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Als Willy am folgenden Tage in der Dämmerung herauskam, fand er Mignon im großen Wohnzimmer bei der Lampe, mit einer Stickerei beschäftigt, eine Visitenkartentasche für ihn zu Weihnachten. –
Den ganzen Tag war das junge Mädchen sehr vergnügt gewesen. Sie hatte dem Vater einen langen Brief geschrieben, in dem sie allerlei halbe Andeutungen gemacht hatte, so daß er recht neugierig geworden sein mußte.
Dann hatte sie an Will gedacht und die Minuten gezählt, bis er endlich kam.
Sie eilte ihm entgegen, hing sich an ihn und ließ sich von ihm küssen, indem sie ihn schalt, daß er so lange hatte auf sich warten lassen.
Dann erzählte sie ihm von den beiden Besuchen, wie erst seine Mama zu ihr gekommen und sie dann zu Onkel Jack gegangen war.
Er zog sie auf seinen Schoß und sie legte die Arme um ihn.
»Wie naß Du bist – und so kalt, gib mal Deine Hände, daß ich sie wärmen kann.«
»Ja, es ist bitter kalt. Mich wundert, daß es noch nicht zu schneien anfängt.«
»Dann fahren wir aber Schlitten, ja?«
»Und laufen Schlittschuh. Kannst Du's?« –
»Nein, aber ich werde es lernen. Du mußt es mich lehren. Es wird sehr schön sein.«
»Ja, es soll herrlich werden.«
Sie küßte ihm den feinen Tau von seinem Schnurrbarte und fuhr liebkosend mit beiden Händen über sein Haar.
»Ich habe mich so nach Dir gesehnt,« schmeichelte sie und legte ihre Wange an die seine. »Und ich habe von Dir geträumt: Wir gingen über eine große bunte Blumenwiese. Und in dem grünen Grase waren Tausende von gelben und roten Blumen. Davon pflückten wir uns, bis wir beide Hände voll hatten. Es war mitten im Sommer. Der Himmel war so tiefblau und um uns ein leises Summen, wie von einer Orgel in einer fernen Kirche. Es mußten wohl die Insekten sein, die Bienen, die von Blume zu Blume flogen. Und dann nahmst Du mich bei der Hand, und wir gingen immer weiter, aber das Gras war so lang, daß ich müde wurde, und Du mußtest mich tragen. Und dann kamen wir an ein großes breites Wasser, das war gelb und schäumte wie ein wilder Fluß. Und wir standen am Ufer und konnten nicht hinüber – und dann wachte ich mit einem Male auf – und da regnete es ganz laut gegen das Fenster …«
Er lachte und küßte sie, bis sie sich zum Scheine wehrte, laut und lachend, um sich einen Augenblick ihm hinzugeben und im nächsten wieder spröde zu tun.
Bis jetzt hatten sie sich nur flüchtig im Hause die Hand gedrückt oder ganz verstohlen einen Kuß getauscht.
Jetzt waren sie weniger vorsichtig geworden, es währte ja nicht mehr lange, und alle Welt konnte es wissen, daß sie sich gern hatten, und sie konnten sich küssen nach Herzenslust.
Willy mußte erst noch einmal zur Mutter hinüber, wo sie sich zum Abendessen treffen wollten. Mignon dachte fast mit Angst an die Stunden, denn Doktor Braun war ans Bett gefesselt, und sie würden zu dreien sein.
Willy versprach ihr sofort wiederzukommen, damit sie noch eine Weile ungestört plaudern konnten.
Mignon begleitete ihn hinunter und blieb in der offenen Tür stehen, um ihm nachzusehen. Dann trällerte sie vergnügt durchs Haus, ohne mehr die geringste Lust, irgend etwas zu tun. –
*
So fand Minna sie nach einer halben Stunde, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, im Zimmer auf und abgehen.
Mignon lächelte so geheimnisvoll, daß Fräulein Minna sich nicht enthalten konnte, zu fragen, was sie habe.
