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9.

Eines Tages überraschte Willy seine Mutter mit der Mitteilung, daß er sich entschlossen habe, bis zum Anfang des Semesters, im November, ganz nach Charlottenburg herauszuziehen.

Sie hörte ihn schweigend an und sagte anfangs kein Wort zu der Begründung, die er vorschob. Sie wußte, daß ihn nichts anderes hertrieb als das Bestreben, Mignon nahe zu sein.

Er hatte die paar Wochen hindurch jeden Tag draußen zugebracht und behauptete jetzt, er käme besser zum Arbeiten.

Er hatte es nicht bemerkt, wie sie ihn voller Angst angesehen hatte. Er wollte es sich auch nicht eingestehen, daß ihn alles zu Mignon hinzog und er sich der Mutter mehr und mehr entfremdete.

Auch jetzt noch brachte er ihr gewohnheitsmäßig Blumen mit, aber für Mignon hatte er immer schönere ausgewählt, und ein paarmal vergaß er die für die Mutter völlig.

Als er ihre Einwilligung erhalten hatte, war er fortgeeilt, um Mignon aufzusuchen.

Er fand sie im Atelier auf dem Diwan, ganz versunken in die Betrachtung eines Abgusses der Meduse, den sie mit einem fast unheimlichen Interesse studierte.

Ein Sperling mußte durch die offene Tür gekommen sein. Er flatterte mit ängstlichen Flügelschlägen unter dem Glasdache hin und stieß heftig gegen die Scheiben, bis er sich endlich ermattet fallen ließ.

Sie sah sich nach dem verplusterten Vogel um und wollte ihn zur Tür hinaustreiben, als sie Willy bemerkte.

Sie erschrak etwas, streckte ihm aber dann lachend die Hand hin.

»Ach, Sie sind's nur. Guten Tag, Will.«

»Ich habe Ihnen eine Neuigkeit mitzuteilen.«

»Sie machen mich ganz neugierig.«

»Von heute ab bin ich Ihr Nachbar. Ich mache Ferien und ziehe nach hier heraus.« –

»Wirklich? – Ach, das ist prächtig. Das ist wirklich ein gescheiter Einfall, für den ich Ihnen sehr danke. Dafür sollen Sie nun auch mein Geheimnis erfahren. Wissen Sie, was ich tue?«

»Nun?«

»Ich lerne Bildhauer, wie Ihr hier so schön sagt. – Passen Sie mal auf!«

Sie eilte zu einem Bossierschemel und nahm vorsichtig die feuchten Tücher von einer angefangenen Arbeit ab.

»Kann man schon sehen, was es wird?«

»Ich glaube, eine Kuh.«

»Wirklich? – Man sieht es schon? Ach, das ist famos. Père sagte, das sei Unsinn, das könnte ich nie. Und dann sollte ich nach einem Modell arbeiten. Dazu hatte ich gar keine Lust. Haben Sie mein Skizzenbuch schon gesehen? – Nein? – Muß ich Ihnen zeigen. Lauter Kühe, das sind meine Lieblingstiere. Sehen Sie mal, die wird fast ein Meter lang. Ich gehe immer zu Schiffer Peters und studiere an seiner Kuh. Schade, daß ich sie hier nicht herbringen kann. Aber père sagt, sein Atelier sei kein Kuhstall. Er interessiert sich für Tierstücke so gar nicht. – Wenn Sie wollen, können Sie mich jetzt begleiten. Also, man sieht wirklich, daß es eine Kuh wird? … «

»Ja, wenigstens an den Hörnern.«

»Ach was, spotten Sie nur. Und wenn es die Leute auch für einen Esel halten. Mir macht es eben Spaß. Und dann ist es so nett, mit père zusammen zu arbeiten. Es interessiert mich ungeheuer. Wir reden immer furchtbar gelehrt, vom Unterschied und der Bedeutung der Skulptur und Malerei, und dann über alles, was ich gelesen habe. Anfangs wollte père nicht, daß ich ohne seine Erlaubnis ein Buch nahm. Jetzt kann ich lesen, was ich will. Er meint, mir schade es nicht, ich sei viel zu vernünftig. Ach, und ich möchte einmal so recht, recht unvernünftig sein. Doch jetzt kommen Sie rasch zu Peters … rasch … rasch … «

Damit eilte sie davon und warf mit den Füßen das Laub auf, das jetzt voll in allen Wegen lag, so daß einzelne Bäume schon ganz kahl waren. –

Mignon hatte mit ihrem scharfen, durchdringenden Verstande sofort erkannt, daß Willy ihrethalben herauszog.

