Ganzen vereinigt waren.
Will hatte es das Geschenkzimmer getauft, denn all die vielfachen Kunstgegenstände, die im Laufe der Zeit als Gaben bei festlichen Gelegenheiten in das Haus gekommen waren und keinen Platz an anderer Stelle finden konnten, hatten hier ihr Unterkommen.
Anna hielt sich gern in diesem kleinen Vorzimmer auf, einer Art Boudoir, und an dem zierlichen hellen Damenschreibtisch, der eine Fensterecke abschrägte, pflegte sie ihre Korrespondenz zu erledigen.
Am Boden lagen über dem großen Zimmerteppiche hie und da kleinere; vor dem Schreibtische breit ein weiches graues Bärenfell, und in den Zotten lag etwas vergraben, ein Stück zusammengefalteten Papieres.
Willy erhob sich, nahm es auf und setzte sich damit an den geschlossenen Schreibtisch.
Es war ein Brief auf gelbem, stark geripptem Papier, von dem ein leichter Duft von Heliotrop ausging, Heliotrop und Rosenholz.
Der Brief mußte alt sein, denn er war vielfach zusammengefaltet und an diesen Stellen brüchig geworden, und schon beim ersten flüchtigen Blicke sah man, daß die Tinte seit Jahren verblaßt war.
Will legte den Brief, der der Mutter entfallen sein mußte, vor sich hin, ohne ihn genauer zu betrachten. Dabei las er jedoch die Ueberschrift: Mein Herzlieb! –
Wer konnte das geschrieben haben? …
Gewiß war es ein Brief aus ihrer Brautzeit. Er sah ihn an, ließ ihn aber ruhig liegen. Allein der Gedanke, von wem der Brief sein mochte, ließ ihn nicht los.
Er sah nach der Unterschrift, und im selben Augenblicke hatte er das Gefühl, daß nur dieser Name dort stehen konnte. Aber ein anderes erschreckte ihn: Dein Reinhold. Dieses Du und der Vorname. –
Dann fing er an zu lesen, ganz langsam, mit aller Mühe sich zwingend, um den Inhalt nicht rasch zu durchfliegen.
Dann las er ihn zum zweiten Male, und immer dabei der Gedanke: wann konnte dieser Brief, diese leidenschaftliche Klage, dieser brennende Zweifel an ihrer Liebe geschrieben sein? –
Kein Datum, keine Andeutung, wie er das Blatt auch drehen und wenden mochte.
Ein Geräusch im Nebenzimmer! … Eiligst verbarg er den Brief in der Brusttasche und trat an das Fenster, als ob er bis jetzt hinausgesehen hätte in den schmucklosen Vorgarten, wo ein altes Weib die welken Blätter langsam träge zusammenfegte.
Es klopfte! – Nur der Diener, der nach der gnädigen Frau fragte und einen Brief brachte, den ihm Willy abnahm und auf den Tisch legen wollte, als er die Handschrift des Professors erkannte.
Und jetzt war er allein, mit diesem neuen Briefe in der Hand, und die Versuchung trat an ihn heran, dieses Kuvert aufzureißen, um Gewißheit zu erlangen, um ein Ende seiner Zweifel zu finden.
Aber er fand doch nicht den Mut dazu. –
*
Er konnte nicht länger in dem Zimmer bleiben, sonst erbrach er doch noch das große Siegel, das er immer wieder auf das genaueste studierte, als ob er es in seinem Leben noch nicht gesehen hatte.
Auf der Schwelle zauderte er noch einmal, im Begriffe umzukehren. – Dann ging er. –
Und wider seinen Willen, voller Furcht, was daraus entstehen konnte, trieb es ihn hinüber zu Petri; er mußte ihm entgegentreten.
Er fand ihn daheim, und freundlich lächelnd kam er ihm entgegen, schüttelte ihm die Hand und nannte ihn einmal über das andere: mein lieber Junge!
Wie er ihn so scherzen und plaudern hörte und seinen Blick voller Stolz jeder Bewegung Mignons folgen sah, da schien Willy der Gedanke so fremd, daß dieser Mann seine Mutter geliebt haben sollte, – und daß er vor Jahren den Brief geschrieben hatte, den er jetzt an seiner Brust trug.
Wie, wenn er ihn jetzt hervorzog und ihn vor Petri hinlegte, mit der Frage, ob er das Schriftstück kenne?
Der Gedanke hatte etwas so Verführerisches an sich, er zerrte und lockte, daß es ihn reizte, es zu tun.
Allein er ward sich bewußt, daß dies Begehren ein krankhaftes sei, das ihm nichts nützen konnte.
Fräulein Minna rief den Professor ab, ein Herr wünsche ihn zu sprechen; und Will blieb mit Mignon allein. –
Ohne weitere Vorrede nahm Willy den gefundenen Brief und reichte ihn Mignon:
»Lies das einmal, bitte.«
Sie nahm den Brief, indem sie ihn verwundert ansah, und fing an zu lesen.
Schon nach den ersten Zeilen suchte sie nach der Unterschrift, und ein kurzer unterdrückter Laut des Erschreckens entfuhr ihr.