»Nichts – gar nichts! Ich bin nur sehr glücklich!«
»So! so! …«
Dann nach einer Pause:
»Minna, Du! – Bin ich eigentlich schon alt genug, um zu heiraten?«
»Heiraten, wie kommst Du dummes Ding zu solchen Fragen?«
»Na, fragen kann man doch. Es heiraten doch genug Leute.«
»Die sind auch gescheiter als Du, Kindskopf.«
»Du meinst also, ich sei noch zu jung?«
»Red' doch nicht solches Zeug.«
»Aber ans Verloben, da darf ich denken?«
»Was Du nur heute hast. Warte nur, wenn der Herr Professor zurückkommt.«
»Ich möchte mich gar zu gern verloben.«
»Nun seh mal einer!«
»Was meinst Du, wenn ich es täte?«
»Aber Kind, mit solchen Dingen treibt man keinen Scherz.«
»Es ist kein Scherz?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Ja – aber …«
»Du hast also auch nichts gemerkt? Seid ihr denn alle blind?« –
»Was denn?«
»Na, Willy! … Will! … Daß er mich liebt, und ich ihn, und daß … Um Gottes willen, Minna, was ist Dir, Minna, liebste Minna, was hast Du denn? So sprich doch! … Aber mein Gott, Du bist ja ganz blaß. – Wird Dir schlecht? … Komm, setz Dich hin … so! – Aber was ist denn nur?«
»Laß … laß nur! Es ist … nichts. Ich …«
»Trink' etwas Wasser. – Aber Du zitterst ja an allen Gliedern.«
»Ja, ich zittere … Glaub's wohl … Laß nur, es geht schon vorüber.«
Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, während Mignon ratlos vor ihr stand.
»Das ist das Alter, das kommt.«
»Minna, gute Minna!«
»Ja, Kind – ja … und Du sagst, … Du … Du willst Dich verloben?«
»Ja, Minna.«
»Und mit wem, sagst Du?«
»Mit Willy, mit wem denn sonst? Ach, wenn Du wüßtest, wie lieb ich ihn habe; noch lieber als Papa.«
Minna zitterte am ganzen Leibe. Nach einer langen, peinlichen Pause fragte sie, stockend, jede Silbe mit Mühe herausbringend:
»Mit Willy Braun?«
»Ja doch, Minna!«
»Weiß das schon wer?«
Mignon sah sie forschend an.
»Ja! – Will hat seiner Mama alles gestanden.«
»Und …«
Sie starrte das junge Mädchen angstvoll an, mit den Händen nach ihr greifend.
»Sie weigert sich. Sie sagt: niemals! …«
Es entfuhr Minna wie ein Seufzer der Erlösung.
»Aber wir lassen nicht voneinander, niemals, hörst Du, was die andern auch tun mögen.«
»Mignon!«
»Was ist denn, Minna?«
»Heilige Mutter Gottes, wie soll das enden?!«
»Mit einer Hochzeit! Denn wenn Papa einwilligt …«
»Das kann ja nie sein.«
»Das kann nicht sein?«
»Nein, frag' nicht, ich bitte Dich. Ich kann es Dir ja nicht sagen, ich darf es nicht.« –
»Das sagt Ihr alle; aber ich verstehe Euch nicht.«
»Quäle mich nicht. – Frag' Deinen Vater, der kann es Dir vielleicht sagen, daß Du Willy Braun nicht lieben darfst.«
»Ich darf nicht? – Aber ich liebe ihn ja, grenzenlos, mehr als mein Leben.«
»Um Gottes willen, sprich nicht weiter, Kind, ich bitte Dich, sprich nicht weiter. – Und jetzt … jetzt laß mich. – Ich bin nicht ganz wohl. Ich weiß ja nicht mehr – was ich spreche.«
Sie erhob sich; allein Mignon mußte sie stützen, daß sie nicht wieder auf den Stuhl zurückfiel, und dann führte sie sie langsam auf ihr Zimmer, wo sie allein bleiben wollte. –
*
Mignon war durch die erlebte Szene, deren Veranlassung sie nicht begriff, in die größte Bestürzung geraten.
Und Willy blieb länger fort, als sie erwartete.
Unruhig ging sie durch das Haus und mehrmals hinunter, um in die Nacht hinauszuspähen.
Als sie an Minnas Zimmer vorbeikam, blieb sie stehen, und sie hörte, als ob drinnen Gebete gemurmelt würden, allein sie wagte es nicht, Minna zu stören.
Endlich kam Willy.
Hastig erzählte sie ihm alles.
Was konnte das zu bedeuten haben? Denn es steckte was dahinter. Das war gewiß. –
Und ohne weiter auf Mignon zu hören, ging er zu Minna hinauf.
Er fand sie in ihrem Zimmer, einem kleinen, klösterlich einfachen, nur mit ein paar Heiligenbildern ausgestatteten Gemache.
In der einen Ecke hing ein Christus am Kreuz, ein hagerer, weißer Leib, der sich scharf von dem breiten dunklen Holze abhob, auf das er geschlagen war.
Minna saß am Tische, die Hände im Schoß gefaltet, und nur bei Willys Eintritt hob sie den Kopf und warf einen fast ängstlichen Blick auf ihn, um sich dann hastig abzukehren.