Und dieses Bewußtsein erfüllte sie derart mit Freuden, daß sie wie toll darauf los plauderte, denn sie hatte Will ebenso lieb gewonnen wie er sie.

Aber sie ließ nie ein Wort fallen, keine Bewegung, die sie verraten konnte, während sie andererseits Willy völlig durchschaute.

Instinktmäßig fühlte sie, daß er zwischen ihr und der Mutter schwankte, daß diese Liebe ihn beunruhigte und er sich den Vorwurf machte, daß seine Gedanken fast ausschließlich Mignon galten.

Er ging jetzt stillschweigend neben ihr her. Aber dieses Schweigen brachte sie einander näher als die beredtesten Worte. Es war wie ein geheimnisvoller Austausch ihres Gefühlslebens, und es wagte keiner die Stille zu unterbrechen.

Dann besann sie sich wieder auf sich selbst, und ganz plötzlich, um ihn zu erschrecken, fragte sie:

»An was denken Sie eben?«

»Ich … ich dachte an Sie, Mignon.«

»An mich? … Da könnten Sie auch was Gescheiteres tun. Nein, sind Sie heute komisch!« –

Sie sagte es im lustigsten Tone, aber sie konnte doch nicht hindern, daß sie bei seinen Worten errötete und ihr Herz einen Augenblick schneller schlug.

Dann hatte sie sich wieder bezwungen und lief am Kanale entlang, daß er ihr kaum folgen konnte, bis sie zu Schiffer Peters kamen, an ein kleines, verfallenes Häuschen. Die Frau war allein daheim mit den drei kleinen Kindern, die Mignon, trotz ihrer Schmutznäschen, der Reihe nach hochhob.

Sie trieb sich noch eine ganze Weile in der niederen, raucherfüllten Küche herum, dann wurde die Kuh bewundert, und langsamer schlenderten sie jetzt heim.

Wie ein unausgesprochenes Geheimnis lag es zwischen ihnen, ein Geheimnis, das ihnen beständig auf die Lippen trat, das sie sich an den Augen ablasen und dem sie doch keine Worte zu verleihen wagten.

Wenn es je zu kommen drohte, machte Mignon der Gefahr stets ein Ende. –

Denn eine geheime Furcht quälte sie schon seit langem, aber erst in der letzten Zeit war die Frage immer deutlicher in ihr aufgetaucht.

Sie wußte von ihren Eltern so gut wie gar nichts.

Und sie hatte wohl gemerkt, daß ihr Vormund ihren Fragen auszuweichen suchte.

Sie hatte mit einer Pensionsfreundin einmal darüber gesprochen, als sie der Gedanke zum Weinen gebracht hatte, daß sie allein in der Welt stand; und jene, von Natur romantisch veranlagt, hatte hinter dem halben Dunkel ein interessantes Geheimnis gewittert, das ihre Phantasie mit den lebhaftesten Farben ausschmückte.

Eines Tages, ganz unerwartet, als sie beide, die in einem Zimmer schliefen, sich eben hingelegt und das Licht gelöscht hatten, sagte sie:

»Du, Mignon … weißt Du, was ich glaube? … «

»Nun, was denn.«

»Der Professor ist gar nicht Dein Vormund! … Er ist Dein Vater.« –

Seitdem hatte dieser Gedanke sie nicht mehr verlassen, aber sie hatte ihn im innerstem Herzen geheim gehalten.

