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Langsam tastete er sich die dunkle Treppe zu seiner Wohnung hinauf, mit dem Fuße gegen jede Stufe schlagend, während er sonst im tiefsten Dunkel mit unfehlbarer Sicherheit seinen Weg zu finden wußte.
Als er die Korridortür öffnete, sah er am Lichtschimmer, daß seine Wirtsleute noch wach waren.
Er vernahm Stimmengewirr, ohne daß er jedoch ein Wort verstehen konnte.
Dann suchte er im Zimmer nach Streichhölzern. Und da er sie nicht gleich fand, legte er im Dunkeln Hut und Rock ab und ließ sich in einen Sessel fallen, indem er in die Finsternis starrte, die nur von einem schmalen Streifen des Mondlichtes erhellt wurde, daß er eben den Schreibtisch und das Bücherregal erkennen konnte.
Nebenan surrten beständig lachende Stimmen, ein unbestimmtes Geräusch, das ihn erregte und ärgerte.
Und dazwischen hörte er scharf und deutlich das Ticken der kleinen Stutzuhr mit ihrem regelmäßigen Schlage.
Endlich zündete er Licht an. Allein nun schien es, als ob die Gedanken, die ihm nicht aus dem Sinn gingen, Farbe bekamen; sie traten greller hervor.
Er ging, die Hände auf dem Rücken, auf und ab, bis er vor den Spiegel kam. Er blieb stehen, um sich zu betrachten.
Wie er aussah … Er erschrak vor sich selbst. –
Einmal blieb er vor dem Fenster stehen, dessen beide Flügel er weit geöffnet hatte, daß die feuchte kühle Nachtluft in das dumpfige Zimmer eindrang.
Er sog mit geöffnetem Munde diese schwere Nebelfeuchte ein.
Und plötzlich grundlos quoll es in ihm auf, daß er sich auf das Sofa warf und weinte, haltlos, fassungslos.
Er ertrug es nicht länger. Es war wie ein stechender körperlicher Schmerz.
Und dann, ohne zu denken, hatte er die untere Tür des Schreibtisches geöffnet und nahm einen flachen schwarzen Kasten heraus.
Am besten war es, ein Ende zu machen.
Die Mutter hatte sie ihm einst zum Geschenk gemacht. Das fiel ihm jetzt ein, als er die Waffe in die Hand nahm. Patronen lagen daneben im Kasten. Er spannte den Hahn und spielte mit dem Abzugsbügel. Das harte Knacken des aufschlagenden Hahnes durchschauerte ihn.
Es rieselte kalt durch seine Adern, prickelnd, wie ein kleines Stückchen Eis.
Dann setzte er die abgedrückte Waffe an die Stirn. Es war wie ein bohrender kalter Schmerz, etwas ungemein Beruhigendes; aber er legte sie wieder in den Kasten und verschloß ihn.
Was gewann er damit? …
Er hatte das ungewisse Gefühl, als ob er auch nach dem Tode nicht vergessen werde, als ob er auch dann weiter dulden müßte.
Er hatte keine Mutter mehr! Nichts mehr im Leben.
Einen flüchtigen Augenblick dachte er an Mignon, dann war auch der Gedanke wieder ausgelöscht. Sie konnte ihm jetzt nichts sein.
Und mit einem Male fürchtete er sich, so allein im Zimmer zu sein. Er wußte, wenn er noch länger blieb, dann nahm er doch seine Zuflucht zur Kugel, nur um nicht mehr denken zu müssen.
Er wollte nicht unterliegen. Es war wie im Trotz, daß er sich an das Leben klammerte. –
*
Er schlich sich auf den Zehenspitzen hinaus, damit ihn die nebenan nicht hörten, die lachten und sangen und eben ein gläserklingendes Hoch ausgebracht hatten.
Aber man hörte ihn doch.
Als er sich die Treppe hinuntertasten wollte, wurde die Tür wieder geöffnet, ein breiter Lichtstrom quoll hervor. Eine Gestalt zeigte sich im Rahmen der Tür, Marta, die ihm nachrufen wollte. Allein er war schon die Treppe hinunter und die Tür schloß sich wieder. –
Er war auf der Straße. – Ein vor dem Hause patrouillierender Schutzmann sah ihn von der Seite an. Es war Mitternacht vorbei.
Die Wolken hatten sich zerstreut, und leichteres flüchtiges Gewölk verdeckte für Augenblicke die blaßgelbe Scheibe des Mondes.
Die Straßen waren feucht. Hie und da auf dem Asphalt unregelmäßige, trocken helle Flecke.
