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Mit dem Sinken der Sonne war ein dichter grauer Nebel eingebrochen, der alle Gegenstände mit seinen flutenden Schleiern umhüllte, daß die Flammen der Laternen von einem breiten regenbogenfarbigen Schleier umgeben waren.
Es war frierend kalt geworden, und der Nebel schlug sich in feinen Eiskristallen auf allen Gegenständen nieder, so daß die Bäume und Sträucher des Tiergartens im weißen Reifschmucke prangten.
Willy fuhr mit Mignon nach Charlottenburg hinaus. Auf der ganzen Fahrt sprach keiner von ihnen ein Wort. Zuweilen nur griff sie nach seiner Hand, die er ihr willenlos ließ und ihr durch einen leichten Druck dankte.
Jeder von ihnen war mit seinen eigenen trüben Gedanken beschäftigt.
Als sie vor dem Garten der Sophienstraße standen, zauderte Willy einen Augenblick, als wolle er noch jetzt wieder umkehren.
Mignon ging voran, und er folgte ihr.
Er hatte sie gebeten, bei ihm zu bleiben, und sie führte ihn zu seiner Mutter. –
Frau Anna lag noch immer im Fieber. Am Nachmittage war sie eine halbe Stunde zum Bewußtsein gekommen und hatte Mignon angefleht, Willy aufzusuchen.
Gegen Abend war sie wieder besinnungslos geworden und hatte heftiger gefiebert als zuvor.
Jetzt warf sie sich unruhig.
Sie hatten die Wärterin fortgeschickt und waren allein mit der Kranken, die undeutlich im heftigsten Fieberschauer murmelte.
Mignon bat ihn, daß er näher kam.
Er empfand fast Grauen vor ihr, und erst als Mignon ihm erzählte, in welch fürchterlicher Angst die Mutter gewesen sei, daß sie sterben könne, ehe er ihr vergeben habe, ehe sie noch einmal ein Wort miteinander gesprochen hatten, – traute er sich nach ihrer Hand zu fassen, die sie mit tastenden Fingern krampfhaft umschloß.
Er fühlte diese heiße Hand in der seinen, und nun war ihm das Recht genommen, sie noch zu verdammen.
Er kehrte sich zu Mignon um, er wollte sich der Schwester vertrauen, als der Diener kam mit der Bitte von Doktor Braun, er möge zu ihm kommen.
Dann riefen sie die Wärterin zurück, und er ging hinauf. –
*
Das Herz schlug ihm, als er zu dem Manne emporstieg, der ihm bis gestern als sein Vater gegolten hatte.
Aengstlich wartend saß der Kranke in seinem Stuhle, mit bleichem, eingefallenem Gesichte; seine mageren, durchsichtigen Finger irrten unruhig spielend auf der Decke, die über seine Knie gebreitet war.
Als Willy eintrat, flog ein Lächeln der Erlösung über das abgehärmte Gesicht, und er ließ die Hand nicht los, die ihm Willy mit rascher Ueberwindung hingestreckt hatte.
Er mußte sich neben ihn setzen, und er zog ihn an sich, während er ängstlich nach der Mutter forschte.
Ahnungslos saß der Aermste da, wie angefesselt.
Und nun fiel es Willy wie eine untilgbare Schuld auf das Gewissen.
Er hatte ihn nie besonders geliebt, sein Leben hatte einzig der Mutter gehört. Erst jetzt, wo er ihn verloren hatte, keimte eine opferwillige Kindesliebe in ihm auf, die ihn alles vergessen ließ. Der Schmerz brachte sie einander nahe, wie zwei gute Freunde.
Wie er um die Mutter bangte und sorgte.
All die verschlossene Liebe, die er je für sein Weib empfunden hatte, kam ihm auf die Lippen.
Willy saß neben ihm und mußte das mit anhören, jeden Augenblick im Begriff aufzuspringen, um hinauszustürzen, weil die Qual unerträglich ward.
Der Kranke hielt ihn an der Hand, zog ihn näher zu sich heran und erzählte von vergangenen Tagen.
Es war, als ob er sein Herz ausschütten mußte. –
Er erzählte ihm, wie er Anna zum ersten Male gesehen hatte, alle Einzelheiten peinlich genau, bis auf das Kleid, das sie an dem Tage getragen hatte.
An Liebe hatte er nicht gedacht, ganz mit seinem Studium beschäftigt, einzig mit der festen Absicht, sich einen Namen zu machen.
Da war ihm Anna begegnet; und er hatte von dem Augenblicke an nur den einen Gedanken gehegt, sie um jeden Preis der Welt zu erringen.
Anfangs schien es, als ob sie ihn gern sähe, dann, als sie über sein Gefühl nicht mehr im unklaren sein konnte, setzte sie ihm eine höfliche, aber ruhige Abwehr entgegen.
Und dann plötzlich war der Umschlag eingetreten; sie hörte seine Werbung an, aber sie entschied sich noch nicht.
Sie schien zurückhaltend, zaudernd, wie ungewiß über sich selbst, und dann, als er die entscheidende Frage stellte, sagte sie Ja.
