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Will hatte kaum den Fuß auf die unterste Stufe der hellerleuchteten Treppe gesetzt, als sich droben eine Tür öffnete und die Mutter ihm entgegenkam, lächelnd und freudestrahlend, und ihn in das kleine Vorzimmer zum Salon zog. Ein schmaler, einfenstriger Raum, der zu einer Art Toilettenzimmer umgewandelt war.
In der Mitte ein niederer Diwan mit buntgemustertem Teppich – ein großer Toilettenspiegel an der einen Wand, an der andern Garderobeständer, an denen schon einige Sachen hingen, zu denen auch Will Hut und Mantel hing, ehe er das Bukett sorgsam aus seiner bunten Seidenpapierhülle schälte.
Keine Blume war gebrochen, keine Spitze zerknittert.
Frau Anna hatte sich auf den Rand des Diwans gesetzt und ihm zugeschaut, bis er ihr jetzt die weißen Blüten überreichte, in die sie tief aufatmend ihr Gesicht versenkte.
»Du Verschwender!« schalt sie ihn voller Glück. »Wie schön die Blumen sind, wie wunderbar schön!«
Er stand vor ihr und sah auf sie nieder, wie sie dasaß und jetzt nach seiner Hand griff und ihn zu sich zog. Er beugte sich nieder, und voll überströmender Zärtlichkeit griff sie nach seinem Kopfe und küßte ihn auf die Stirn.
»Du leichtsinniger Verschwender! Ich glaube, Du wärest imstande, alles hinzugeben, selbst Dein Letztes, nur um mir eine Freude zu bereiten, und wenn sie auch nur einen Augenblick währte.«
Er nickte beistimmend und sah sie lachend an.
»Dir käme es nicht darauf an, mir die ganze Welt zu Füßen zu legen, wenn die andern dann auch gar nichts behielten.«
»Gewiß,« sagte er scherzend. »Die Welt und den Himmel, mit all seinen Sternen auch.«
»O, Du Himmelsstürmer! Es ist nur gut, daß Du nicht so groß bist, um bis zu den Wolken zu reichen. Die armen Sterne sonst!«
»Es wäre ja für Dich, meine liebe, kleine Mama.«
»Ich glaube, Du könntest alles für mich tun. Wenn ich wollte, am Ende gar Mord und Totschlag.«
»Für Dich alles!«
Er sagte es halb lachend, aber seine Stimme klang fest und ruhig, und in seinen dunklen Augen lag eine Entschlossenheit, die verriet, daß er zu allem bereit sein konnte für sie.
»Du Närrchen,« sagte sie und fuhr liebkosend über sein leichtgelocktes dunkles Haar.
Er schmiegte sich an sie, so daß er halb vor ihr kniete.
»Du Närrchen,« wiederholte sie, und ein unnennbares Gefühl des Glückes, wie eine verhaltene Tränenflut durchbebte sie, während ihre schlanken Finger mit seinen Haaren spielten.
»Wie schön Du heute wieder bist,« sagte er plötzlich und griff nach ihren Händen. »Ich glaube, Du wirst immer jünger und schöner.«
Eine leichte Röte flog über ihre blassen Wangen, daß er sich diese kindischen Schmeicheleien nicht abgewöhnte, und doch war sie darüber so glücklich.
»Mußt Du denn immer schmeicheln? – Du willst mich nur ausspotten. Ich bin längst eine alte Frau.«
Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Du bist viel jünger als all die andern.«
»Und habe dabei einen großen Herrn Sohn, der wie ein kleines Kind schmeichelt und wie ein rechtes Baby süß tut.«
»Bist Du böse darüber, Ma?«
»Nein Will, nicht böse! Nur glücklich … überglücklich.«
»Ma!«
»Wenn ich Dich nicht hätte, Will …«
Sie seufzte leicht auf und umfaßte ihn.
»Aber Mütterchen, bist Du denn nicht glücklich? Fehlt Dir etwas? Was redest Du nur so.«
»Du guter Junge! …«
Sie blieben noch immer in diesem traulichen, engen Zimmer, ohne rechte Lust, in den Salon zu gehen, von wo die Laute einer harten aufdringlichen Stimme bis zu ihnen herübertönten.