Einmal mußte der Tag kommen, an dem sie alles erfuhr. Petri hatte sie auf eine direkte Frage vertröstet für später: sie sollte erst älter sein, ehe sie alles erfuhr.

Jetzt wartete sie seit Tagen auf den geeigneten Augenblick, um sich von ihren Zweifeln zu befreien. Und endlich kam ein Abend, an dem sie den Mut fand. –

Der Oktober ging seinem Ende zu und mit ihm der anfangs so sommerlich scheinende Herbst. Tagelang war der Himmel von trüben Wolken ganz bedeckt, daß die Sonne nicht durchbrechen konnte.

Nebelhafte Dämmerung herrschte und oft regnete es Stunden ununterbrochen.

Gegen Abend sauste der kalte Herbstwind durch die immer nackter werdenden Bäume und warf heulend und brausend seine Regenmassen an die Scheiben, daß es gegen die Fenster klatschte und mit dumpfen Tönen in den Dachrinnen polterte.

Hie und da klapperte ein Fensterladen, und als Grundmotiv das stete Sausen und Rauschen der sich biegenden Aeste, die vor der Gewalt des Sturmes ächzten und knirschten.

Reinhold Petri und Mignon waren allein in dem dunkelgetäfelten Gemache. Der Professor rauchte wie gewöhnlich abends nach Tisch seine Pfeife.

Fräulein Minna hatte Schmerzen in allen Gliedern und hatte sich deshalb frühzeitig schlafen gelegt.

Mignon saß am Fenster und blickte in den Sturm hinaus. Sie sah nur die in der Nähe stehenden Bäume sich gespenstisch hin- und herbewegen. Sonst war alles in tiefschwarze Nacht getaucht.

Petri hatte ein Buch vor sich. Er las eifrig, weil er behauptete, die Beschäftigung mit anderen Zweigen der Kunst sei am fruchtbringendsten für die eigene Phantasie.

Zuweilen stieß er dichte Rauchwolken aus seiner Pfeife, die das Gemach bald mit bläulichen und grauen Streifen erfüllten und sich langsam unter die verhängte Kuppel der Lampe zogen, wo sie in heftig zitternde Bewegung gerieten, unter die Glocke tauchten und am Zylinder entlang streifend zur Decke strebten.

Hier an dem schweren viereckigen Tische mit der farbig gemusterten Decke und den herumstehenden hohen, eichengeschnitzten Lehnstühlen war ihr Lieblingsplatz am Abend. Das Zimmer lag nach hinten, dem Garten zu, und von außen drang kein Laut in die tiefe Einsamkeit. Nur der Sturm brauste und heulte ohne Unterlaß. Das brachte die Stille im Hause nur noch mehr zur Empfindung.

Zuweilen warf der Professor über sein Buch weg einen Blick zu Mignon hinüber, allein sie regte sich nicht, und er las weiter, bis er endlich aufsah und nun ihrem Blicke begegnete.

Sie stand auf und ging auf ihn zu.

»Bist Du müde, Mignon? … «

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. Dann ließ sie sich ihm zu Füßen nieder, legte die Arme auf seine Knie und sah zu ihm auf, – und erst nach langer, langer Pause fragte sie:

» Père, darf ich Dich einmal um etwas fragen, um etwas, auf das ich keine Antwort finden kann?«

»Was denn, Mignon?«

»Sieh, père, ich bin doch ein vernünftiges Mädchen … «

»Ja, das bist Du, Du gutes Kind.«

Seine Hand fuhr liebkosend über ihr dunkles Haar, das er ihr ein wenig aus der Stirn strich.

»Nicht wahr, père, ich bin alt und verständig genug. Und es quält mich so, ich kann es Dir gar nicht sagen: Wer ist mein Vater und wer meine Mutter? … «

Er schwieg und sah über sie fort, und sie fühlte, daß er mit einem Entschlusse rang.

