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10.

Der Sturm tobte sich aus, die schweren Wolken krochen träge am Himmel hin, und aus dem durchweichten Erdboden quoll neblige Feuchtigkeit.

Mignon hatte sich in ihre neue Lage rasch hineingefunden. Sie hielt, was sie dem Vater versprochen hatte: kein Mensch ahnte etwas, am wenigsten konnte Frau Anna vermuten, daß Mignon Mitwisserin ihres Geheimnisses geworden war.

Nur achtete das junge Mädchen jetzt scharf auf, und sie begriff nicht, wie sie bis jetzt so blind hatte sein können. Sie fühlte jetzt die Beziehungen heraus bei jedem Worte, das Frau Anna mit ihrem Vater wechselte; jede Bewegung verriet es deutlich.

Und das schmerzte sie. Denn sie sah, wie die beiden noch immer zueinander standen, und sie sagte sich, daß dadurch der toten Mutter unrecht geschah.

Und dann fing sie an, eifersüchtig zu werden. Sie wollte den Vater einzig und allein für sich haben, aber täglich mußte sie empfinden, welch ein Anteil an Liebe ihr durch Anna Braun geschmälert wurde.

Willy ging zwischen ihnen wie mit geschlossenen Augen umher. Er ahnte nichts, er hatte kein Verständnis für die Blicke, die von einem zum andern flogen, er sah nicht gleich Mignon, daß in der Art, wie die beiden zum Beispiel sich die Hände gaben, mehr lag als eine einfache Begrüßung.

Ihn beschäftigten andere Gedanken und Empfindungen, seine Liebe zu Mignon.

Es war keine stürmisch sinnliche Neigung, kein knabenhaftes erstes Aufflammen des Herzens.

Unmerklich verkettete er sich ihrem Wesen mit täglich neuen Fäden fester und fester; ein tiefinnerliches Gefühl durchbebte ihn. Ihm schien, als habe sich sein Gesichtskreis erweitert, als sei er ein anderer geworden.

Ein einziges Wort, eine Bewegung konnte ihnen beiden das Blut in die Wangen treiben. Es entstanden in ihrer Unterhaltung jähe Stockungen, indem der eine ohne ersichtlichen Grund abbrach; es bemächtigte sich ihrer eine unerklärliche Unruhe zu Zeiten, wenn sie sich nur die Hände reichten.

Es war alles in Spannung, in erwartungsvollster Erregung, jeden Augenblick schien das entscheidende Wort fallen zu müssen; allein sobald sich eine leiseste Andeutung einschlich, tat der andere, als verstehe er sie nicht.

Die Morgenstunden hatten sie fast immer für sich allein gehabt. Meist benutzten sie die schönen Tage zu Spaziergängen in dem nahen Tiergarten. Ein paarmal begleitete Willy sie in die Stadt, und in dem wirren, sinnlos scheinenden Menschengewühl kamen sie sich wie verloren vor, wie vereinsamt; aber sie fühlten sich einander näher als je.

Eines Tages, kurze Zeit nachdem Mignon jene entscheidende Unterredung mit dem Vater gehabt hatte, wollten sie einen Spaziergang unternehmen, allein die Wege waren dermaßen ungangbar, daß sie bald umkehrten und heimgingen.

Sie betraten den Garten des Professors, wo auf den mit grobkörnigem gelben Kies bestreuten Wegen die Feuchtigkeit rasch in den Boden gezogen war.

Sie wollten zum Pavillon und mußten am Atelier vorbei. – Die Tür stand weit offen, und die Portiere flatterte hin und her, daß man ganz in den hellen Innenraum sehen konnte.

Plötzlich blieb Willy stehen, und im nächsten Augenblicke wußte Mignon den Grund, weshalb er so bleich geworden war und seine Hände zitterten.

Auf dem Diwan saß Frau Anna Braun im Promenadenanzug, den Hut auf dem Kopfe, den Schirm in der Hand haltend, neben ihr der Professor, mit dem einen Knie sich auf das Sofa stützend, über sie gebeugt, um ihr einen Kuß auf die Stirn zu geben, während sie ruhig lächelnd zu ihm aufschaute. –

Im nächsten Augenblicke schon hatte Mignon Willy am Arme gefaßt und fortgerissen.

Eine Sekunde lang schien ihm, als ob sich alles um ihn drehe, seine Finger griffen suchend in die Luft, dann gab er ihr wie willenlos nach.