Es war traumhaft still hier, und es lag etwas so geheimnisvoll Berauschendes darin, eine Zeitlang noch schweigend ihr Beisammensein voll zu genießen, so nahe beieinander sein zu können in dieser behaglichen Stille, diesem unausgesprochenen Glücke.
Will sah sie an. Sie war heute schöner als je.
Die dunklen feinen Augen schimmerten in feuchtem Glanze, wie in Sonnentränen, die schmalen Lippen waren wie von innerer Erregung blutrot, und auch auf den sonst mattgelben blassen Wangen lag ein frischer Hauch, ein weiches, schwaches Rot.
Das schwere dunkle Haar hatte sie einfach aufgenommen und wie eine Krone um den Kopf gelegt, wie ein Diadem. Nur in die Stirn kräuselte es sich leicht natürlich.
Sie litt keine künstliche Frisur, und sie wußte, wie gut bei dem vollen Haar ihr diese einfache Tracht stand, die ihr durch das Ungekünstelte den Reiz des Besonderen verlieh.
Eine breite, feingliedrige Silberkette war durch das dunkelbraune Haar geschlungen. Eine gleiche Kette lag um den schlanken Hals, und ein dazu passendes Armband umschloß das feine Gelenk der linken Hand.
Sie trug ein mattgraues Kleid mit breiten Cremespitzen. Sie wußte, wie gut ihr das stand und wie gern Will diese Farben hatte. Weshalb sollte sie sich aus gesellschaftlicher Rücksicht dunkel kleiden? – Sie liebte alles Helle und Frische, die leis abgetönten Farben, die weich ineinander überflossen. Das halb Farblose war ihre Passion.
Eine süße, schwermütige Träumerei lag jetzt in ihren Augen, fast etwas Schwärmerisches, als ob sie nichts von der Außenwelt um sich herum sah, sondern andere Bilder, die einst an ihr vorübergezogen waren, fröhliche und trübe; denn das Licht in ihren Augen wechselte, als ob Wolkenschatten darüber hinglitten.
Die Stimmen im Nebenzimmer wurden lauter.
Es wurde dröhnend und wuchtig gelacht, ein Lachen, das sich allmählich abstufte – und dann ging plötzlich, ohne daß geklopft war, die Tür auf; und eine blendende Flut von Licht prallte hervor, daß sie sich wie erschreckt losließen; und im Rahmen der Tür zeigte sich ein etwa sechzigjähriger Mann, breitschultrig, hünenhaft von Gestalt, mit dichtem, grauem Haar, das tief in den Nacken fiel, und mit einem verzottelt aussehenden grauen Barte, der breit die ganze Brust bedeckte.
Und aus dieser Brust tönte ein sonores Lachen, tief und schütternd, etwas aufdringlich, fast selbstbewußt.
» Damm 't! Da haben wir ja wieder das Liebespaar.«
Er rief es mit seinem dröhnenden Lachen, und auf der Schwelle stehen bleibend, redete er in das Zimmer zurück.
»Wahrhaftig, Bruder, ich ließe mir das nicht gefallen. Ich an Deiner Stelle wäre schon längst eifersüchtig geworden. Sieh Dir nur mal diese Szene an. O Romeo, o Julia! Sieh nur … ach so, Du kannst ja nicht. Ja, ja, es ist ein angenehmes Gefühl, seine Knochen heil und gesund beisammen zu haben.«
Und wieder brach er in sein übermütiges Lachen aus.
»Na, mein Sohn filius! Machen wir denn? – Hope, ye do well, my boy!«
Er streckte Will gutmütig die Hand hin, die im Gegensatze zu diesem robusten Körper schmal und sehnig war, mit langen, feinen Fingern, die wie nervös aussahen.
Willy war bei seinen ersten Worten aufgesprungen, und auch Frau Anna hatte sich langsam, unwillig über die Störung, erhoben.