»Nur einmal hast Du mir gesagt, daß mein Vater ein Maler war, den Du in Paris kennen gelernt hast, ein guter Freund von Dir. – Aber von meiner Mutter weiß ich nur, daß sie gestorben ist, kurz nachdem ich geboren bin. Und dann habe ich das kleine Bild, das Du mir einmal gegeben hast. – Hast Du meine Mama gekannt? … Ja, père? … Erzähle mir von ihr, bitte!«

Er hatte ihre Hand losgelassen und blickte sie nicht an.

Der Sturm warf einen prasselnden Regenguß an die Fensterscheiben, und dann pfiff er wimmernd um das Haus mit langgezogenen ächzenden Tönen.

»Du hast Mama gekannt? … «

»Ja, Kind, ich habe sie gekannt.«

»Und Papa? … Père … sieh mich einmal an … so sieh mich doch an … «

Sie schmeichelte es ganz leise, und sich halb aufrichtend, umschlang sie mit beiden Armen seinen Nacken, und leise flüsterte sie, fragend leise:

»Papa! … «

Und dann lag sie an seiner Brust – denn nun wußte sie es … und er preßte sie an sich mit überströmender Zärtlichkeit und sagte mit einer Stimme, die ihr durch und durch ging, so lieb und innig:

»Mein Kind … mein Kind … «

Sie fühlte es heiß auf der Stirne, und als sie aufblickte, sah sie die Tränen, die sie ihm von den Augen küßte, während sie an seiner Brust lag und schluchzte:

»Vater! … mein lieber, lieber Vater! … «

Und nun konnte sie es nicht länger halten, eine jauchzende Freude:

»Ich habe es ja gewußt, ich habe es gehofft in all der Zeit. Aber ich wagte nicht zu fragen. Denn wenn ich mich irrte, wenn es doch nicht so war … Es wäre ja zu traurig gewesen. Aber jetzt weiß ich es, jetzt habe ich Dich – und ich lasse Dich nicht mehr, Du mein lieber, guter Papa.«

»Siehst Du, Kind,« sagte er und fuhr sich über die Augen, »Du weißt ja nicht, was ich zu dulden gehabt habe. Wie oft habe ich Dir alles sagen wollen und mußte dann wieder zaudern und zaudern. Du solltest erst älter werden, damit Du mir leichter verzeihen konntest, wenn Du zu begreifen imstande warst. Aber daß ich Dich nun so neben mir hatte und es Dir nicht sagen, es der Welt nicht gestehen durfte, daß Du mein Kind seiest, – das hat mir bitter am Herzen gefressen, – Du solltest über Deine Mutter nicht schlecht denken, denn Du hättest ja erfahren müssen, daß sie nicht mein Weib war. Ich galt als Dein Vormund, und es war zu spät, diese Lüge wieder gut zu machen. Nicht wahr, Du hast mich deshalb nicht weniger lieb? – Habe ich nicht alles für Dich getan, – oder hast Du jemals Deinen Vater vermißt?« –

»Nein, Väterchen, niemals!«

»Wie das damals alles so mit Deiner Mutter kam, Kind, … es ging eben nicht anders. Siehst Du, ich war eben ein wenig bekannt geworden, ein junger unsicherer Ruhm, und ich setzte alles aufs Spiel. Wäre Hedwig am Leben geblieben, sie wäre gewiß und wahrhaftig mein Weib geworden. Aber damals konnte ich nicht, – ich konnte nicht. Du weißt ja nicht, wie es wirklich in der Welt zugeht … Hedwig war ein einfaches Mädchen, das nicht daran gedacht hatte, ich könne sie einmal heiraten. Ja, als ich davon einmal sprach, wehrte sie fast schroff ab. Und im stillen hoffte ich auf später, und als das Später kam, da stand ich mit Dir allein in der Welt.«

Er schüttelte plötzlich wie voller Unmut den Kopf, und indem er Mignon fester an sich zog, fuhr er fort:

»Nein, ich will Dir jetzt nichts mehr verschleiern. Du bist mein braves, starkes Mädchen, und Du sollst alles wissen, auch wenn Du mich dann vielleicht nicht mehr so lieb haben kannst als jetzt. – Ich hatte vorher eine andere geliebt, eine schöne stolze Frau. In den Gesellschaftskreisen, denen sie angehörte, war sie tonangebend.

