Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Die Erde.

Die Diamantfelder waren Spuren eines durch die Weltenräume irrenden Kometen. Lange Zeit bahnte sich der in die Anziehungssphäre hereingezogene Apparat den Weg zwischen den Steinen. Seine Geschwindigkeit wuchs unaufhörlich nach den absoluten Gesetzen der Mathematik; die Flugbahnen des Eies und der Meteoriten veränderten sich allmählich: zwischen ihnen bildete sich ein immer größer werdender Winkel. Der goldschimmernde Nebelfleck – der Kopf des unsichtbaren Kometen, und seine Spur – die Schwärme der Meteoriten, beschrieben eine Hyperbel, eine hoffnungslose Kurve, um einen Bogen um die Sonne zu machen und dann wieder in den Weltenräumen zu verschwinden. Die Flugbahn des Apparates näherte sich aber immer mehr einer Ellipse.

Die fast unverwirklicht scheinende Hoffnung auf die Rückkehr auf die Erde erweckte Lossj und Gussjew zum Leben. Sie rissen die Augen nicht mehr von den Gucklöchern los und beobachteten den Himmel. Der Apparat wurde an der einen Seite stark von der Sonne erwärmt – sie mußten alle ihre Kleider ausziehen. Der Schweiß rann von ihnen in Strömen.

Die Diamantfelder blieben tief unten zurück; sie erschienen bald als winzige Funken, wurden zu einem mattweißen Nebelfleck und verschwanden. Nun erblickten sie in weiter Ferne den von regenbogenfarbigen Ringen umgebenen, von seinen Monden umkreisten Saturn. Das Ei kehrte ins Sonnensystem zurück, aus dem es durch die Zentrifugalkraft des Mars herausgeschleudert worden war.

Eine Zeitlang wurde die Finsternis von einer leuchtenden Linie durchschnitten. Bald verblaßte und erlosch auch sie: es waren die Asteroiden, die geheimnisvollen kleinen Planeten, die in zahllosen Schwärmen die Sonne umkreisen. Ihre Anziehungskraft vergrößerte die Krümmung der Flugbahn des Eies noch mehr. Endlich erblickte Lossj durch eines der oberen Gucklöcher eine seltsame, blendende, schmale Sichel: es war der Luzifer. Gussjew, der durchs andere Guckloch hinausschaute, begann fast im gleichen Augenblick zu keuchen und wandte sich rot und schweißbedeckt zu Lossj um:

»Da ist sie, bei Gott, da ist sie...«

In der schwarzen Finsternis strahlte mit warmem Licht eine silbrigblaue Kugel. Etwas abseits von ihr leuchtete heller als sie eine andere, kleinere, von der Größe einer Johannisbeere. Die Flugbahn des Apparates ging an ihnen vorbei. Lossj entschloß sich nun, das gefährliche Manöver anzuwenden und den Hals des Apparates zu drehen, um die Achse der Explosionen von der Flugbahn abzulenken. Die Wendung gelang. Die Richtung änderte sich zusehends. Die größere Kugel kam allmählich in den Zenit.

Die Zeit stürmte vorbei. Lossj und Gussjew klebten bald an den Gucklöchern und lagen bald zwischen den Pelzen und Decken auf dem Boden. Ihre letzten Kräfte schwanden. Sie vergingen vor Durst, aber das ganze Wasser war ausgetrunken.

Plötzlich sah Lossj, der fast bewußtlos war, wie die Pelze, Decken und Säcke längs der Wände krochen. Der nackte Körper Gussjews blieb in der Luft hängen. Es war wie in einem Fiebertraum. Gussjew lag auf dem Rücken neben dem Guckloch. Er erhob sich, griff sich murmelnd an die Brust und schüttelte den zottigen Kopf – über seine Wangen rollten Tränen, sein Schnurrbart hing feucht herab.

»Die Liebe, die Liebe, die Liebe ...«

Lossj begriff trotz seines getrübten Bewußtseins, daß der Apparat sich umgedreht hatte und, von der Erde angezogen, mit dem Halse nach vorn flog. Er kroch zu den Rheostaten und drehte die Hebel um – das Ei begann zu zittern und zu dröhnen. Er beugte sich über das Guckloch.

In der Finsternis hing eine riesengroße, sonnenlichtüberflutete Wasserkugel. Die Ozeane erschienen bläulich, die Umrisse der Inseln grünlich. Nebelfelder verhüllten irgendeinen Kontinent. Die feuchte Kugel drehte sich langsam um ihre Achse. Tränen blendeten die Augen. Die Seele flog, vor Liebe weinend, dem bläulich-feuchten Lichte entgegen. Heimat der Menschheit. Fleisch des Lebens. Herz der Welt.

Die Erdkugel verdeckte den halben Himmel. Lossj drehte die Hebel der Rheostate bis zur äußersten Grenze. Der Flug war aber dennoch so rasend, daß der Mantel glühend wurde und die Gummiteile und die Lederpolsterung zu rauchen anfingen. Gussjew schraubte mit der letzten Anstrengung den Deckel auf. Durch den Spalt drang heulend eisiger Wind herein. Die Erde öffnete die Arme, um ihre verlorenen Söhne wieder aufzunehmen.

Der Anprall war stark. Der Mantel zerbarst. Das Ei drang mit dem Halse tief in einen grasbewachsenen Erdbuckel ein.


