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20.

Grau und fahl stieg der Morgen auf.

Der Tag schien seine Wimpern träge und schläfrig aufzuschlagen.

Der Himmel war völlig bezogen, und schwere Nebel schleiften über die Erde hin.

Gegen Morgen hatte sich Willy, da die Kranke ruhig war, schlafen gelegt, und es war hoch an der Zeit, als er sich erhob.

Er schickte zu Mignon hinüber, um ihr, wie er versprochen hatte, Nachricht zu geben.

Als der Diener zurückkam, meldete er, daß auch der Professor heute früh heimgekehrt sei.

Mignon sandte ihm eine Karte, in der sie ihm mitteilte, sie wolle noch heute dem Vater alles gestehen. Sie könne die Ungewißheit nicht länger ertragen.

Willy erschrak. Jetzt mußte sie die volle Wahrheit erfahren.

Einmal mußte es ja doch sein. Es war auch so gut.

Der Gedanke, wie das auf sie wirken mußte, trat zurück vor der Tatsache, daß Petri wieder anwesend war.

Daran hatte er noch nicht gedacht.

Was sollte jetzt geschehen? …

Wenn Petri erfuhr, daß die Mutter erkrankt war, so war es unausbleiblich, daß er sofort herüberkam, um sich persönlich zu erkundigen.

Wie sollte das werden?

Willy fühlte nicht mehr die Kraft, ihm als Ankläger gegenüberzutreten. Seine Energie war gebrochen.

Er hatte ihr das halbe Versprechen gegeben, daß alles noch gut werden würde.

Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, ihn zu benachrichtigen: er wisse alles und werde jetzt, wo die Mutter krank liege, nicht dulden, daß er sich ihr nähere.

Er wollte nicht dulden? … wollte seinem Vater wehren? –

Hatte er auch nur den Schein des Rechtes dazu?

Durch diese peinigende Ungewißheit geriet er in eine fast fieberhafte Angst.

Endlich gab er sich darein, abzuwarten. Er konnte ja vorläufig nichts tun.

Die Mutter war für kurze Zeit zur Besinnung gekommen. Allein er hatte ihr das Sprechen verwehrt, auf Anordnung des Arztes, der ihren Zustand lange untersucht hatte, aber sich nicht aussprach.

Dann hatte sie wieder das Bewußtsein verloren, und das Fieber steigerte sich in einem Grade, daß Willy an dem ernsthaften Gesichte des Arztes sofort erkannte, daß er mit dem Trost der Gefahrlosigkeit nicht die Wahrheit gesprochen hatte.

Diese jähe Wendung machte ihn ganz ratlos. –

*

Willy war hinaufgegangen. Doktor Braun war in ärgerlichster Stimmung. Niemand kümmerte sich recht um ihn, und der Arzt, der vorhin bei ihm gewesen war, hatte sich derart unklar ausgesprochen, daß er ihn nur unruhiger gemacht hatte.

Willy berührten diese kleinlichen Nörgeleien des Kranken unangenehm, und er verließ ihn schon nach kurzer Zeit wieder.

Das konnte er jetzt nicht ertragen. –

Dann kam ihm wieder der Gedanke an Mignon.

Seine Schwester! –

Es war ein so eigentümliches Gefühl.

Und wie gezwungen sagte er sich das Wort immer wieder vor.

Er konnte nicht mehr anders an sie denken.

Ihm war, als sei er ihr jetzt erst recht nahe gekommen. Und eine unbezwingliche Sehnsucht überkam ihn, sie zum ersten Male mit diesem Namen anzureden, den seine Lippen noch nie ausgesprochen hatten.

Er hatte ja nur seine Mutter gehabt. Er war allein aufgewachsen, und jetzt fand er jemand, auf dessen Liebe er ein Recht hatte.

Wenn er sie nur erst gesehen hatte.

Ein paarmal schon hatte er geglaubt, sie komme.

Allein es war immer ein anderes gewesen, einmal ein Mädchen von Onkel Jack, der sich erkundigen ließ und ankündigte, daß er im Laufe des Nachmittags sich herüber wagen wolle.

Dann der Briefbote mit einem Briefe Lautners aus Hamburg, wohin er Wurm zu Liebe mitgefahren war, um den Proben zu dessen Oper beizuwohnen. –

Bei jedem Geräusche vermutete er, es sei Mignon.

Er hatte in den wenigen Stunden Schlaf, die er sich gegönnt, von ihr geträumt …

Sie waren allein auf einer im Weltmeer verlorenen Insel gewesen.

Und plötzlich war die Flut gekommen, und sie hatten sich auf einen Felsen gerettet.

Allein die Wellen schlugen immer höher und leckten gierig an den Klippen.

Immer höher stiegen sie. Und dann hatte eine stürmende Woge ihm Mignon entrissen.

Und er hatte ihr nicht helfen können, die Wasser warfen sich ihm entgegen, er rang mit ihnen, aber er konnte nur sehen, wie sie vor seinen Augen versank.