»Komm!« flehte sie. »Komm! …«

Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Ich bitte dich, Willy, so komm doch!«

Er hörte nicht, daß sie ihn in ihrer flehentlichen Bitte duzte, und er folgte ihr mechanisch, wie im Traume. Das Gefühl der Wirklichkeit war ihm abhanden gekommen, und er schien völlig willenlos zu sein.

Sie zog ihn durch den Garten bis zu dem chinesischen Pavillon.

Dann sah sie ihn angstvoll, in Erwartung an, daß er irgendein Wort sagen sollte; aber er schwieg, denn er konnte noch keinen klaren Gedanken fassen.

Er ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, legte die Arme auf den Tisch und stützte den Kopf auf die rechte Hand, während er die grüngestrichene Holzplatte anstarrte, von der in Blasen die Farbe geblättert war; dabei sah er, wie seltsam gezackt doch ein Ahornblatt aussah, das auf den Tisch geweht war, dieses breite, spatenförmige, spitzzackige Blatt mit totenhaft hellgelber Herbstfarbe.

Seine Mutter! … Seine Mutter, die sich von einem Manne küssen ließ!

Es war ja Unsinn! Nur zum Lachen! – Und er wollte auch lachen, aber es zwängte ihm die Kehle zusammen, und dann wußte er wieder nicht, ob es nicht alles nur ein Traum war.

Er blickte um sich: die halbkahlen Aeste der Bäume, durch die das Haus blickte; ihm gegenüber Mignon in ihrem dunkelbraunen Kleide und dem schwarzen Jackett, die ihn mit großen unruhigen Augen wirr anstarrte, ganz seltsam. Und das da … das war das Atelier.

Plötzlich sprang er auf: er wollte wissen, ob er sich nicht getäuscht hatte.

Allein Mignon war ihm zuvorgekommen und schlang ihre Arme um ihn. Zum ersten Male lag sie fest an seiner Brust, und er wagte es nicht, sie abzuwehren.

Er blickte auf sie nieder, und das Gefühl stieg in ihm auf, wie schön sie doch war.

Er stand jetzt, ohne sich zu regen. Sie ließ ihn los und fragte dann mit zitternden Lippen:

»Wohin willst Du?«

Wie seltsam erregt ihre Stimme klang, und er wartete, daß sie noch etwas sagen würde, aber sie schwieg, und er las in ihren Augen eine hilflose Angst.

»Dorthin!« sagte er endlich.

»Was willst Du denn?«

Was wollte er? – Diese Frage, so einfach sie war, machte ihn nüchtern und nahm ihm alle Energie.

»Was willst Du denn nur, Will?«

»Ja!« sagte er tonlos. »Du hast recht! … was will ich? …«

Er hatte sie losgelassen und strich sich über die Stirn und bedeckte dann die Augen, als wolle er von der Welt nichts mehr sehen.

Plötzlich brach er zusammen, legte die Arme auf die Lehne des Gartenstuhles und barg sein Gesicht.

Mignon beugte sich über ihn und legte die Hand auf seine Schulter, aber er rührte sich nicht, obgleich sie fühlte, wie ein verhaltenes Schluchzen ihn innerlich durchbebte.

»Will, so sei doch ruhig. Was ist denn geschehen? Aber so sag' doch nur, was ist …«

»Meine Mutter!« stöhnte er, »meine Mutter! …«

Sie nahm alle Kraft zusammen, um ruhig zu bleiben.

»Was hast Du nur, Will? – Vergißt Du, daß Deine Mama und père Jugendfreunde sind? Glaubst Du, daß Deine Mutter etwas Unrechtes tun kann?«

Sie wartete angstvoll, was er antworten würde.

Er griff nach ihren Händen und zog sie zu sich, tief aufatmend.

»Nein,« sagte er, »nein, Du hast recht, das glaube ich nicht. Und Du, Du mußt erst kommen, um mir das zu sagen. Siehst Du, ich war mit einem Male so … ich wußte nicht mehr, was ich tat.«

Allein sie fühlte, daß er nur versuchte, sie zu beruhigen, und ihr kam ein Gedanke, blitzartig. Wenn sie ihm das sagte, mußte sie alles andere damit verwischen.

»Weißt Du, wer père ist?«

Er sah sie erstaunt an, ohne sie zu verstehen.

»Er ist mein Vater!«

»Dein Vater, Mignon? …«

Sie hatte recht vermutet. Es kam ihm so unerwartet, daß er die Szene darüber beinah vergaß, die er eben gesehen.