»Aber Onkel, was soll denn …«
» Never mind, my dear, ich weiß schon … weiß schon. Ich tappe nun einmal wie ein Bär in alles. Meine schöne Frau Schwägerin wird es mir schon verzeihen, wenn sie auch jetzt die Stirn runzelt. Es ist ja nichts weiter als blinde Eifersucht von Onkel Jack. Aber nun kommt herein, damit wir auch was von Euch haben.«
Johannes Braun oder, wie er sich drüben geschrieben hatte, Jack Brown, war sieben Jahre älter als Wills Vater Hermann.
Voller Abenteuerlust war er als junger Bursche nach den Staaten ausgewandert, weil es ihm daheim nicht behagte, und hatte den Yankees was vorgedudelt, wie er seine Kapellmeistertätigkeit benannte.
Er hatte sich jenseits des großen Sumpfes bald eine tüchtige Stellung errungen; vom einfachen Geiger brachte er es binnen kurzem zum Dirigenten; und als er so viel beisammen hatte, um ruhig leben zu können, kehrte er in das geeinigte Deutsche Reich zurück, gerade zur Zeit, als Hermann in seiner chemischen Fabrik mit einem Experimente jenes Unglück gehabt hatte, das ihn derart zurichtete, daß er monatelang liegen mußte und seitdem infolge einer Lähmung der rechten Seite wie ein Kind gepflegt wurde.
Er saß hilflos und verlassen im Sessel und freute sich fast kindlich über Will, der ihn begrüßte und ihm die Hand schüttelte, die linke, weil er in der anderen kein rechtes Gefühl hatte.
Da saß er in sich zusammengefallen, mit dem grauen Krankengesichte, dem spärlichen hellen Haar, über das er beständig mit zitternder Hand fuhr, und dabei versuchte er, ein recht fröhliches Gesicht zu machen, sobald Besuch da war.
Nur zwei Damen waren noch anwesend, denn seitdem Doktor Braun gelähmt war, hatten sie allen gesellschaftlichen Verkehr abgebrochen, und jene großen Feste, die früher ein Ereignis bildeten, hatten aufgehört. Frau Anna selbst hatte es so gewollt. –
Will hatte kaum ein paar Worte mit seinem Vater gewechselt, als ihr Gespräch durch Frau Emmy Dempwolf unterbrochen wurde, die sich für einige Zeit bei ihrer Schwester Agnes von Ruschwedel aufhielt.
Emmy war die verkörperte Lebensfreude, hellblond, schlank und schmiegsam, mit hellen, fast wasserblauen Augen, die munter in die Welt schauten. Sie kokettierte für ihr Leben gern, allein auf dem einsamen Gute Rintlach bot sich ihr keine Gelegenheit, und ihr Wolf oder, wie sie ihren Gatten auch zu benennen pflegte, ihr Brummbär hatte kein Verständnis dafür.
Ganz anders ihre Schwester, die Frau Hauptmann; hoch aufgeschossen, ernst und streng bewahrte sie in allen Lebenslagen ihre Würde und Hoheit. Beständig ging sie in Schwarz und trieb mit ihrem toten Gatten einen überschwenglichen Kultus, so daß sie keine zehn Worte sprechen konnte, ohne nicht dabei ihres seligen Franz zu gedenken.
Emmy Dempwolf nahm wenig Rücksicht auf den zur Schau getragenen Ernst ihrer Schwester. Wie ein Wirbelwind tobte sie durchs Leben, und ihr erstes war der Versuch gewesen, Willy in ihre Netze zu ziehen. Gerade, weil dieser große, hübsche Junge so spröde und kalt tat, wollte sie ihn aus seiner Fassung bringen. Allein bis jetzt hatte sie noch keinerlei Erfolg aufzuweisen, und sie griff daher zu immer stärkeren Mitteln.
Jetzt hatte sie wieder einen Gedanken.
