Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Willy mußte jemand haben, mit dem er sich aussprechen konnte. Lautner gegenüber traute er sich nicht recht, weil er dessen Sarkasmus fürchtete.
Deshalb ging er am folgenden Nachmittage zu Adolf Wurm, der in der Tieckstraße im Hinterhause eine bescheidene Wohnung hatte.
Er stieg die vier schmalen steinernen Treppen hinauf und fand ihn daheim.
Das einzige Fenster des Zimmers, dessen Kleinheit noch durch das Bett und ein altes Klavier beschränkt wurde, führte auf einen Hof, so daß man gegen die rote Wand eines mächtigen Lagerhauses sah, wo die Winde unablässig große Wollballen emporhob.
Ein beständiges lautes Rufen der arbeitenden Leute, drunten im Hofe das Ein- und Ausfahren der Wagen und dazu das Geräusch einer nebenan befindlichen Fabrik.
Und in diesem beständigen Lärmen hatte Wurm seine Oper vollendet, die jetzt in Hamburg angenommen war. Daraufhin hatte er sich mit seiner Paula, einer Jugendliebe, verlobt.
Sie wohnte bei ihrer Mutter, einer Kaufmannsfrau in Rixdorf, wo Wurm sie bei einem Stiftungsfeste kennen gelernt hatte.
Er hatte sich durch Stundengeben ein hübsches Sümmchen erspart und mit ein paar Märschen und Tänzen bisher ziemlich Glück gehabt. Jetzt war ihm zum Ueberfluß eine kleine Erbschaft von einer Tante, an die er nie mehr gedacht hatte, zugefallen, so daß er es schon seit langem nicht mehr nötig hatte, in dieser engen Bude zu hausen. Allein es gefiel ihm nun einmal hier, und er wollte bleiben, bis er heiraten konnte, aber nicht eher, als bis er irgendwo einen kleinen Kapellmeisterposten erhalten hatte.
Ohne Kragen und Schlips, im Schlafrock arbeitete er gestikulierend mit den Händen in der Luft herum, während er dem schweigsamen Willy seine Pläne auseinandersetzte. Er schwatzte in einem fort, von seiner Braut, seinem Glück, seinen Hoffnungen, ohne zu ahnen, daß Braun gekommen war, ihm sein Herz auszuschütten.
So verlor Willy allen Mut, – und nachdem er länger als eine Stunde bei dem Musiker gewesen war, verließ er ihn wieder, trüber gestimmt als zuvor, im Ohre noch dieses ganze lärmende Geschwätz des Glücklichen. –
Er hatte anfangs Mignon gegenüber schweigen wollen, allein als er zu ihr hinaus kam und seine Bedrücktheit ihr auffiel, fragte und bat sie ihn so lange, bis er ihr die Szene mit der Mutter ausführlich erzählte.
Sie hörte ihn ruhig an, sehr ruhig und sehr bleich. Sie hatte gewußt, daß es so kommen würde, und deshalb war sie über den Ausgang nicht weiter erstaunt.
Wenn nur der Vater dagewesen wäre.
Jetzt, wo Frau Anna von ihrer Liebe wußte, brauchte sie auch dem Vater das Geheimnis nicht länger vorzuenthalten.
Er mußte Rat wissen, mußte helfen – allein sie hatte ihn in aller Frühe zur Bahn gebracht und war nun allein im Hause.
Schreiben konnte sie ihm das nicht. Sie mußten schon warten, bis er von Kopenhagen zurückkam.
Er hatte bestimmt, daß sie die Tage während seiner Abwesenheit bei Brauns zubringen sollte, und es gab keinen Grund, daß sie fortbleiben konnte.
Sie fürchtete sich vor dem Abend. Allein Will würde ja anwesend sein, und er hatte die Mutter gebeten, nichts zu erwähnen, da Mignon von seiner Erklärung nichts wisse.
Die Mutter hatte ihn ruhig angehört und nichts erwidert. –
Das Abendessen verlief sehr still. Mignon vermochte kaum einen Bissen hinunterzubringen. Der einzige, der den Speisen tüchtig zusprach, war Doktor Braun.
Es fiel ihm nicht auf, daß, auch als abgetragen war, alle gegen ihre Gewohnheit still und einsilbig blieben, denn er war auf den Bau eines Silberbergwerkes gekommen, in Anlaß eines Artikels, den er kurz zuvor gelesen hatte, und nun versuchte er, ihnen einen Begriff davon zu geben.
Es kam trotzdem keine Unterhaltung in Gang. Willy brach frühzeitig auf. Anna versuchte, Mignon noch zurückzuhalten; allein diese erklärte, sehr müde zu sein, und ging mit Willy fort, der sie heimbrachte.
Am folgenden Morgen saß Mignon mit quälenden Gedanken beschäftigt im Jagdzimmer, wo sie sonst mit dem Vater das Frühstück zu nehmen pflegte, als sie von einem Besuche Frau Annas überrascht wurde.