Sie war des Professors Tochter? … Er konnte sich nicht gleich hineinfinden. Und als sie das sah, fing sie an zu sprechen, hastig, immer weiter, alles … wie sie es vermutet hatte, bis sie endlich Gewißheit erhalten.

Sie stand dicht vor ihm. Er zog sie an sich, indem er den Arm um sie legte. Sie fuhr ihm im Erzählen langsam streichelnd über das Haar, bis daß er sie zu sich herabzog in seinen Arm.

Und während noch der bange Schreck ihn durchbebte, gestand er ihr endlich, wie sehr er sie liebe. Und diesesmal unterbrach sie ihn nicht. Sie schloß die Augen, und zu der Erregung, die sein Geständnis in ihr weckte, kam ein quellendes Frohgefühl, daß er darüber von seinem Verdachte abgelenkt wurde.

Sie hatten die Welt ringsum vergessen, sie lebten nur sich allein, einzig ihrer Liebe, und wortlos fanden sich zum ersten Male ihre Lippen.

Sie waren aufgestanden und wanderten Arm in Arm die schmalen Gartenwege hin, unter den herbstlich kahlen Zweigen. Und Mignon schmiegte sich an ihn, daß er alle Augenblick stehen blieb, um sie unter Schmeicheln an sich zu ziehen.

Zuweilen flogen ein paar Krähen über ihnen weg und ließen ihren rauhen, heiseren Schrei durch die Regenluft ertönen, sonst war es still um sie herum, als seien sie fern von allen Menschen, allein auf der Welt.

Dann aber mischte sich in ihr Liebesgetändel ernsthafte Ueberlegung. Sie wollten sich vorläufig niemandem verraten. Es hatte keinen Zweck, ihre Liebe zu gestehen, und in dem Geheimnis lag für sie beide noch ein ganz besonderer Reiz.

Noch einmal, ehe sie sich trennten, tauchte bei Willy der Argwohn auf; allein Mignon verstand es, ihm all diese Gedanken auszureden. Es fiel ihr nicht schwer, denn er war es gewöhnt, den Menschen rückhaltslos zu vertrauen. Es war ja seine angebetete Mutter und Mignons Vater. –

Als er heimkam, war die Mutter noch nicht zurück. Er stieg zum Vater hinauf und fand ihn droben, hilflos und verlassen, in seinem Fahrstuhle.

Die Glocke, die stets neben ihm auf dem Tische stand, war herabgefallen, und er hatte niemand rufen können. Willy fand ihn in halber Verzweiflung, stumpf vor sich hinbrütend, die Hände im Schoße gefaltet.

Er hatte gerufen, hatte seine Tasse an den Boden geworfen, daß die feinen Porzellanstücke überall zerstreut lagen; hatte mit einem der Stühle wie sonst wohl mit seinem Stocke versucht, auf den Fußboden zu stoßen, allein er hatte dabei nur den Stuhl umgeworfen, weil er nicht die Kraft hatte, ihn geschickt zu erheben.

Er atmete wie erlöst auf, als Willy erschien. Er hatte Durst und verlangte zu trinken, und dann sollte man ihn in das andere Zimmer schaffen, denn hier zog es, und die leichte Decke, die man ihm über die Knie gelegt hatte, genügte nicht. –

Und nun schalt er auf alle Welt, auf die Dienstboten, auf die Mutter und auf Willy. Wo war er denn gewesen? Als ob er ihm nicht einmal fünf Minuten am Tage schenken konnte. Dann hätte er überhaupt nicht herauszuziehen brauchen, und es war nur gut, daß das Semester jetzt wieder anfing. Für den Vater scheine er nichts mehr übrig zu haben …

Dieser Vorwurf traf Willy schwer, und er bemühte sich eifrigst, den nörgelnden Kranken zu beruhigen. Allein seine Anstrengungen blieben lange erfolglos.

Er wurde erst stiller, als Willy ihn in das andere Zimmer hinübergefahren hatte und dann ein Gespräch mit ihm anknüpfte.

Aber während er sich mit dem Vater über einen naturwissenschaftlichen Versuch unterhielt, mußte er wieder an die Szene im Atelier denken.