Willy schritt der Leipziger Straße zu, am Kaiserhof vorüber, bis zur Böhmischen Kirche und nun die Friedrichstraße zurück bis zu den Linden.
In der Mitte der Allee ging er ein paarmal vom Tor bis zum Denkmal.
Er wollte sein Blut zur Ruhe zwingen. –
Als er wieder am Café Bauer vorüberkam, blieb er stehen und blickte in das grelle Licht, das ihm aus den großen Scheiben entgegenstrahlte.
Dann, wie angezogen von dem Licht, ging er hinüber.
Die Türen wurden vor ihm aufgerissen, und er trat ein. Man nahm ihm Hut und Ueberzieher ab, und in eine Ecke setzte er sich, an einen der kleinen runden Marmortische.
»Befehlen, bitte?«
Er antwortete nicht. Er hörte gar nicht, daß man ihn um etwas fragte.
»Schwarz, bitte?«
Und dann, ohne länger auf eine Antwort zu warten, brachte man ihm den Kaffee.
Er sah über diese lustig schwatzende, rauchende Menge hin, dieses Wogen der Köpfe, dieses Ein- und Ausfluten, das Hin- und Hereilen der Kellner, Rufen und Winken. Und es bereitete ihm ein grausames Vergnügen, mit seinem Weh unter all diesen gleichgültigen Menschen zu sitzen, die ihn nichts angingen, die nichts von ihm wußten noch wissen wollten.
Er hörte sie lachen und lärmen und saß selbst stumpf und reglos da, wie geistesabwesend. –
Einmal nahm ein biederer alter Herr an seinem Tische Platz und beobachtete ihn. Er hatte ihm freundlich guten Abend gewünscht, ohne daß Willy geantwortet hatte.
Und jetzt der Gedanke: wenn er diesem Herrn, den er nie gesehen hatte, vielleicht nie wiedersehen würde, seine Geschichte von heute erzählen würde? –
Das Gesicht, das der machen würde! – Er hielt ihn dann gewiß für wahnsinnig. –
Er war nahe daran, den Gedanken, der ihn nicht wieder verließ, auszuführen, als der Herr zahlte und ging.
Nun saß er wieder allein da. –
Um ihn her wechselten die Gäste, immer neue, die ihn nicht beachteten. Er saß noch immer vor der vollen Tasse, die er nicht berührt hatte.
Dann rüttelte er sich aus seinem Brüten auf.
Er stand auf, und ein Kellner half ihm in den Rock. Dann fiel ihm ein, daß er auch noch zahlen mußte.
Wie ein Nachtwandler, ohne ein Gesicht erkennen zu können, ging er zwischen den Tischen hindurch.
Er war wie trunken, und ein paarmal geriet er in Gefahr, von einer Droschke überfahren zu werden.
Endlich wurde er durch das Umherlaufen todmüde und kehrte um. Allein er war ganz in den Nordosten der Stadt gekommen und hatte Mühe, sich wieder in bekannte Gegenden zurück zu finden.
Zu Haus legte er sich, ohne Licht anzuzünden, nieder. Allein sein Blut schlug so wild, und erst nach stundenlangem, unruhigem Herumwälzen verfiel er in einen fieberhaften, oft unterbrochenen Traumschlaf.
*
Als er erwachte, war es heller Tag.
Allein seine Gedanken waren noch nicht aufgerüttelt, und erst nach geraumer Zeit hatte er alle Erinnerungen wieder beieinander, und das jagte ihn aus seiner Schläfrigkeit.
Jählings, wie unerwartet kam ihm die Wirklichkeit.
Am liebsten wäre er liegen geblieben, um mit keinem Menschen in Berührung zu kommen.
Hätte doch sein Schlaf fortgedauert, ohne Ende, ohne Erwachen …
Wie grausam das alles aussah im fahlen Lichte des nüchternen Morgens.
Er hatte nur immer an sein Verhältnis zur Mutter gedacht.
Und Mignon? –
Sie war die Tochter Petris … seine Schwester!
Und er hatte sie zu lieben geglaubt …
Wenn er jetzt nachdachte, so war es nicht anders wie früher. Er liebte sie, seine Schwester.
War denn alles, alles eine Lüge?
Nichts – nichts hatte ihm je gesagt, daß sie seine Schwester sei. Er hatte ihre Schönheit geliebt, ihre Anmut. Sie hatte in seinen Armen gelegen, und er hatte sie geküßt …
Er hatte eine Mutter und eine Geliebte verloren, um eine Schwester zu finden.
Er hatte also doch noch ein Wesen auf der Erde, das ihm nahe stand, nach dem er sich sehnte, seine Schwester! –
Aber jetzt konnte er sich noch nicht in den Gedanken finden.