Dann war er erwacht. –

Jetzt sehnte er sich nach ihr.

Er mußte sie sehen, um ruhig zu werden, denn der häßliche Traum hielt ihn noch immer im Bann.

Ruhelos eilte er im Hause hin und her und spähte, ob sie noch nicht kam. –

So verstrichen die ersten Morgenstunden.

Es war endlich Tag geworden.

Allein dann hatte sich der Himmel wieder verfinstert, und einzelne Schneeflocken irrten wie verloren in der Luft.

Es wurden ihrer immer mehr, sie verdichteten sich, und die Flocken wurden immer größer.

Jetzt wurde es ein ganz tolles Gewirr.

Das tanzte in dem spielenden Winde wie wild durcheinander. –

Gegen Mittag hatte Willy die Wärterin auf eine Stunde fortgeschickt.

Sie wollte einiges in der Stadt besorgen.

Willy war mit der Mutter wieder allein.

Der leichte Schnee trieb gegen die Fenster.

Die ersten Flocken tauten wieder fort auf der Erde, die noch die letzte Sonnenwärme barg.

Dann blieb der Schnee an einzelnen Stellen liegen.

Zuerst verfing er sich in den Zweigen der Bäume, dann blieb er auf den Staketen und Mauern liegen und der Wind trieb ihn über die feuchte Erde, wo er sich auf dem nassen Schlickerschnee anhäufte.

Und jetzt mehrten sich diese Stellen.

Der Wind trieb immer neue Flocken an diese weißen Inseln, daß sie mit jedem Augenblicke wuchsen und wuchsen.

Dann fegte er oft mit einem einzigen Stoße die ganze Arbeit wieder auseinander, daß die tausend Flocken hoch emporwirbelten, sich mit den eben erst niederfallenden mischten und nun einen augenverwirrenden Tanz aufführten. –

Lange stand Willy am Fenster, um dem beginnenden Schneesturme zuzuschauen.

Dann wandte er sich wieder der Kranken zu.

Ihre Hände glühten wie im Feuer, und zuweilen flog ein Frost schüttelnd durch ihre Glieder.

Dann wieder lag sie eine Zeitlang reglos, als seien all ihre Kräfte gebrochen, bis ihr schwerer Atem in heftigen Stößen aufs neue durch das Gemach röchelte, wie das Stöhnen eines mit dem Tode Ringenden.

Es war totenstill im Hause. Niemand wagte es, auch nur das leiseste Geräusch zu machen …

*

Plötzlich schlug drunten die Tür.

Ein hastiges Stimmengewirr, daß die Kranke aus ihren Kissen auffuhr, aber matt und kraftlos wieder zurücksank, bewußtlos.

Willy horchte.

War das nicht Mignon? …

Jetzt hörte er seinen Namen.

Er eilte hinaus.

Das Mädchen suchte die Aufgeregte zu beschwichtigen, die sich den Eintritt zu dem Krankenzimmer erzwingen wollte.

Als Willy in der Tür erschien, riß sie sich los und stürzte ihm entgegen.

Sie zitterte am ganzen Leibe.

Er zog sie hastig in das erste Zimmer hinein. Allein sie entwand sich ihm und eilte weiter, durch das Boudoir in das Krankenzimmer.

Vor dem totenblassen Gesichte Frau Annas jedoch wich sie wieder zurück und warf sich in Willys Arme.

»Hilf mir, Will, hilf mir,« flehte sie fassungslos. »Sie haben mir wehren wollen, zu Dir zu kommen. Horch! wer kommt. – Bitte, bitte … mach' die Türen zu. – Ich mußte zu Dir.«

»Komm, Mignon, komm.«

Und er führte sie langsam in das kleine Zimmer, um die Mutter nicht zu stören.

»Aber Mignon, was ist denn? So sprich doch.«

Sie strich sich über das wirre Haar, in dem die Schneeflocken geschmolzen waren und wie Perlen hingen.

So wie sie gewesen, war sie durch das Schneetreiben geeilt.

Sie schmiegte sich an ihn, faßte nach seinem Kopfe, und in ihrer Herzensangst liebkoste sie ihn mit irrer, zitternder Hand; ohne zu wissen, was sie tat.

»Du verläßt mich nicht … Ich bitte Dich, Will, Du verläßt mich nicht. – Ich weiß nicht, was sie reden. Ich verstehe kein Wort mehr. Nur das eine fühle ich, daß sie Dich mir nehmen wollen …«

Sie schmiegte sich fester an, und indem sie den Kopf an seine Brust legte und ihn mit beiden Armen umfaßte, flüsterte sie:

»Du hast mich noch immer lieb, Du behältst mich auch lieb, ja? – Wer hat es mir denn eben gesagt, ich dürfe Dich nicht lieben? – Du wärest mein Bruder, und deshalb …«

Sie lachte wie gequält und stöhnte auf:

»Es ist ja nicht wahr! … Wie soll denn das sein? – Nicht wahr, es ist nicht möglich! Sie sagen das alles nur, weil sie uns trennen wollen; aber sie werden es doch nicht können. – Es ist nicht so, – sag' mir doch, daß es nicht so ist! … Ich werde ja sonst wahnsinnig! … Ich weiß nicht mehr, was ich sage, was ich tue …«

»Mignon, ich bitte Dich, werde doch ruhig.«

Sie machte sich halb von ihm los, ängstlich, und lauschte.