»Liebster, bester Herr Doktor,« schmeichelte sie, »Sie müssen mir einen großen, großen Gefallen tun.«
»Verzeih, Papa! … Gnädige Frau wünschen?«
»Verschaffen Sie mir ein Pferd. Ein Königreich für ein Pferd. Ich muß einmal wieder einen Gaul unter mir haben, oder ich komme um.«
»Ich werde versuchen, gnädige Frau …«
»Ach, das ist himmlisch … Das wird reizend. Natürlich begleiten Sie mich. Sie können doch reiten?«
»Allerdings, aber …«
»Ach was, … kein Aber! Nein, wie ich mich freue! Wozu gibt es denn den Tiergarten. Eigentlich hatte ich Wolf gebeten, – aber mein Brummbär grommelte: er habe seine Pferde nicht zum Eisenbahnfahren. Was sagen Sie dazu? – Also abgemacht: Sie sorgen für Pferde, aber für mich ein recht wildes; Sie sollen sehen, wie gut ich damit fertig werde. In aller Frühe natürlich, wenn die anderen noch in den Federn liegen.«
Da Will lächelte, fuhr sie eifrig fort:
»Sie brauchen gar nicht so zu lächeln. Wann glauben Sie, daß ich sonst aufstehe? – Um vier oder um fünf Uhr, mein Herr … Hier allerdings müßte man ja sterben, wenn man vor acht Uhr herauskriecht. Aber dann heißt es: mit den Hühnern auf! Wahrhaftig, ich glaube, ich komme hier um, oder wenigstens auf die unsinnigsten Gedanken, wenn ich nichts zu tun habe. – Ich hatte mir das alles ganz anders gedacht, als ich meinen Wolf allein sitzen ließ. Ich wollte mit Agnes nach Warnemünde oder Heringsdorf, ganz gleich, wenn es auch schon ein wenig spät ist; und nun sitze ich hier schon über vierzehn Tage in diesem Neste, weil meine Frau Schwester mir den Willen nicht tun will. Amüsieren wir uns also auf unsere Weise, hoch zu Roß. Ich freue mich schon jetzt wie ein Kind. Also, abgemacht! …«
Sie reichte ihm ihre kleine Hand, auf deren Zierlichkeit sie sich sehr viel einbildete, und sie reichte sie ihm gleich so hoch hin, daß er sie küssen sollte.
Der junge Mann jedoch machte keine Miene. Er schüttelte ihr ganz ruhig die Hand.
Das herausfordernde Wesen der jungen hübschen Frau verletzte ihn, und sie erreichte damit bei ihm genau das Gegenteil ihrer Absicht.
Wenn er seine Mama dagegen hielt, die jetzt neben Frau Hauptmann von Ruschwedel saß, mit ihrem feinen Lächeln, diesen ruhigen, zierlichen Bewegungen, während Frau Dempwolf mit ihrem hastigen Wesen oft geradezu ungraziös wurde.
Sie hatte Willy am ersten Tage mit »Herr Doktor« angeredet, so daß er ihr einmal bescheiden bemerkte, daß er das noch nicht sei. In ihrer koketten Weise erwiderte sie ihm, wie verwundert:
»Ich kann Sie doch aber nicht wie die anderen kurzweg Will nennen! Das geht doch nicht gut.«
Unmutig hatte er geschwiegen, worauf sie triumphierend sagte:
»Dann müssen wir es doch wohl vorläufig bei dem Doktor belassen. Es tut hoffentlich nicht weh.«
Er hatte auch jetzt keine Antwort, aber jedesmal bei dieser Anrede empfand er es unangenehm.
Ihr ganzes Wesen drängte ihn, beinah ungezogen gegen sie zu werden, er, der sonst Frauen gegenüber von zurückhaltender Liebenswürdigkeit war.
Es war ihm peinlich, daß er so sein mußte, und dieses Bewußtsein machte ihn noch steifer.
Weshalb kokettierte sie so und verkehrte nicht lieber mit ihm auf kameradschaftlichem Fuße, wie er es von der Mutter her gewöhnt war, in jenem unbefangen sicheren Tone, den er jeder andern Frau gegenüber besaß.
Er verstand diese junge Frau nicht, die ohne beständige Schmeicheleien nicht leben konnte, die auch ihn zwingen wollte, ihr dergleichen zu sagen.
Was konnte ihr zum Beispiel daran liegen, ob er ihr die Hand küßte oder nicht? – Sie bat ihn um eine Gefälligkeit, die er ihr gern erfüllte. Das genügte doch.
