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Es war ein herbstlich sonnenheller Sonntagmorgen, als Willy Braun und Adolf Wurm durch den Tiergarten nach Charlottenburg hinausgingen.
Sie schlenderten langsam, die Menschen beobachtend, die ihnen entgegenkamen oder sie überholten, verloren sich in einen Seitenweg, und sahen dem Spiel zweier Drosseln zu, die in den welk werdenden Gebüschen sich jagten und umherflatterten.
Der Himmel war wolkenrein, die Luft weich, aber klar, wie bei herannahendem Herbstfroste, so daß sich alle Gegenstände in der Vormittagssonne scharf und farbenrein voneinander abhoben, als sei die ganze Natur einer Wochenreinigung unterzogen.
Von den absterbenden Bäumen raschelten kreisend die gelben und hellbraunen Blätter nieder und knitterten, wenn sie in das trockene Laub fielen, das überall den Boden dicht bedeckte.
Willy trieb zuweilen mit seinem Stocke ein paar Blätter vor sich her, und der Ton, den diese breiten, tiefgelben Ahorn- oder schmutzig-roten Eichen- und Buchenblätter beim Aufeinanderfallen erzeugten, ein fröstelnder, harter Laut, berührte ihn nicht unangenehm.
Als sie die Bellevue-Allee überschritten, mußte er an eine Szene denken, die er vor kurzem hier mit Emmy Dempwolf gehabt hatte.
Er hatte ihr den Gefallen getan und war mit ihr ausgeritten, nachdem ein Bekannter ihm mit liebenswürdiger Bereitwilligkeit Pferde zur Verfügung gestellt hatte.
Der Gaul war lammfromm, allein die übermütige junge Frau hatte ihn durch fortwährende unsinnige Manöver derart verstört, daß er zu bocken anfing und Willy alle Mühe hatte, ihn zu beruhigen und einen Unfall zu verhüten.
Es schien, als wollte sie es darauf anlegen, ein Abenteuer herbeizuführen; ihr ganzes Benehmen war so herausfordernd, daß er alle Lust verlor, noch einmal mit ihr auszureiten.
Je höflicher und zurückhaltender er sich betrug, um so koketter wurde sie gegen ihn, und so war er froh, als sie endlich abreiste; zumal es ihm unangenehm war, daß er nicht mehr hinauskommen konnte, ohne sie bei seiner Mutter zu treffen.
Es berührte ihn peinlich, seine Mama in dieser Gesellschaft zu sehen, und eines Tages hatte er es ihr offen gesagt, aber sie hatte ihn ausgelacht und ihn ein eifersüchtiges Närrchen geheißen. Was wollte er denn? – Es war eine junge, lebenslustige Frau, halb noch ein Kind, die das ganze Jahr auf ihrem einsamen Gute saß und sich jetzt ein bißchen austollte, trotz ihrer grämlichen Schwester, die von nichts anderem reden konnte als von ihrem seligen Hauptmann.
Und hier hatte sie niemand als Onkel Jack, der ihr vielleicht ein wenig den Hof machte, aber der war in seinen Beteuerungen nicht immer so ganz salonfähig.
Professor Petri war nach Paris gereist, um dann auf dem Rückwege Mignon abzuholen.
*
Drei Wochen waren seit Frau Annas Geburtstage verflossen. In den letzten Tagen war dann auch Emmy Dempwolf zu ihrem Brummbär zurückgekehrt, und es war wieder still geworden in der kleinen Villa.
Wenn Willy hinauskam, fuhren sie zu dreien spazieren, oder wenn der Vater gut aufgelegt war, diskutierten sie miteinander. Allein Will hatte dabei einen schweren Stand, weil Doktor Braun so gar kein Verständnis für Schulphilosophie hatte. Alles, was über die Grenze exakter Forschung hinausging, hatte für ihn weder Wert noch Zweck, und immer hatte er bei derartigen Gesprächen bald einen Angriffspunkt gefunden, den Willy nicht verteidigen konnte, weil es sich meist um eine aus dem System herausgerissene Einzelheit handelte, die nur im Zusammenhange Wert und Bedeutung hatte.
Willy hatte eine unbegrenzte Achtung vor dem Vater, vor dem Umfange seines zwar mehr dilettantischen, aber im Laufe der Zeit wohlgeordneten Wissens.
Deshalb diskutierte er gern mit ihm, aber er respektierte den Kranken zu sehr und wagte es nicht, ihn mit gleichen Waffen zu bekämpfen.
Er war niemals zu ihm in ein wirklich herzliches Verhältnis getreten, sie blieben sich fremd, und wenn es sich um eine wichtige Angelegenheit handelte, so gab die Mutter den Ausschlag.