Ich hatte ihr wie so viele gehuldigt, und dann hatte sie mir zu einer Büste gesessen. Ich weiß, daß ich niemals etwas Besseres geschaffen habe, ich wußte es damals schon, und auch sie wußte es. Sie hat alles getan, um mir zu meinem ersten, bescheidenen Ruhme zu verhelfen. Ich danke ihr viel, unendlich viel, vielleicht alles. Die Aufnahme des Werkes drohte an einer Intrige zu scheitern. Sie setzte alles in Bewegung – und wir siegten: ich wurde aufgenommen. – Diese Frau nun, die ich einst sehr geliebt hatte, sie glaubte sich noch immer von mir geliebt, und ich … ich wagte es nicht, ihr zu sagen, daß ich alles für sie empfand: Dankbarkeit, eine unbegrenzte Verehrung, nur keine Liebe … daß ich eine andere liebte, auf die sie verächtlich herabgesehen hätte, weil sie ihre bescheidene Größe niemals verstehen konnte, weil diese beiden Frauen nichts – aber auch gar nichts miteinander gemein hatten. Ich fühlte schon bei dem bloßen Gedanken den Hohn, mit dem sie mich behandeln würde, den Hohn, mit dem sie über Deine Mutter urteilen würde. Ich wußte, wie leidenschaftlich sie war, daß sie alles in Bewegung setzen würde, um mir meine Stellung wieder streitig zu machen, um mich zu stürzen. Sie wäre die erste gewesen, die vor aller Welt Deiner Mutter als meinem Weibe die Tür ihres Hauses verschlossen hätte, so wenig Recht gerade sie dazu hatte. Ich sah im voraus, wie ihr Stolz, ihre gekränkte Eitelkeit sich rächen mußten, und – schwieg. Ich schwieg, weil ich den Mut nicht hatte, ihr die Wahrheit zu sagen … So ganz stand ich in ihrer Macht, daß ich sie in dem Glauben ließ, als sei alles noch wie früher. Es wäre für mich ein endloser Verzweiflungskampf geworden, in dem der Künstler vielleicht untergegangen wäre, und ich konnte meine Kunst nicht zum Opfer bringen. Ich war so feige, daß ich zu allem bereit war. – Wenn Deine Mutter nur ein einziges Wort gesagt hätte, Kind, ein einziges Wort, ich hätte ja den Mut gefunden. Sie wußte alles, alles, – aber sie schwieg, sie forderte nichts, sie gab nur immer; mit offenen Händen schenkte sie alle ihre Liebe, und sie verlangte nichts für sich. Sie ahnte, was ich in diesem Zwiespalt zu leiden hatte, und sie sagte kein Wort. Und ich … ich hoffte auf die kommende Zeit, ich betrog mich selbst – bis ich endlich entschlossen war. Ich ertrug es nicht länger. Es sollte alles klar werden! – Da kamst Du zur Welt, und es war zu spät. Am andern Tage starb Deine Mutter.«

»Papa!«

Sie zitterte wie voller Angst und fuhr ihm schmeichelnd um Wangen und Bart. Am liebsten hätte sie ihn angefleht zu schweigen, ihr das alles nicht zu erzählen, und doch wollte sie alles wissen.

»Ja, Kind, es war zu spät! … Und dann blieb alles, wie es war. Jene andere hatte wohl von Hedwig etwas erfahren, über das beunruhigte sie nicht weiter. Von Deinem Dasein wußte sie nichts. Erst viel später, nach Jahren, in denen ich Dich wie versteckt vor ihr gehalten habe, hat sie es endlich erfahren. – Wie recht hatte ich gehabt. Sie war wie wahnsinnig, sie tobte und wütete, aber sie hatte keine Macht mehr über mich, weder über den Künstler noch den Menschen. Und so mußte sie sich denn beruhigen, und sie hat es getan … «

Mignon regte sich nicht. Mit zitternden Händen hatte sie sich an ihn geklammert, und er sprach über sie hinweg, als sei sie nicht bei ihm, er sprach nicht zu seinem Kinde, er sagte sich das alles selbst.