Er erzählte im Eifer, sein Herz auszuschütten, von seinen Reisen, aus der ersten Zeit ihrer Ehe.
Anna war anfangs überaus nervös gewesen, dann war Reinhold Petri aus Paris zurückgekehrt, er hatte ihn kennen gelernt, und von da an hatten sie so vieles gemeinsam unternommen.
Endlich, im zweiten Jahre ihrer Ehe, war Willy geboren worden. –
Und der Kranke redete immer weiter, ohne zu sehen, wie bleich Willy war, wie er die Nägel in die Innenfläche der Hand krallte, um nur ruhig zu bleiben.
Er forschte und fragte immer aufs neue, was der Arzt gesagt habe.
Ein herzzerreißendes Mitgefühl bemächtigte sich Willys. Er konnte es nicht länger ertragen, die Mutter aus diesem Munde wie einen Engel gepriesen zu sehen.
Und er rettete sich endlich.
*
Er schloß sich in sein Zimmer ein, um über diese Qual fortzukommen. Jetzt erst wußte er, was sie dem Kranken gewesen war. Daß er all seine Leiden so ruhig und geduldig ertrug, nur weil sie in seiner Nähe war.
Er hatte nicht mehr die Kraft des ersten Schmerzes, sie anzuklagen und zu verdammen.
Seit er sie hilflos, ohne Bewußtsein hatte daliegen sehen, so verändert, bleich und abgezehrt, gealtert um mehr als zehn Jahre; seit er den wühlenden Schmerz in ihrem zusammengezogenen Gesicht, in den verkniffenen Lippen gesehen hatte, wagte er nicht mehr, sie zu verachten, wie er das gestern getan hatte.
Aber eine Erbitterung ohnegleichen hatte sich seiner gegen Reinhold Petri bemächtigt. Er haßte ihn, denn er allein war in seinen Augen der Schuldige.
Einen Augenblick lang kam ihm der Gedanke, ihm gegenüberzutreten und Rechenschaft zu fordern, – dann das lähmende Bewußtsein: es war sein Vater, dem er das Leben verdankte, ein Leben, das er jetzt am liebsten von sich geworfen hätte.
Er ging in den Garten hinab, weil es ihn im Hause nicht duldete. –
Der Nebel war zerflattert und der Himmel sternklar.
Nur am Horizonte flüchtige Schneewolken.
Der Mond stand im dritten Viertel.
Er schien nicht wie sonst am Himmel zu kleben, wie eine dünne Scheibe schwebte er frei in der kalten Luft, ohne Strahl, bleich und melancholisch.
Die Rutenzweige der Gebüsche und die tastenden Aeste der Bäume waren mit gläsernem Sinter überzogen, schneeweiße Kristalle mit spitzen, scharfen Eisnadeln.
Der Sand knirschte hart unter den Füßen des langsam Dahinwandelnden.
Zuweilen brach ein trockener Zweig, oder ein welkes, am Boden treibendes Blatt, das vom Froste gedörrt und mit Reif überzogen war, zerkrümelte unter seinen Schritten.
Langsam zog eine blendende Schneewolke am Monde vorbei und verdeckte die Silberfunken der scharf umrissenen Sterne mit ihren blinkenden, wechselnden Lichtern.
Dunkel hoben sich vom Himmel die gewaltigen Rechtecke der Häuser ab. Nur auf den Dächern lag der bleiche Mondschein.
Willy achtete der Kälte nicht und nicht der ruckweisen Stöße des schneidenden Nachtwindes, ein tief bis in die Knochen durchschauernder Lufthauch. –
Jetzt gellte durch die tiefe nächtliche Stille der ferne schrille Pfiff eines Zuges.
Und es antwortete das langgezogene Geheul eines Hundes in einer der nahegelegenen Tonwarenfabriken.
Ein klagendes, endloses Geheul, wie ein jammerndes Gewinsel, dem ein wildes, abgerissenes Kläffen folgte.
Dann wieder die alte Stille, durch nichts unterbrochen als den leis knirschenden Schritt des einsamen Wanderers, der sich noch immer nicht entschließen konnte, in das Haus zurückzukehren, der zuweilen stehen blieb und hinaufschaute zu dem frostigen Himmel, wo die tausend Sternfunken standen und die blasse Mondscheibe in dem tiefen Dunkelblau zwischen federleichtem Gewölk schwamm. –
Ein morscher Zweig brach und fiel zwischen den Aesten herab, hie und da einen kleineren mitreißend; und ein feines, fast unmerkliches Schneegeriesel folgte ihm nach, stäubend wie Silberpulver.
Die Kälte der Nacht strich um sein Gesicht.
Er schauerte zusammen. –
Er war jetzt ganz ruhig geworden, als ob der Schmerz in ihm gestorben sei, und langsam verließ er den Garten, in dem jetzt der Mond Alleinherrscher war, und trat in das Haus, wo seine Mutter im Fieber lag …
Es war ja noch immer seine Mutter! –