»Horch, es kommt jemand …«

»Nein, Mignon, es kommt niemand.«

»Dulde es nicht, dulde es nicht, Will. Sie haben mich nicht fortlassen wollen, Minna nicht und Vater. Ich bin ihnen doch entwischt. Sie kommen ja doch und wollen mich holen …«

»Aber Mignon, es will Dir niemand etwas zuleide tun.«

»Wie gut Du bist, wie gut! Nein, Du leidest es nicht. – Mein Kopf tut mir ja so weh … Weshalb haben sie das nur gesagt? Es ist so schlecht von ihnen. Ach Will … Will! …«

Ihr erregtes, fahriges Wesen erschreckte ihn, ihre Augen suchten im Zimmer umher, und dabei schien sie angespannt zu lauschen.

Jetzt ging drunten wieder die Tür.

Die Stimme kannten sie beide.

Sie fragte nach Mignon.

Dann hörten sie hastige, suchende Schritte.

Sie wollte aufspringen, allein er hielt sie, so daß sie beide fast über einen umgeschlagenen Teppich zu Boden gestürzt wären.

Aber er hielt sie. –

Dann wurde die Tür ungestüm aufgerissen, und nun standen sie sich gegenüber …

Einen Augenblick kochte es in ihm. Unwillkürlich ballten sich seine Fäuste.

Es war, als ob er sich auf ihn stürzen wollte.

Einen Augenblick nur, eine Bewegung des Schreckens, der instinktiven Abwehr.

Aber Mignon hatte die Bewegung gesehen.

Sie riß sich von ihm los und warf sich an die Brust ihres Vaters, der sie beim Namen gerufen hatte, warf sich ihm mit heftiger Geberde entgegen, als wolle sie ihn vor einer drohenden Gefahr schützen. –

Die beiden Männer sahen sich an, und sie wußten ohne ein Wort, daß sie sich nichts mehr zu sagen hatten …

Petri sah es an Willys Augen, daß es kein Geheimnis mehr zwischen ihnen gab.

An ihm vorüber sah er durch die offene Tür in das Halbdunkel des Krankenzimmers und sah, während er sein Kind fester an sich preßte, als ob die Kranke sich aufrichte.

Wie Todfeinde hatten sie sich gegenüber gestanden, Auge in Auge, und hielten stumme Abrechnung miteinander.

Dann streckte der Mann seine Hand vor, suchend, tastend, sein ganzes Wesen schien sich zu ändern, er stand da wie ein Bittender, und indem er auf das Kind niedersah, das er mit dem andern Arm umschloß, sagte er leise:

»Willy! …«

Aber der wehrte ihm, und als ob jener zu der Mutter eindringen könne, stellte er sich vor die offene Pforte, wie zum äußersten entschlossen.

»Nein! … Nein! …«

Er knirschte es zwischen den Zähnen durch, fast unhörbar.

Aber der andere hörte es, und er wußte, daß er in diesem Augenblicke nichts gegen dieses harte, unerbittliche Nein! vermochte.

Er gab es auf zu bitten, denn er fühlte, wie ihm Mignon schwer und schwerer im Arm hing.

Mit einem letzten, Versöhnung suchenden Blicke hob er sein Kind auf, das besinnungslos in seinem Arm lag, und trug es hinaus in den Schnee, – aus dem Hause, aus dem ihn sein Sohn hinauswies …

Er hatte kein Recht, ihm zu trotzen, jetzt nicht; er konnte nur als ein Bittender wiederkehren, und er wußte, daß Bitten hier jetzt kein Gehör finden konnten.

Willy stand noch immer vor der Tür, trotzig abwehrend, daß seiner Mutter niemand nahe kommen sollte.

Dann aber löste sich die Erbitterung in ihm.

Um seiner Schwester willen! –

Er wandte sich der Mutter zu.

Wie gebrochen sank er an ihrem Lager nieder und griff nach der Hand, die so matt und lässig herabhing.

Dann – als stocke ihm das Blut für einen Augenblick …

Das war ja kein Leben mehr …

Das war der Tod, der heimlich gekommen war, der sich hinterrücks eingeschlichen und ihm das Liebste geraubt hatte, was er je besessen.

Und voller Entsetzen wich er zurück. –

Er hatte den Tod noch nie gesehen, und er mußte immer in dieses bleiche, kalte Gesicht starren, in diese halbgeöffneten Augen mit dem gebrochenen Blicke, die er ihr nicht zu schließen wagte.

Ihm graute vor dem Tode.

Und das Entsetzen war so übermächtig lähmend, daß der Schmerz nicht in ihm aufkommen konnte. –


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