»Ich habe sie geliebt, ehe ich Hedwig fand. Aber die Frau war nicht mehr frei, – und es war nicht gut.«

Mignon schauerte leise zusammen, dann fragte sie, und ihre Blicke hingen an seinen Lippen:

»Lebt sie noch, diese Frau?«

»Ja, sie lebt noch.«

»Frau Anna Braun!«

Sie hatte es vor sich hingesagt, weil sie mußte. Und jetzt fühlte sie, wie sich seine Finger um die ihren krampften.

»Wer sagt das? … «

»Ist sie es nicht?« fragte sie scheu.

Er schwieg eine ganze Weile, daß man den Sturm hörte. Dann war es einen Augenblick still, so still, daß man das einförmige Ticken der großen Wanduhr hörte.

Dann sagte er ganz ruhig:

»Ja, sie ist es. Anna Braun!«

»Als du eben von der Frau sprachst, sah ich sie vor mir, wie sie mich am ersten Tage empfangen hat. Wärst du nicht dabei gewesen, so hätte ich ihr nicht die Hand gegeben, so eisig kalt und abweisend hat sie mich angesehen. Ich glaube, an dem Tage hat sie mich gehaßt. Jetzt ist sie gut zu mir, und ich habe sie sehr lieb. Ich kann es mir denken, wie man sie lieb haben muß. Ich sehe ja, wie Will sie lieb hat … Sie muß einmal sehr schön gewesen sein.«

»Ja, sie war sehr schön, daß man um sie schon eine Feigheit begehen konnte. Aber wie schön sie auch immer war, ich habe Hedwig geliebt, anders, ganz anders, aber doch vielleicht mehr als die andere. Du weißt ja nicht, Kind, was für ein seltsam doppelzüngig Ding das Menschenherz ist, und wie man lügen kann um der Wahrheit willen; und wie man sich selbst belügt und betrügt und niemals den Mut findet, sich und andern diese Täuschung einzugestehen. So ist es gewesen, Kind, und wird es bleiben, solange Menschen leben. Denn die Menschen halten sich immer für besser, als sie sind, und wenn sie nachher eingesehen haben, aus was für einem Stoffe sie gemacht sind, dann erfinden sie kluge Entschuldigungen für alles. Mögest du nie erfahren, wie viel Lüge in dem Worte Liebe verborgen ist. – Du hast heute Dinge erfahren, Kind, die sonst kein Mensch weiß, Dinge, die zuviel sind für Dein liebes, gutes Herz. Vergiß sie wieder, vergiß das alles; denn es sind Geheimnisse, die den Tod in sich tragen, wenn sie unter die Menschen kommen. Auch zwischen uns beiden niemals mehr ein Wort darüber. Ich bitte Dich darum … Es ist vorbei und soll vorbei sein.«

»Ja, Vater! Aber nun erzähle mir auch von der Mutter.«

Sie setzte sich ihm halb zu Füßen, und den Kopf an ihn lehnend, lauschte sie seinen Worten. –

Er erzählte ihr, wie Hedwig in das Haus gekommen war. Sie war eine Nichte Minnas gewesen, bei der sie die Wirtschaft lernen sollte, ein bescheidenes, stilles Mädchen, das er anfangs ganz übersehen hatte. Dann entdeckte er eines Tages, wie hübsch sie war, und zugleich, wie gern sie ihn hatte. Von da an schenkte er ihr mehr Aufmerksamkeit, denn ihre Liebe rührte ihn, und so lernte er sie lieben, bis die andere darüber vergessen war.

Frau Anna war auf ein paar Monate fortgewesen, und als sie wiederkam, gehörte er Hedwig mehr als ihr.