Hier ein jammernder kranker Mann, und dort …

Aber nein, es war ja nicht so. –

Ein Unrecht blieb es, ein Unrecht, daß sich ihm das Herz zusammenkrampfte, und das er der Mutter nicht verzeihen konnte. Wie konnte sie sich küssen lassen! …

Und er hatte es gesehen, daß sie sich nicht im mindesten gewehrt hatte, und dann, wie sie zu jenem aufgeblickt hatte, – indes sein armer Vater hier hilflos und verlassen saß. – Ein unendliches Mitleid überkam ihn, wenn er das bedachte.

Er selbst hatte dem Vater nie recht nahe gestanden. Er achtete und ehrte ihn, aber eigentliche Kindesliebe hatte er nicht empfinden können. –

Länger als eine Stunde bemühte er sich schon um ihn, als die Mutter endlich heimkam, von Frau von Ruschwedel begleitet. Heute empfand Willy ihre ihm oft so lästige Gegenwart wie eine Erlösung, da sie ihm das Wiedersehen mit der Mutter erleichterte.

Schon nach wenigen Minuten brach die Frau Hauptmann auf, und die drei blieben allein.

»Du bist heute so still, Willy!«

»Ich … still? – O nein.«

»Ja doch! – Du bist auch ein wenig bleich. Fehlt Dir etwas, mein Junge?«

Er schüttelte mit dem Kopfe.

Sie war zu ihm getreten, hatte den Arm um seine Schultern gelegt und sah ihm in die Augen.

Er war nahe daran, ihr mit einer unmutigen Geberde zu wehren. Nur mit Mühe bezwang er sich.

Aber allmählich, wie sie ihm schmeichelte, in ihrer Nähe, verflogen all die schwarzen Gedanken wieder, die in ihm aufgestiegen waren.

Mit ihrer Vorsorge beschämte sie ihn derart, daß er ihr am liebsten zu Füßen gefallen wäre, um sie wegen seines häßlichen Argwohns um Verzeihung zu bitten.

Er stand wieder ganz unter dem Einflusse, den sie auf ihn ausübte.

Nur das eine berührte ihn unangenehm, daß sie ihren Besuch bei dem Professor mit keinem Worte erwähnte, obgleich sie eingehend all ihre sonstigen Besorgungen aufzählte.

Allein er wollte dem Verdachte nicht Raum geben, und auch Mignon war eifrig bemüht, ihm die Gedanken zu widerlegen, wenn sie es auch selbst nicht mehr vermochte, Frau Braun so unbefangen wie früher entgegenzutreten.

Willy gegenüber verbarg sie ihre Unruhe und ihre Zweifel und suchte ihn von der Spur abzulenken.

Er klagte sich an, daß seine Liebe zu Mignon mit schuld daran sei, daß er die Mutter so verdächtigt habe.

Ihre Liebe zueinander hatte an Innigkeit durch all diese Vorgänge zugenommen, und ihre Stellung zueinander veränderte sich dadurch etwas, daß Mignon in Gegenwart von Frau Anna und ihres Vaters zu Willy gesagt hatte:

»Gehst Du mit in den Garten?«

Die beiden andern hatten es gehört, allein sie schwiegen, bis Willy kaum fünf Minuten später fragte:

»Soll ich Dir auch Dein Tuch holen, Mignon? Du erkältest Dich sonst.«

Diesesmal errötete Mignon.

Petri lachte und sagte:

»Ihr scheint ja endlich das Du eingeführt zu haben.«

»Oh nein!« versicherten beide eifrig.

»Laßt nur gut sein. Mir ist es nämlich ganz recht. Und wenn Sie auch damit einverstanden sind, gnädige Frau, dann lassen wir die beiden Brüderschaft schließen. Wenn jemandem das Du unwillkürlich auf die Zunge kommt, ist es Zeit, es offiziell einzuführen. Also wenn Ihr wollt …«

»Gewiß, gern!« rief Willy.

Mignon nickte, als sei es ihr gleichgültig, und doch war sie froh, von diesem Zwange befreit zu sein.

»So ist's recht. Wie Bruder und Schwester wollt Ihr zusammen sein, nicht wahr?«

Frau Anna sagte kein Wort, allein sie war unruhig und sah den Professor fragend an.

Dann sagte sie fast unmutig:

»Müssen Sie denn immer gleich jeder Laune nachgeben?«

Er lachte nur und sagte:

»Ich finde es sehr nett, daß, wenn zwei Leute sich gern haben, sie auch Du zueinander sagen. Weshalb tut es nicht alle Welt? … Es wäre viel gescheiter.«

Damit war die Sache erledigt.


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