Auf sie hatte er all seine Liebe übertragen, während der Vater dagegen zu kurz kam, der, an seinen Krankenstuhl gefesselt, zur Untätigkeit verdammt war.
Willy unterhielt sich jetzt mit Wurm über den Vater. Der Musiker war ein paarmal bei ihnen gewesen und hatte ihnen einige seiner Sachen vorgespielt.
Aus all seinen Melodien klang eine versteckte Resignation, ein schwermütiger, fast tragischer Zug, etwas wie gebrochener Wille.
Er arbeitete an einer großen Oper, von der er gern sprach, und zu der er sich selbst den Text schrieb.
Er wollte heute zu Jack Braun hinaus, um ihm den ersten Akt vorzuspielen; deshalb war er etwas erregt, denn bis dahin hatte noch kein Mensch weder ein Wort noch eine Note davon zu Gehör bekommen.
Sie hatten sich wieder tiefer in den Tiergarten verloren, schlugen aber jetzt die Richtung nach der Chaussee ein, wo leicht gebaute Equipagen mit fröhlichen Insassen dahinjagten: Damen lässig in die Kissen zurückgelehnt, jubelnde Kinder, wegen des graudrohenden Herbstes in mehr winterliche Gewänder gekleidet, herumtollten.
Noch lag mit wärmenden Strahlen die Sonne auf dem dörrenden Geblatt und färbte die noch grünen Blätter am Rande gelb, warf immer größer werdende braune Tupfen und Flecke darauf und sog den Lebenssaft langsam aus den schwachen Stengeln, bis ein Lüftchen kam und das Blatt knickte, mit jenem leisen, sterbenden Laute, der wie ein kleiner Sterbeseufzer klingt, oder bis es altersschwach von selbst träge vom Aste brach.
Die Gärten an der Berliner Straße, in die sie inzwischen gelangt waren, fingen an, zu veröden; die Blumen waren verschwunden, nur spätblühende Geranien und dürre, hochstämmige Astern verliehen mit ihren bunten Blütenköpfen der Einförmigkeit Farbe.
Das Gras hatte seine lebenssatte Färbung eingebüßt und ward schmutzig graugrün. In den Wegen faulte das erste welke Laub, und die Rosenstöcke streckten ihre blütenleeren Dornenzweige zum Himmel.
Der Herbst zog früher als gewöhnlich ins Land, nur am Tage konnte er vor der Kraft der Sonne noch nicht aufkommen. Dafür setzte er dann in der Nacht sein Zerstörungswerk um so eifriger fort.
Auch im Garten der Villa in der Sophienstraße sah es trübe aus. Der Gärtner bemühte sich vergeblich, farbige Blumenrabatten zusammenzustellen. Der Nachtfrost verdarb ihm alles, und mit den eigentlichen Herbstblumen machte es sich gar so kahl. –
Wurm ging weiter zur Knesebeckstraße, wo Jack Braun wohnte, während Willy die Mutter suchte, die er trotz des kühlen Morgens auf der Terrasse sitzen fand.
Das fahlgelbe Weinlaub kletterte über die Brüstung und versuchte, an den schlanken jonischen Säulen, die den Balkon trugen, sich emporzuranken.
Eine breite Treppe von wenigen Stufen führte in den Garten hinab. Auf den seitlichen Absätzen standen einige Oleanderkübel, die jetzt zur Nachtzeit schon in das Gewächshaus gebracht werden mußten.
Frau Anna saß in einem niedrigen Gartenstuhle, über den ein graues Elenfell gebreitet war.
Ein aufgeschlagenes Buch, zur Hälfte noch unaufgeschnitten, lag gähnend auf dem kleinen Tische. Es mußte schon lange dort liegen, denn die aufgeblätterten Seiten waren schmutzig geworden von dem feinen Staube, der von den nahen Tonfabriken, der Chaussee und den Abladeplätzen des Spreekanales in der Luft umherirrte …
Ihre Gedanken mußten weit fort sein, denn sie hörte nicht, als Willy die Terrasse betrat.
Er blieb in der Tür stehen und beobachtete sie.
Ein feiner, aber scharfer Zug von innerlichem Leid lag um die Mundwinkel und zog sich von den Augen wie ein matter Strich die blasse Wange herab.
Sie hatte das Kinn in die Hand gestützt und blickte in den Garten hinaus, wo die Morgensonne mit vollem Scheine friedlich auf den saubergeharkten, mit gelbem Sand bestreuten Wegen lag und in den feinen Silberstrahlen des plätschernden Springbrunnens glitzerte.
Willy betrachtete die Träumende lange.