Frau Anna ging an ihm vorüber und flüsterte ihm leise zu:
»Du mußt Frau Dempwolf zu Tisch führen.«
Er bot ihr ohne besondere Freude den Arm, und nun hatte er wieder das unangenehme Gefühl, daß sie sich fester an ihn hing und anschmiegte, als nötig war.
»Wo ist denn Herr Lautner?« fragte sie.
»Er war am Nachmittage hier und läßt sich vielmals entschuldigen. Es ist ihm nicht möglich gewesen, heute abend zu kommen.«
»Ach wie schade, er ist so furchtbar interessant!«
Lautner behandelte sie immer mit einer gewissen Ueberlegenheit, die ihr imponierte. Er gestattete sich die schärfsten Urteile und Ansichten, über die sie sogar sich entsetzte. Allein er gefiel ihr, mit seinem sicheren Gleichmute und seinem ironischen Spotte, den er an allem übte.
Wenn sie beisammen waren, so gab es stets ein endloses Wortgefecht, mit Spitzfindigkeiten, denen so leicht kein anderer folgen konnte.
Ihr Ausruf: Wie schade! war deshalb aufrichtig gemeint, und auch Willy stimmte ihm bei. Dann hätte er doch für den Abend Ruhe gehabt. –
Frau Anna hatte so lange gezögert, weil noch ein Gast fehlte. Allein Doktor Braun war ungeduldig geworden. Er war leicht erregt und nervös, wie es Kranke zu sein pflegen, die durch ihre Schwäche zu eignem Handeln unfähig sind.
Sie sah es, denn er fing an, unruhig mit den Fingern zu trommeln, und ihm zuliebe wartete man nicht länger.
Vorher aber blickte Frau Anna nochmals aus dem Fenster, in die kühlfeuchte Nacht hinaus; dann erst nahm sie ihren Platz an der Spitze der Tafel ein. An der linken Seite saß ihr Gatte, der jetzt ganz still geworden war, und neben ihm Frau von Ruschwedel mit Onkel Jack. An der rechten Seite der Hausfrau blieb ein Stuhl frei, dann kam Emmy mit Will.
»Liebste Freundin,« wandte sich Anna zu Frau Dempwolf, »ich muß Ihre Nachsicht in Anspruch nehmen. Ich hatte bestimmt erwartet, daß der Professor zur rechten Zeit erscheinen würde. Es war ihm die Ehre zugedacht, Sie zu Tisch zu führen. Ich glaube, wir lassen den Platz zwischen uns noch ein wenig frei, ich hoffe bestimmt, daß Sie bald zu Ihrem Rechte kommen werden.«
»Aber ich bitte sehr. Ich bin mit der Gesellschaft von Herrn Willy vollkommen zufrieden. Eigentlich fürchte ich mich nämlich etwas vor Professor Petri, wenn er einen so durchdringend mit seinen scharfen Augen ansieht. Ich denke dann immer, er hat was an mir auszusetzen, als wolle er wie am Werke eines seiner Schüler kritisieren. Mich sollte es gar nicht wundern, wenn er eines Tages mal sagte: Aber die Nase ist ja viel zu stumpf! Was ist denn das für eine Arbeit, es regnet ja hinein, – und dann der Kopf, der reinste Puppenkopf. Das ist nichts – gar nichts – elende Pfuscherei!« Sie karikierte Petri ungemein drollig. »Eigentlich habe ich mir gedacht, er sollte nur Giganten und Titanen aus mächtigen Felsblöcken hauen. – Neulich, als ich den Pergamonfries gesehen habe, mußte ich immer an ihn denken. Das wäre so was für ihn. Was Niedliches und Zierliches kann er doch nicht machen. Oder doch? …«
»Ei gewiß, gerade. Dort drüben der Mädchenkopf ist von ihm.«
Sie war aufgesprungen, um sich das Werk in der Nähe zu betrachten, ohne Rücksicht darauf, daß schon serviert ward.