Sie hatte geglaubt, es sei Mignon, sonst hätte sie ihn nicht eingelassen.
Jetzt war es zu spät, und er stand vor ihr und fing an zu fragen, unruhig, wie gequält von einem Geheimnisse, dessen Inhalt er ahnte.
Minna mußte alles aufbieten, um sich nicht schon mit den ersten Worten zu verraten.
Die alte Abneigung gegen Frau Anna keimte wieder in ihr auf. Wenn sie alles verriet? … Damit konnte sie jene am empfindlichsten verwunden, wenn sie dem Sohne die Augen über die Mutter öffnete.
Aber noch hielt sie an sich, obgleich es in ihr wühlte, die grausame Lust, ihm die volle Wahrheit zu sagen. Aber je drängender er mit seinen Fragen wurde, eine um so unerschütterlichere Abwehr setzte sie ihm entgegen.
Erst als er anfing, fast roh gegen sie zu werden, brauste sie auf, höhnisch, mit einem Lachen, das ihn beleidigte:
»So fragen Sie doch Ihre Frau Mutter!«
Er fühlte die sinnlose Erbitterung aus ihren Worten heraus.
»Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiele!«
»Schau – schau, junger Herr! … Nur nicht gar so giftig gegen ein altes Weib.«
»Das ist mir gleich …«
»Nun seht doch! .. Ich dächte, ich hätte noch nichts getan, was ich nicht vor aller Welt verantworten könnte.«
Er wußte, es war eine versteckte Beleidigung dahinter, deshalb brauste er wild auf:
»Was soll das heißen?«
»Daß Sie noch lange nicht das Recht haben, so gegen mich aufzufahren. Wenden Sie sich an eine andere.«
»Weib! Ich …«
Er war auf sie zugetreten und hatte sie am Arme gepackt, indem er scharf durch die Zähne, wie zum äußersten entschlossen, langsam sagte:
»Ich will jetzt alles wissen! Hörst Du, alles!«
»Alles? – Da mußt Du schon Deine Mutter fragen.«
»Was soll meine Mutter damit?«
»Oho, junger Herr, zerbrechen Sie einer alten Frau nicht die Knochen, ja?«
Allein er ließ sie nicht los.
»Willst Du es jetzt sagen?« knirschte er fast und schüttelte sie.
Und jetzt sagte sie langsam, indem sie vor ihm zurückwich, während er sie frei gab:
»Frag' sie doch, wessen Kind Du bist …«
Er hatte sie losgelassen und starrte sie an. Im nächsten Augenblicke, als sie auflachte, sagte er sich, die Alte sei verrückt geworden.
Aber nun, wie mit einem Schlage, veränderte sich ihr Gesicht, und sie stürzte auf ihn zu, faßte ihn am Arm und jammerte:
»Jesses Maria, was hab' ich gesagt. Es ist ja nicht wahr! – Glaub's nicht, es ist nicht wahr!«
Jetzt, wo sie zu leugnen, wo sie sich zu verteidigen suchte, wußte er, daß sie das nicht im Wahnsinn gesprochen hatte.
Als er eine Bewegung machte, um das Zimmer zu verlassen, hielt sie ihn auf, mit zitternden Händen:
»Hörst Du, es ist nicht wahr. Glaub' nicht, was ein altes Weib Dir vorschwatzt. Gib mir Deine Hand, daß Du niemand was sagen wirst, versprich es mir doch …«
Ohne auf sie zu hören, riß er sich von ihr los und stürzte aus dem Hause, hinaus in die Nacht.
Er lief und lief in den strömenden Regen hinein.
Die ganze Welt kam ihm wie ein wüster Traum vor, und ein erstickendes, beängstigendes Gefühl lag auf seiner Brust, eine dunkle Schmerzempfindung.
Ihm war, als ob er sich nur zu ermannen brauchte, um den Alp abzuschütteln, aber er war so lässig und matt.
Einen Augenblick sagte er sich, Minna habe das nur gesagt, um ihren Haß zu befriedigen; allein er konnte sich nicht mehr belügen. –
Und wie er grübelte, war ihm, als ob das nicht ihm, sondern einem ganz Fremden geschehen sei. Er hatte das Bewußtsein seiner selbst verloren.
Wie er so durch die Nacht lief, mußte er an tausend nichtssagende Kleinigkeiten denken, die in gar keinem Zusammenhange standen mit dem, was er eben erfahren hatte …
Endlich kam ihm der Gedanke an seine Mutter, und nun trieb es ihn nach Hause, um der Mutter eine Frage zu stellen, die er jetzt stellen mußte, wenn er nicht verrückt darüber werden wollte.