Obgleich sie vorgab, wegen eines Stickmusters zu kommen, das ihr Mignon vor geraumer Zeit versprochen hatte, wußte das junge Mädchen sofort, daß nur ein einziger Grund sie hergeführt hatte.
Sie ging mit Frau Braun hinauf in ihr Zimmer, um das Muster zu suchen, auf das sie sich mit bestem Willen nicht mehr besinnen konnte.
Frau Anna setzte sich auf das graue Ripssofa des schlicht ausgestatteten Zimmerchens, mit seiner hellen Blumentapete, das sich Mignon ganz wie in der Pension am Genfer See hatte einrichten lassen.
Anna betrat es zum ersten Male; und in diesem keusch einfachen Raume verlor sie plötzlich allen Mut.
Ihr war, als habe sie sich auf ein fremdes Gebiet gewagt und sei Mignon nicht gewachsen. Dieses schlichte Mädchenzimmer mit seiner fast puritanischen Einfachheit brachte die Salondame in Verwirrung.
Und während Mignon kniend vor ihrer Schublade ohne Hast, absichtlich zögernd suchte, dachte sie darüber nach, was sie hier eigentlich wollte, und wie sie auf den Zweck ihres Besuches kommen sollte.
Sie mußte doch irgend etwas sagen, und so fing sie an, sie nach ihren einstigen Pensionsverhältnissen auszufragen, und ohne Uebergang kam sie auf Willy zu sprechen: daß er den Sommer nach Bonn gehen werde.
Der Satz klang scharf, absichtlich bedeutungsvoll, und Mignon fühlte die Herausforderung.
Einen Augenblick hielt sie mit ihrem Suchen inne. Jetzt hatte jene gesagt, weshalb sie gekommen war.
Sie blickte sich im Knien um, und der Ausdruck in Annas Augen ließ keinen Zweifel zu.
Wie sie dasaß, steif auf dem Sofa, den Schleier noch immer vor dem Gesichte. Und durch das feine Gewebe hindurch konnte man deutlich sehen, wie überwacht das Gesicht war, wie tief die Augen lagen. Wie über Nacht gealtert sah sie aus.
Der Mund war zusammengepreßt, so herb, daß zwei Falten von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln herab deutlich hervortraten.
Und während sie sich ansahen, fast drohend, sagte sie:
»Willy muß einmal von Haus fort, in andere Verhältnisse, um die Welt kennen zu lernen. Es ist Zeit, daß er lernt, sich auf sich selbst zu stellen.«
»Er hat mir noch kein Wort davon gesagt.«
»Wir haben auch nur im allgemeinen davon gesprochen. Er wollte immer einmal nach Bonn oder Heidelberg.«
»Und wann geht er fort? …«
»Mit dem nächsten Semester.«
»Und wann ist das?«
»Zu Ostern!«
»Zu Ostern? … Weshalb soll er fort?«
»Weil er muß! … um in andere Verhältnisse zu kommen.«
Sie sahen sich wieder an, und in ihren Blicken erklärten sie sich Feindschaft von nun an.
Mignon erhob sich, und indem sie die Sachen, die sie aus der Schublade sich in den Schoß gelegt hatte, zurückfallen ließ, fragte sie voller Erregung:
»Sie sind gekommen, um mir das zu sagen?«
Einen Augenblick zauderte Frau Anna, dann antwortete sie ruhig:
»Ja, deshalb bin ich gekommen.«
Auch Frau Anna hatte sich erhoben. Jetzt, wo sie sich dicht einander gegenüberstanden, fiel es ihr zum ersten Male auf, daß das junge Mädchen fast um einen halben Kopf größer war als sie.
»Und weshalb sagen Sie mir das?« fragte Mignon.
Anna schwieg.
»Weil Sie mich hassen! Ich weiß es. Ich habe es vom ersten Tage an gefühlt. Weil Sie Willys Liebe für sich allein haben wollen. Sagen Sie doch, daß es nicht so ist.«
»Es ist nicht so!«
»Es ist nicht? … Was für einen Grund haben Sie dann, um zwischen uns zu treten? So sprechen Sie doch! …«
Mignon war einen Schritt näher getreten und sah ihr fest in die Augen.
»So sprechen Sie doch! …«
»Mignon, liebst Du Willy?«
»Ja! …«
Es leuchtete in ihren Augen auf, und sie schien verwandelt zu sein. Der herbe Trotz, der eben noch in ihrem Gesichte gelegen hatte, war gewichen, und eine Glückseligkeit lag darüber ausgebreitet, daß Anna ausrief:
»Es ist nicht wahr! – Sag' doch, daß es nicht wahr ist.«
»Doch, es ist wahr. Und Ihr mögt tun, was Ihr wollt: es soll mich keiner zwingen, ihn nicht zu lieben.«
»Mignon, ich bitte Dich …«
»Nein! – Liebe gegen Liebe! … Sie sind seine Mutter, Sie haben das erste Recht auf ihn; allein Sie müssen wissen, daß Sie ihn nicht ewig für sich behalten können. Weshalb also stellen Sie sich zwischen uns, weshalb?«
Als Anna schwieg, fuhr sie immer erregter fort:
»Weil Sie mich hassen, um meiner Mutter willen. Ich weiß alles! – Weil Sie meine Mutter gehaßt haben, deshalb können Sie mich nicht lieben. Ich habe es am ersten Tage gefühlt. Dann sind Sie scheinbar gut und freundlich zu mir gewesen, bis ich alles vom Vater erfahren habe, und da habe ich gesehen, was unter der Maske verborgen lag. Und jetzt, jetzt – da meine Mutter tot ist, wollen Sie sich an mir rächen …«
Das bescheidene junge Mädchen war geschwunden, und es war nur mehr das leidenschaftliche Weib geblieben, das rücksichtslos um seine Liebe kämpfte und deshalb alle Waffen gebrauchte, die ihm zu Gebote standen.