»Ich habe nämlich eigentlich noch nie was von ihm gesehen. Er ist mir zu groß, viel zu groß. Es ist, als ob er und Onkel Jack ein paar Riesenbrüder sind. Sie sehen so schrecklich verwandt aus.«
»Was ist schon wieder mit mir,« fragte Onkel Jack, ungeniert lachend. »He! was habe ich wieder getan? – Natürlich, immer Onkel Jack.«
»Getan! – getan haben Sie nichts,« rief Emmy mutwillig. »Ich habe nur gesagt: Sie und der Professor müßten von Enak abstammen.«
»Enak? – Ach so, die ollen Riesen, weiß schon. Na ja – aber ganz stimmt das doch nicht. Es könnte höchstens ein jüngerer Bruder sein. Ja, ja, das Fiedelbogenstreichen ist 'ne gesunde Arbeit. Das gibt noch bessere Muskeln, als an 'nem Marmorblock ein bißchen herumkloppen.«
Er lachte wieder, bis er sich fast verschluckte. Dann wandte er sich an den Bruder, der in sich versunken im Sessel saß und sich von Anna vorlegen ließ:
»Ja, Bruder, siehst Du, Du bist ein bißchen aus der Art geschlagen. Warst schon als Junge ein Grübler. Immer Gedanken – und wieder Gedanken. Und wer viel denkt, wird nicht lang.«
Der Kranke lächelte resigniert und fuhr sich mit unsicherer, abgezehrter Hand durch den spärlichen Vollbart, der sein blasses eingefallenes Gesicht umrahmte.
Die wenigen Haare lagen ganz schlicht auf dem etwas länglichen Kopfe, nur die Augen blickten klug träumerisch in die Welt, als ob hinter ihren Spiegeln ein weites, seltsames Traumland liege, von dem die anderen nichts wissen noch ahnen konnten.
So still war er immer. Selten nur klagte er. Allein so scheinbar zufrieden war er erst im Laufe der letzten Jahre geworden.
Mehrmals hatten ihn die Aerzte völlig aufgegeben gehabt. Aber jedesmal hatte die dem schwächlichen Körper innewohnende Energie ihn gerettet.
Er hatte die Fabrik verkauft, weil es nicht möglich war, sie vom Krankenbette aus zu leiten, und seitdem lebten sie in der kleinen Villa, in der er einst Anna hatte kennen und lieben gelernt.
Es war von seiner Seite keine blind leidenschaftliche Liebe gewesen; und er wußte, daß auch Anna ihm nur eine liebevoll innige Freundschaft entgegenbrachte.
Es war eine musterhafte Ehe, anfangs ohne sonderliche Leidenschaft und daher ohne Unruhe.
Allmählich aber fing Hermann an, sich in seine Frau zu verlieben; er war im Begriff, sich gehen zu lassen, als er herausfühlte, wie er sie damit erschreckte, und nun sich langsam wieder vor ihr zurückzog.
Sie hatte kein Verständnis für ihn, und er hatte nicht den rechten Mut, ihr dies Verständnis für sein Wesen zu eröffnen.
Und so lernte er sich beherrschen, er blieb so gleichmäßig ruhig wie zuvor, um sie nicht zu verwirren. Er hoffte, daß es eines Tages auch bei ihr durchbrechen würde. – Aber der Tag kam nicht. –
Sie blieb sich immer gleich, leidenschaftslos kühl. Es lag in ihr etwas stolz Abwehrendes, eine so sichere Unnahbarkeit, die er nicht zu durchbrechen wagte, und sie schien nichts zu merken von seiner Unruhe, von der nervösen Hast, die ihn manchmal überkam.
Und weil er ihr seine Liebe nicht mit Worten gestehen konnte, weil er dieses feine Lächeln fürchtete, das zuweilen um ihre Lippen zittern konnte, weil er im Banne vor dieser Überlegenheit stand, tat er ihr jeden Wunsch, erfüllte er all ihre Launen, ohne Bedenken, und in seiner Liebe zu ihr, vor der sie zurückbebte, verschloß er sein Herz, damit sie ihn nicht ganz zurückstieß. –
Dann wurde das Kind geboren.
Er hatte gehofft, nun werde es anders. Aber er täuschte sich. Denn nun galt er ihr gar nichts mehr.