Dann las sie langsam, wie um Zeit zu gewinnen, und wartete, daß Willy, der wie bestätigend mit dem Kopfe genickt hatte, etwas sagen würde.
Sie ließ das Blatt sinken.
»Nun?« fragte er.
»Woher hast Du den Brief?«
Er berichtete, wie und wo er ihn gefunden hatte. Sie nickte nur. Dann sagte sie:
»Und was willst Du daraus schließen? – Der Brief ist sehr alt. Sieh einmal die Schrift an. Ich glaube, der Brief ist geschrieben, ehe Deine Mama sich verheiratet hat, denn davon steht kein Wort in dem Briefe.«
Er nahm den Brief und sah ihn noch einmal wieder durch. Das war allerdings richtig.
»Es ist wohl möglich,« suchte er sich zu täuschen.
»Nein, … es ist auch so!«
Und sie führte ihm alle Gründe an, leidenschaftlich erregt, daß er erstaunte: sich mit den Worten überhastend, weil sie nicht daran glaubte; weil sie nun wußte, daß ihr Vater immer nur diese Frau geliebt hatte und ihre eigene Mutter ihm daneben nie viel hatte gelten können.
Er hörte ihr zu und sog jedes Wort, das ihm seine Zweifel ausreden sollte, begierig ein; er versuchte es, sich alles so vorzustellen, wie sie es schilderte, – allein im Innern nagte doch der Zweifel. Der blieb und marterte ihn unaufhörlich.
Seit er Mignon liebte, war er der Mutter viel fremder geworden, seitdem urteilte er, und es quälte ihn, daß er ein Geheimnis vor ihr haben mußte.
Und plötzlich kam ihm Mignon mit neuen Gründen. Was wollte er nur? – Was stand denn in dem Briefe: eine leidenschaftliche Klage, daß sie ihn nicht liebe. Das war doch ganz deutlich: sie liebte ihn nicht. Was für eine Schuld konnte sie also treffen? Oder wollte er es den Menschen gar verwehren, seine Mutter gern zu haben? –
Mit diesem neuen Gedanken suchte er sich zu beruhigen.
Und dabei schien ihm jetzt alles verzeihlich, und er begriff, seit er Mignon liebte. Seitdem verstand er erst, wie ein Mann einen solchen Brief schreiben konnte.
Am schmerzlichsten war ihm, wenn er dabei an seinen Vater dachte. In letzter Zeit hatte er sich schlechter befunden als je. Das Herannahen des Winters brachte stets eine Verschlimmerung seines Zustandes mit sich. Er saß still in seinem Stuhle, und die Augen schmerzten ihn so, daß er seine gewohnte Lektüre sich versagen mußte. Die Augen lagen tief in ihren Höhlen, müde verschleiert, und die Wangen waren eingefallen.
Das Sprechen machte ihm Beschwerden, er stieß mit der Zunge an, und wenn Willy ein Gespräch mit ihm anfangen wollte, winkte er oft lässig mit der Hand und saß stumpf da, ohne recht Anteil an irgend etwas zu nehmen. Es schien, als ob seine Sinne mehr und mehr einschlummerten.
Zum ersten Male fiel es Willy auf, wie wenig man ihn eigentlich im Hause beachtete, wie gewohnheitsmäßig gleichgültig die Mutter sich um ihn kümmerte, abgestumpft durch den sich gleichbleibenden Zustand des Kranken.
Er hatte das bis jetzt nicht empfunden, denn auch für ihn war der Vater nie von großer Bedeutung gewesen; jetzt überkam es ihn wie eine große Traurigkeit, wenn er verglich, wie lebhaft die Mutter war, wie sie alle paar Stunden das Haus verließ und in beständiger Bewegung war, während der Kranke ans Zimmer gefesselt blieb, vor allem jetzt, wo der Herbst über das Land zog und der Winter vor der Tür stand.
Er saß da, still resigniert, klagte selten oder nie und hörte stumm lächelnd zu, wenn Anna ihm gewohnheitsmäßig berichtete, was sie tagsüber getan hatte, denn meistens widmete sie ihm die Abendstunden ganz, zumal in solchen Fällen häufig Petri anwesend zu sein pflegte.
Willy saß bei dem Vater, als die Mutter heimkam. Sie war unruhig und fragte die Dienstboten aus nach einem Notizhefte, das sie verloren haben wollte.
Aber niemand hatte etwas gefunden. –
Willy war einen Augenblick versucht gewesen, ihr den Brief, der jetzt keine besondere Bedeutung mehr für ihn hatte, zurückzugeben, nachdem er ihn anfangs wieder in das Zimmer hatte legen wollen. Allein, es konnte ihn zu leicht jemand finden, und so nahm er davon Abstand.
Es war besser, die Mutter erfuhr nichts davon.
Er wollte es für sich behalten, daß er so an ihr gezweifelt hatte.
Er nahm den Brief und hielt ihn in das Licht, bis daß er völlig verkohlt war.
Allein jetzt hoben sich die Buchstaben weiß von dem verkohlten schwarzen Papiere ab; das nahm er und zerrieb es zu feinem Staube, den er in den Garten streute.
Damit war auch der Gedanke an die letzten Tage der Unruhe wieder erstorben. Er wollte nicht mehr daran denken, weil es ja krankhaft war. –