Wie schön sie noch immer war. Weshalb war er nicht Maler, um sie malen zu können, wie sie dalag, in dem mattgelben Morgenkleide, von dem die roten Bänder und Schleifen sich lebhaft abhoben, mit ihrem durchsichtigen Elfenbeinteint und den dunkelbraunen, etwas wirren Haaren, in denen wie versunken eine Teerose schwamm.
Er trat einen Schritt vor, auf die bunten Fliesen. Sie hob den Kopf, und er sah deutlich, wie plötzlich in den wehmutstrunkenen Augen eine lachende Freude aufleuchtete, – wie in dem Gesichte, über dem eben noch ein Schleier von Melancholie lag, eine Veränderung vorging, wie mit einer Landschaft, über der die Wolkenschatten zerflattern.
Sie streckte ihm die Hand hin, und er küßte diese schlanken Finger mit fast andächtiger Scheu, daß sie ihn zu sich herabzog und ihre Lippen auf seine Augen preßte.
Und nun holte er einen kleinen Strauß von Dijonrosen hervor, mit ihren weißen, zarten Knospen, die er ihr mitgebracht hatte.
Gleich einem Verliebten war es ihm zur Gewohnheit geworden, niemals mit leeren Händen zu kommen.
Wenigstens eine Blume mußte er ihr mitbringen, um ihr zu zeigen, daß er inzwischen an sie gedacht hatte.
Er verbarg dergleichen, vor allem vor dem zum Spott nur zu sehr veranlagten Lautner, weil er sich sehr wohl bewußt war, daß er einen übertriebenen Kultus mit seiner Mutter trieb. Sie wußten ja nicht, was sie ihm alles war. –
Er sah, wie sich seine Bekannten gedankenlos an das erste beste Mädchen wegwarfen; er kannte jene alltäglichen Beziehungen, die oft Wochen und Monate dauerten und sich dann ebenso gleichgültig wieder lösten, ohne alle Romantik, ohne Liebe. Er sah, wie oft die Liebe rings um ihn als Ware aufgefaßt wurde oder, was schlimmer schien, eine Lüge war.
Er hatte das drängende Bedürfnis nach Liebe, er mußte jemanden haben, dem er sein Herz ausschütten konnte. Er hielt es nicht aus, lange allein zu sein; es trieb ihn stets zu anderen hin. So fühlte er sich zu Lautner hingezogen, allein er fürchtete sich vor dessen klarer Lebensauffassung, die keine Spur von Romantik aufkommen ließ, die immer gleich prosaisch gesund und nüchtern aburteilte.
Mit Bangen sah er die Zeit kommen, da er fern von Haus sein mußte, daß auch er, gleich den anderen, sich vielleicht endlich einen Ersatz suchen würde, den er vor sich selbst nicht verteidigen konnte.
Er mußte jemand sein ganzes Innere offenbaren können, der ihn mit Geduld anhörte, denn er war oft unruhig, unzufrieden mit sich und seiner Arbeit.
Er war nervös geworden, von jener Nervosität, wie sie dem Großstädter eigen ist, der sich in geistiger Arbeit aufreibt. Eine Unbefriedigtheit, ein Hasten und Drängen nach immer Neuem beseelte ihn; er wollte das, was noch dunkel vor ihm lag, möglichst bald erreichen, um nicht im bangen Zweifel verharren zu müssen.
In solchen Augenblicken ließ er seine Bücher im Stich und kam unerwartet zur Mutter, denn er wußte, daß er bei ihr seine Ruhe wiederfand und alles mit einem Schlage wieder gut war.
Er war sentimental veranlagt, aber er konnte sich nicht ausgeben. Das Gefühl schlummerte in ihm und häufte sich mehr und mehr, je größer die Gleichgültigkeit und Gefühllosigkeit um ihn her zunahm.
Es schauderte ihn vor diesem Mangel an Seele, vor dem Bewußtsein, daß auch er einmal so werden konnte wie die andern, die doch gewesen sein mußten wie er; denn er sah es an seinen Freunden, wie sie in dieser Atmosphäre der Apathie langsam untergingen.
Deshalb klammerte er sich an seine Liebe zur Mutter. So lange er sie hatte, konnte er sich nicht selbst verlieren; wenn er nur ihre Stimme hörte, wich das Angstgefühl von ihm, wie Schatten und Nebel vor der Sonne.
Er kam sich vor wie ein törichtes Kind, das hinter dem Mutterrocke Schutz sucht vor eingebildeten Spukgestalten, und trotzdem hatte er nicht den Mut, sich auf sich selbst zu besinnen. –
Er streichelte ihr die Hand, während sie den feinen Hauch der Dijonrosen einsog.
Dann legte sie das Bukett auf den Tisch und sagte:
»Geh einmal hinauf zu Papa. Er hat schon den ganzen Morgen nach Dir verlangt.«
»Du schickst mich schon wieder von Dir fort?« –
»Ja, und wenn Du wiederkommst, werde ich Dich noch einmal fortschicken.«
»Ich soll Dich heute wohl gar nicht sehen,« lachte er, während er ihre beiden Hände umschlossen hielt.