Während er stockend erzählte, in abgerissenen Sätzen, tastend, weil immer neue Erinnerungen auftauchten, all die einzelnen Bilder jener Zeit sich ungeordnet vor seine Seele drängten, – während er es versuchte, ihr begreiflich zu machen, wie das alles gekommen war, saß sie ihm zu Füßen, und Tränen stiegen in ihr auf, aber sie waren nur ein Gefühl des Glückes, den Vater gefunden zu haben.

Sie grübelte nicht nach, sie urteilte nicht, denn sie reichte mit ihrem Kinderherzen nicht an diese Dinge heran. Und als er zu Ende war, warf sie sich an seine Brust und sie hielten sich lange wortlos umschlungen.

Dann plauderten sie von der Zukunft, denn jetzt sollte alles gut werden, nun, da kein Geheimnis mehr zwischen ihnen stand. –

Es war Mitternacht vorüber, als sie sich endlich trennten.

Petri blieb noch lange wach, unruhig im Zimmer auf- und abgehend. Jener Satz, den er vorhin wie achtlos hingeworfen hatte, von der Doppelzüngigkeit des menschlichen Herzens, fiel ihm schwer auf sein Denken.

Er hatte die beiden Frauen gleichzeitig geliebt. An die eine ketteten ihn Hunderte von Erinnerungen, die unlösbar schienen. Die Neigung hatte zu tiefe Wurzeln geschlagen.

Und die andere Liebe hatte jenen bestrickenden Reiz der Neuheit, der nur zu oft den einzigen Anlaß zu einer neuen Neigung bildet.

Er liebte Hedwig, aber er sah auf sie herab; sie konnte sein Leben nicht ausfüllen. Er war sich zu gut bewußt, daß sie in ihrem innersten Wesen nicht zueinander paßten. Er dachte viel zu modern, er war vor allem Künstler und liebte seine Freiheit und seine Kunst.

Und jene andere war das Weib seines Freundes gewesen, und sie hatten sich beide mit einer spitzfindigen Moral darüber hinweggetäuscht, daß es eigentlich ein Verbrechen war, was sie begingen.

Sein Künstlerstolz hatte ihm damals darüber hinweggeholfen, in dem Gefühl, daß er sich seine eigenen Gesetze schaffe und denen der Menschen nicht unterworfen sei.

Jetzt wußte er, wie jämmerlich es mit dieser Größe bestellt war.

Er verglich die beiden Frauen miteinander, und dann dachte er an Mignon, und um derentwillen erschien ihm seine Liebe zu Hedwig in viel reinerem Lichte.

Es kam über ihn wie eine Art Entsühnung. Die Liebe, die er jetzt für Mignon hegte, übertrug er auf die Vergangenheit, daß ihm alles in freundlicherem Lichte erschien, als es vielleicht gewesen war, und er fand vor sich selbst die Entschuldigung, nach der er so oft in einsamen Stunden vergebens gesucht hatte. –

Und während er drunten in sorgenden Gedanken auf und ab wanderte, lag Mignon droben in ihrem Stübchen, die heiße Stirn an die kalten Scheiben gepreßt, und sah nach her Villa hinüber, wo Frau Anna Braun wohnte, und dachte dabei an ihre Mutter, von der sie sich noch immer keine Vorstellung machen konnte.

Der Wind jagte durch die Nacht und zauste Büsche und Bäume. Zuweilen berührte ein Zweig der vor dem Fenster stehenden Kastanien eine Scheibe, daß die Träumerin erschreckt auffuhr.

Wie ein weinendes Kind heulte der Sturm um das Haus, mit seinen langgezogenen Klagetönen, die dann plötzlich so schneidend scharf wurden wie ein fernes schrilles Pfeifen.

Mignon fürchtete sich nicht vor diesen seltsamen Tönen. Das Glückseligkeitsgefühl, den Vater gefunden zu haben, endlich aus allen Zweifeln befreit zu sein, rang alles Weh nieder, das sie heute in ihrem Herzen hatte erdulden müssen, und die Vergangenheit versank vor den lockenden Traumbildern einer hoffnungsreichen Zukunft.


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