Jetzt lebte sie nur für das Kind, hatte nur mehr Augen und Sinne für ihren kleinen Willy, und so verlor er sie vollkommen.
Das Kind stand zwischen ihnen. Sie verließ es nicht einen Augenblick. Es diente ihr als Schild.
Da gab er alle Hoffnung auf, denn er zweifelte daran, ob es überhaupt in der Welt irgend etwas geben könnte, das imstande war, ihr Blut auch nur um einen Pulsschlag zu beschleunigen.
Dieser apathische Gleichmut, diese vollkommene Leidenschaftslosigkeit tröstete ihn andererseits wieder. Es gab so wenigstens keine Möglichkeit, daß er je irgendwelchen eifersüchtigen Anwandlungen unterlag.
Sie hatte freie Hand gehabt in all ihrem Tun und Lassen, vom ersten Augenblicke ihrer Ehe an. Er hatte ein unerschütterlich festes Vertrauen zu ihr.
Nie war auch nur das geringste Wort eines Vorwurfs gefallen. Ihr Verhalten zueinander war tadellos. Wie sie sich vor der Welt betrugen, er liebevoll, aufmerksam auf jede ihrer Bewegungen, so war er auch daheim, kein Unterschied, keine Nüance mehr oder weniger.
Zuweilen hatten sie beide das Gefühl, als ob sie sich wie zwei Gegner mit gekreuzten Klingen gegenüberständen; allein es mischte sich zugleich ein Gefühl gegenseitiger Hochachtung ein, die es nie zu einem Ausfall kommen ließ.
Wie ernst sie ihre Pflichten nahm, bewies sie zu jener Zeit, als man ihn halbverbrannt aus der Fabrik heimtrug.
Sie hatte nicht aufgeschrien, kein unnützer Laut des Jammers war in seiner Gegenwart über ihre Lippen gekommen.
Mit hingebendster Sorgfalt und unerschütterlicher Geduld hatte sie ihn gepflegt.
Sie tat ihre Pflicht, peinlich genau, jedes Wort befolgend, das der Arzt ihr sagte; sie tat ihr Aeußerstes, ruhig und still, ohne Murren, aber auch ohne in ihrer Hingebung ganz aufzugehen, so wie eine barmherzige Schwester, die ihr Leben für nichts achtet, die aber doch keine innere Beziehung zu dem Kranken hat.
Alle ihre Gewohnheiten legte sie ab. Es wurden keine Besuche mehr gemacht, ihre Freundinnen wies sie ab, und die allerneuesten Vorgänge der Gesellschaft ließen sie so völlig kalt, daß ihre Bekannten nicht wiederkamen, daß sie die Hoffnung eines ferneren Verkehrs aufgaben und von ihr fast wie von einer Weltfremden sprachen.
So wurden sie vergessen, und als ihr Gatte wieder anfing, Hoffnung auf Genesung zu geben, da hatte sie die Fühlung verloren, hatte auch das Bedürfnis nicht mehr nach jenen lärmenden, rauschenden Festlichkeiten, die ihr jetzt weniger zusagten als früher, wo sie ihr auch nur dazu gedient hatten, sich zu betäuben.
In den einsamen Stunden am Krankenbette, wenn das Nachtlichtchen seinen ersterbenden Schimmer hauchte, hatte sie Zeit gefunden nachzudenken, ihr ganzes inhaltsloses Leben an sich vorüberziehen zu lassen und Einkehr in sich selbst zu halten. –
Sie war aufgewachsen in der strengen Zucht ihrer Mutter, selbst ganz das Gegenteil, ein lebenslustiges, übermütiges Geschöpf, das gedankenlos in den Tag hineinlebte, dessen Sehnsucht darauf ausging, sich recht bald und möglichst reich zu verheiraten, um frei zu werden, um eine Rolle zu spielen. Und dann hatte sie eines Tages in kindischem Trotz, eigentlich nur um jemand anderem wehe zu tun, den ersten besten geheiratet. Und dieser erste beste war zufällig Hermann Braun gewesen, der in all der Zeit in ihrem Hause verkehrte, bis er eines Tages um ihre Hand anhielt, die sie im ersten Augenblicke ausschlug, um ein paar Tage später doch Ja zu sagen.