»Du mußt Dich heute den andern opfern, nicht mir. Nun geh hinauf, und wenn Du wiederkommst, erfährst Du mehr …«
Frau Anna blieb allein und tändelte mit den Rosen. Sie nahm ihre Gedanken wieder auf, aber jetzt verwirrte sich alles, und sie fand die Ruhe von vorhin nicht wieder.
Sie blickte hinaus, wie die Sonne auf die gerade abgestochenen Gartenwege schien, sie hörte das leise, melodische Plätschern des Springbrunnens, und dann glaubte sie die Stimme ihres Gatten und Wills zu hören, hie und da ein abgerissener Laut. –
Zwei Sperlinge flatterten auf die Terrasse, jagten sich im Weinlaube, balgten und zausten sich dann auf dem bunten Fliesenboden, bis sie erschreckt plötzlich auseinanderflogen, als Frau Anna sich bewegte.
Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen, sie wollte an etwas nicht denken, aber es war ihr nicht möglich. Sie besaß sonst die beneidenswerte Fähigkeit der Frauen, rasch zu vergessen, im vollsten Maße.
Alles, was hinter ihr lag, nahm für sie eine fast traumhafte Gestalt an. Was hinderte sie, die Dinge anders zu denken, als sie gewesen waren? …
Zwei Verse Calderons hatten einmal Eindruck auf sie gemacht und waren ihr im Gedächtnis geblieben:
Denn nur ein Traum ist alles Leben,
Und selbst die Träume sind ein Traum. –
Sie murmelte es leise vor sich hin: Und selbst die Träume sind ein Traum …
Die Vergangenheit kann nur Schatten beschwören.
Aber wenn die Vergangenheit Gestalt annahm, Fleisch und Blut gewann?
Sie schüttelte den Kopf. Sie sorgte sich da um Dinge, die sie im Grunde nichts angingen. Was war ihr das jetzt noch? … Nichts! – gar nichts.
Sie hörte die Stimme ihres Mannes jetzt deutlicher. Er sprach laut und lachte. Und die Stimme klang kalt und klar, daß es sie fröstelte, mitten im Sonnenschein.
Sie ärgerte sich darüber. Wenn das so fortging, machte es sie noch ganz nervös.
Und all das um das Kind, das Reinhold Petri aus Lausanne mitbrachte, und dessen Mutter sie einmal gehaßt hatte. Die Mutter lag schon lange im Grabe, und das Kind trug keinerlei Schuld.
Wie lang' das her war? – Und wie die Zeit verging, eilends; aber die Zeit hinterließ ihre Spuren.
Sie verheimlichte es sich nicht mehr; sie wurde zusehends alt, vielleicht weil sie so lange jung geschienen. Das Alter kam über Nacht.
Wenn sie genauer hinsah, so mehrten sich in den Augenecken die Krähenfüße, und zwischen ihren Haaren fand sie immer mehr graue.
Sie kämpfte nicht mehr dagegen an, sie hatte ein Recht, alt zu werden; wenn Willy es auch nicht zugeben wollte.
Er kam jetzt wieder herab, nachdem er ein halbes Stündchen mit dem Vater geplaudert hatte.
»Schenkst Du mir nun noch ein Viertelstündchen? Nicht für mich.«
»Gewiß Mama!«
»Dann geh' hinüber zum Professor – er ist gestern zurückgekommen – und sag', er solle ja nicht versäumen, um zwei zu Tisch zu kommen.«
»Das ist alles?«
»Ja, doch halt. Darf man ein paar Rosen aus dem Bukett nehmen?«
»Soll ich die dem Professor bringen?«
Sie sah plötzlich auf, dann lächelte sie:
»Gewiß, wem denn sonst?«
»Ah, ich weiß, Fräulein Mignon ist angekommen.«
»Das weiß ich nicht, ob Fräulein Mignon angekommen ist, mein hoher Herr.«
»Wem soll ich dann aber die Rosen geben?«
»Du hast es ja selbst gesagt, dem Professor. Geh' nur hinüber und richte Deine Botschaft aus, und wenn Du jemand triffst, der Dir dieser Rosen würdig scheint, so gib sie ihm. Das wird dann wohl der Professor sein.«
»Nein, ich glaube, ich werde sie wieder mit heimbringen, um sie Dir zu geben.«
»So? Und deshalb schickt man Dich also fort? Nun mach' aber hurtig.«
»Du wirfst mich ja beinah hinaus. – Aber das hilft Dir nichts, die Rosen bekommst Du doch wieder.«