Anna war von diesen unerwarteten Worten so bestürzt und überrascht, daß sie sich nicht zu fassen vermochte.
Sie sah jetzt, daß sie es nicht mehr mit zwei leicht zu lenkenden Kindern zu tun hatte.
Wie sollte sie die Aufgeregte davon überzeugen, daß keinerlei Abneigung von ihrer Seite im Spiele war, daß es nur eine peinigende Angst war, eine Gewissensfurcht grausamster Art, die sie dazu trieb, alles zu versuchen, um die beiden auseinander zu bringen.
Sie mußte sprechen, denn sonst war es vielleicht zu spät. Und sie fing an zu bitten und zu flehen.
»Nein, Mignon, Du irrst Dich – gewiß, Du irrst Dich. Ich habe Dich gern, und wenn Du ruhiger bist, wird Dir Dein Papa dasselbe sagen. Doch, Mignon – doch! … Sieh, Kind, Du hast Deine Mutter früh verloren, so daß Du nicht weißt, was es heißt, eine Mutter zu haben, die für Dich denkt und sorgt. Hör' ein wenig auf meinen Rat. Du bist zu jung, um selbst urteilen zu können, zu unerfahren, um zu wissen, was Liebe ist. Ich habe das alles Willy schon gesagt, ich muß es Dir wiederholen. Siehst Du nicht ein, daß wir gewissenlos handeln würden, wenn wir Euch gewähren ließen? … Hast Du nie darüber nachgedacht, wie alt Ihr beide erst seid, wie vieler Jahre es noch bedarf, ehe Will sich ein wenig Selbständigkeit erringen kann? – Ihr habt hier beide nur für Euch gelebt, wie in einer Idylle, an die Ihr zurückdenken mögt und Euch an der Erinnerung erfreuen. Allein mehr wird und darf es nicht werden. Du weißt, ich habe bei Willy kein Gehör gefunden. Vielleicht finde ich bei Dir mehr Verständnis. – Geh' doch hin und frage andere Leute, wie die darüber denken. Onkel Jack – Du hältst ja viel auf ihn – frag' ihn einmal, was er davon denkt, willst Du? Und Du wirst sehen, er hat nur ein Lächeln für Eure Kindlichkeit. – Ich will Euch nicht drängen, zu nichts zwingen. Und damit Du siehst, daß ich nichts – aber auch gar nichts gegen Dich habe, mache ich Dir noch einen Vorschlag: Wenn Dein Papa zurückkehrt, sag' ihm alles, und höre auf das, was er Dir antworten wird. Ist es Dir recht? … Und nun gib mir Deine Hand. Du verkennst mich, Mignon, wenn Du glaubst, ich wolle nicht Dein Bestes. Es mag Dir ja anders scheinen, allein es ist so. Und um Dich völlig zu überzeugen, werde ich mich in Euer Verhalten zueinander nicht einmischen. Glaubst Du nun noch immer, daß ich Dir feindlich gesinnt bin? …«
Mignon nahm die dargereichte Hand, allein Annas Worte hatten keinen Eindruck auf sie gemacht. Sie fühlte aus all dem nur das Bestreben heraus, sie und Willy voneinander zu trennen.
Alle Versuche, ihr das Unhaltbare ihrer Neigung zu beweisen, dienten nur dazu, ihre Liebe noch mehr zu befestigen.
Und auch Frau Anna ging mit dem Gefühle fort, daß sie mit all ihren Worten nichts erreicht hatte.
Ein paarmal war sie nahe daran gewesen, flehentlich zu bitten, allein rasche Ueberlegung hatte sie noch immer vor dieser Demütigung gerettet.
Und doch mußte sie die beiden trennen, koste es, was es wolle.
Wenn nur der Professor erst zurück war! –
Das einfachste war, irgendeinen zwingenden Grund zu finden, daß er fortging und Mignon mitnahm.
Die Trennung würde sie am ehesten zur Vernunft bringen. Es war das einzige Mittel, das ihnen blieb.
Im Sommer ging Willy dann nach Bonn, und dann war alles gut.
Mit diesen Gedanken suchte sie sich zu beruhigen, und in qualvoller Ungeduld wartete sie auf die Rückkehr Petri's, weil er der einzige war, der hier noch Rettung bringen konnte.