Anfangs hatte er selbst nach Charlottenburg hinausgehen wollen. Dann sandte er einen Boten, um Nachricht zu erhalten.
Das Fieber hatte nicht nachgelassen, und die Mutter war noch nicht zum Bewußtsein gekommen.
Mignon war bei der Kranken und ließ ihn bitten, sobald als möglich herauszukommen. Auch sein Vater verlange nach ihm.
Und wieder dieses Wort: Sein Vater! …
Er brachte es nicht fertig, jetzt hinauszugehen, es war ihm unmöglich.
Er versuchte, seiner gewohnten Arbeit nachzugehen, um seine Gedanken abzulenken, aber er vermochte es nicht. –
*
Als er am Nachmittage in seine Wohnung kam, fand er eine Karte Mignons vor, die ihn beschwor, zu kommen.
Weshalb er gestern fortgegangen sei, weshalb er sich heute nicht sehen lasse?
Sie hatte recht.
Einmal mußte er der Mutter ja doch wieder entgegentreten. Mehrmals war er im Begriff hinzugehen, wenn er daran dachte, daß die Mutter krank und hilflos dalag.
Mochten sie denken, was sie wollten; er konnte es nicht.
So ward es Abend. –
Die Dämmerung brach ein, und es war kalt geworden. Der Frost des Morgens hatte die Feuchtigkeit aufgesogen und Eiskristalle gebildet, die nur vor der Nähe der Menschen und dem aus den Häusern strömenden warmen Dunst wegtauten.
Die Luft hing schneidend kalt, frostrein. Die grauen Wolken am Himmel waren weißem Schneegewölk gewichen.
Willy lehnte an dem warmen Ofen, während in den Ecken schon völlige Dunkelheit lag.
Er stand mit dem Rücken gegen den großmächtigen weißen Kachelofen gelehnt, der ihn so behaglich durchwärmte.
Es klopfte und schreckte ihn aus seinen Gedanken.
Er glaubte, es sei seine Wirtin, und rief achtlos: Herein! ..
Mignon stand auf der Schwelle. –
Im grauen Mantel, ein schon winterliches Barett auf dem Kopfe, aber ohne Schleier, blieb sie einen Augenblick in der Tür stehen.
»Mignon!«
Und ehe er es wehren konnte, war sie auf ihn zugeeilt und lag an seiner Brust, indem sie die Arme fest um seinen Hals kettete, daß er sich nicht freimachen konnte.
Als er ihr Gesicht sah, flüchtete der Gedanke, daß sie etwas wisse.
Als er versuchte, sich frei zu machen und sich abkehrte, fragte sie voll Bangen:
»Will! – Was ist? …«
Er antwortete nicht.
Sie faßte mit beiden Händen nach seiner Schulter, aber er unterbrach sie:
»Was willst Du hier?«
Und sie vergaß sich selbst und ihre Angst:
»Will, Deine Mama verlangt nach Dir.«
»Aber Will! Der Doktor ist in Unruhe. Ich glaube, er hat seine anfängliche Hoffnung verloren. Er sagt nichts Bestimmtes, aber ich höre es heraus, aus all seinen Worten. – Deine Mutter ruft Dich, und Du stehst hier und bedenkst Dich? – Nein Will, was sie uns auch Böses getan hat, das darfst Du nicht … Will, um alles in der Welt, so sprich doch. – Was ist denn?« –
Er suchte sich von ihr abzukehren.
»Will, Du hörst nicht auf mich. Du hast mich nicht mehr lieb!«
»Doch Mignon, doch …«
Sie klammerte sich an ihn und bat:
»Du liebst mich nicht mehr! – Was ist geschehen? Ich bitte Dich, sag mir alles …«
Was sollte er ihr sagen? … wie ihr die Wahrheit beibringen?
Und sie suchte seinen Kopf an sich zu ziehen, und jetzt, da sie fühlte, daß ihn irgend etwas ihr entfremdet hatte, fing sie an zu flehen; und in dem aufdämmernden Gefühle von einem Ereignis, das sie selbst bedrohte, suchte sie ihr Angstgefühl in Liebkosungen zu vergessen.
Sie ahnte nicht, daß sie durch ihre Leidenschaftlichkeit, der sie völlig freien Lauf ließ, ihm grausame Qualen bereitete.
Sie fühlte den Widerstand, und wie gebrochen gab sie es auf. Sie erreichte doch nichts für sich. Aber sie bat für seine Mutter.
Und gemartert von ihrer Liebe, von ihren Bitten, gab er endlich nach, nur um Ruhe zu finden, um diesen schrecklichen Zustand nicht länger ertragen zu müssen.