Sie hatte sich das eigentlich alles ganz anders vorgestellt, damals noch ganz befangen in romantischer Mädchenschwärmerei, – und dieses Mißverhältnis zwischen ihrer Empfindung, ihren heimlichen Wünschen und der prosaischen Wirklichkeit brachte sie aus aller Fassung, stumpfte sie vollkommen ab, bis sie jedes Gefühl verlor.
So war sie sein Weib geworden, mit der redlichen Absicht, ihre Pflicht wie jede andere zu erfüllen.
Wenn der Kranke erregt wurde, wenn er mit seiner Nervosität sich und andern lästig fiel, so nahm sie das geduldig, ohne ein Wort der Klage hin. Sie behandelte ihn wie ein krankes Kind, das er war, und darüber konnte er sich innerlich so empören, daß er zuweilen in Tränen ausbrach. Aber er ließ es sie niemals ahnen; nur wenn er seine Schmerzensanfälle hatte, duldete er nicht, daß sie um ihn war, und so gewöhnte sie sich wieder mehr und mehr daran, ihn fremden Händen zu überlassen.
Sie hatte ihren Gleichmut wieder gefunden und suchte jetzt wieder nach Zerstreuung.
Dann saß er allein und las.
Im Hause lagen überall eine Unzahl von Zeitungen und Zeitschriften umher, englische, französische und deutsche. Wenn er aber lesen wollte, so mußte er meist jemand haben, der ihm behilflich war, die großen Blätter umzuschlagen, weil es Tage gab, wo er fast unfähig war, ein Glied zu rühren. Und dann machte ihn die Gegenwart eines Dieners wieder nervös. Allein er mußte sich hineinfügen.
Jede naturwissenschaftliche Entdeckung, jeder Bericht einer Reise, vor allem die Vorgänge in Afrika, besonders aber alle Neuerungen auf dem Gebiete der Chemie studierte er mit einem nie ermüdenden Eifer.
Wenn er allein war, grübelte er über neue Probleme nach.
So glaubte er einmal eine Lösung gefunden zu haben, um das Schwefeleisen völlig vom Schwefel zu befreien, so daß es zu allen Arbeiten verwendbar war, ohne die Gefahr, brüchig und spröde zu werden.
Aber er war an seinen Krankenstuhl gefesselt und konnte nichts beginnen. Es handelte sich um ein paar komplizierte Experimente, und die wollte er keinen andern für sich machen lassen. Ein anderer konnte das auch gar nicht.
In derartigen Stimmungsaugenblicken war er unerträglich.
Am meisten ließ er dann an Willy seine Launen aus. – Weshalb hatte er Jura und nicht, wie er es wollte, Chemie studiert? – Dann hätte er die Fabrik übernehmen, dann hätte er sich leicht einen Namen machen können.
So wurde ihm nun kein Wunsch erfüllt. Sie hatten sich alle gegen ihn verschworen. Keiner kümmerte sich um ihn.
Am meisten gab sich noch Onkel Jack mit ihm ab, Jack, mit dem er früher auf gespanntem Fuße gelebt, von dem er lange Jahre hindurch nie ein Wort gehört hatte, bis er eines Tages unvermutet zurückkehrte und ihn nun mit seinen drolligen Erzählungen unterhielt. –
Und auch heute abend unterhielt er die ganze Gesellschaft, bei der es anfangs ziemlich still hergegangen war, weil Frau Anna alle Augenblicke nach der Tür sah und bei jedem Geräusche aufmerkte, nervöser als je.
Er erzählte von seinen Reiseabenteuern in Chili, wohin er unter Leitung eines spitzbübischen Impresario einst mit seiner Kapelle eine Tournee gewagt hatte.
Er spickte seine Erzählung mit so mancher Kraftäußerung, so mancher echt amerikanischen Wendung und erzählte so humoristisch, daß ihm alle aufmerksam zuhörten und er mit seinen Aufschneidereien immer mehr in Fluß kam, bis der Diener ihn mit der Meldung unterbrach, daß Herr Professor Petri soeben gekommen sei. –