Es war am 3. Juni, einem Sonntag, um die Mittagstunde. In einer großen Entfernung von der Absturzstelle, am Ufer des Michigansees, hörten die bootfahrenden, auf den offenen Terrassen der Cafés und Restaurants sitzenden, Tennis, Golf und Fußball spielenden, Papierdrachen in den warmen Himmel steigen lassenden Menschen, die am Ruhetag herausgefahren waren, um sich an der Schönheit der grünen Ufer, am Rauschen des Junilaubes zu erfreuen, ein etwa fünf Minuten dauerndes, seltsames, heulendes Geräusch.

Diejenigen, die sich noch an die Zeiten des Weltkrieges erinnerten, sagten, in den Himmel blickend, daß so die Geschosse der schweren Geschütze zu heulen pflegten. Vielen gelang es, einen schnell auf die Erde gleitenden runden Schatten zu erspähen.

Es war noch keine Stunde vergangen, als sich um das Ei schon eine große Menge ansammelte. Die Neugierigen liefen von allen Seiten herbei, kletterten über Zäune, kamen in Automobilen und in Booten herangerast. Das von einer dünnen Schlackenrinde bedeckte, zerbeulte und gesprungene Ei stand schief auf dem Erdbuckel. Es wurden eine Unmenge von Mutmaßungen laut, eine unsinniger als die andere. Besonders groß wurde aber die Erregung in der Menge, als man die in den Deckel des Apparates gemeißelte Inschrift entzifferte: »Petersburg verlassen am 18. August 1921.« Dies war um so erstaunlicher, als man heute den 3. Juni 1925 schrieb.

Als dann aus dem Innern des geheimnisvollen Apparates ein schwaches Stöhnen drang, wich die Menge entsetzt zurück und verstummte. Es erschienen eine Abteilung Polizisten, ein Arzt und zwölf Zeitungskorrespondenten mit photographischen Apparaten. Man öffnete die Luke und zog mit größter Vorsicht aus dem Innern des Eies zwei nackte Männer heraus: der eine, hager wie ein Skelett, mit schneeweißen Haaren, war bewußtlos; der andere mit zerschundenem Gesicht und gebrochenen Armen stöhnte jämmerlich. Aus der Menge tönten Rufe des Mitleids, Frauen weinten. Man legte die himmlischen Reisenden in ein Auto und brachte sie ins Spital.


Mit einer vor Glück kristallenen Stimme sang hinter dem offenen Fenster ein Vogel. Er sang von den Sonnenstrahlen, vom honigduftenden Wiesenklee, vom blauen Himmel. Lossj lag regungslos in den Kissen und lauschte. Tränen liefen über sein gerunzeltes Gesicht. Diese kristallene Stimme der Liebe hatte er schon irgendwo gehört. Aber wo, wann?

Hinter dem Fenster, das der vom Morgenwinde leicht geblähte Vorhang nur halb zudeckte, glänzte im Grase blauer Tau. Schatten feuchter Blätter bewegten sich auf dem Vorhang. Der Vogel sang. In der Ferne stieg hinter einem Walde eine weiße Wolke auf.

Ein Herz sehnte sich irgendwo nach dieser Erde, nach den Wolken, nach den rauschenden Regengüssen und den glitzernden Tautropfen, nach den Riesen, die inmitten grüner Hügel wandeln ... Nun fiel es ihm ein, auch der Vogel sang davon: Aëlita, Aëlita ... Aber war sie in der Wirklichkeit? Oder war es nur ein Traum? Nein. Der Vogel murmelt mit seiner kleinen gläsernen Zunge davon, daß ein Mädchen, bläulich wie die Abenddämmerung, mit einem, traurigen, schmalen Gesichtchen, eines Nachts am Feuer sitzend und in die Flammen blickend, das Lied der Liebe gesungen hat.

Darum liefen über die gerunzelten Wangen Lossjs die Tränen. Der Vogel sang von der, die im Himmel, hinter den Sternen geblieben war, von der, die unter dem kreuzgeschmückten Grabhügel lag, und vom alten, weißhaarigen Träumer, der den Himmel durchflogen hatte und nun zerschmettert dalag – nun ist er wieder einsam.

Der Wind blähte den Vorhang noch stärker auf, der untere Rand ging in die Höhe, ins Zimmer drang der Duft von Honig, Erde und Feuchtigkeit.


An einem solchen Morgen erschien im Spital Archibald Skiles. Er drückte Lossj kräftig die Hand: »Ich gratuliere, lieber Freund.« Dann setzte er sich auf den Schemel am Bette und schob sich den Strohhut in den Nacken.

»Diese Reise ist Ihnen aber schlecht bekommen, alter Freund«, sagte er. »Ich komme eben von Gussjew, der ist ein tapferer Kerl: seine Arme liegen in Gips, ein Kiefer ist gebrochen, aber er lacht immerfort und ist sehr zufrieden, daß er zurückgekehrt ist. Ich habe seiner Frau nach Petersburg telegraphisch fünfhundert Pfund überwiesen. Wegen Ihnen telegraphierte ich an meine Zeitung, Sie bekommen eine Riesensumme für Ihre ›Reisebilder‹. Sie werden aber Ihren Apparat vervollkommnen müssen: Sie sind nicht gut gelandet. Hol' der Teufel: seit jenem verrückten Abend in Petersburg sind ja schon vier Jahre vergangen. Übrigens: wenn Sie nach Petersburg zurückkehren, werden Sie das Maul aufreißen: es ist jetzt eine der elegantesten Städte Europas. Sie wissen, ja noch nicht ... Ich rate Ihnen, alter Freund, ein Glas guten Kognak zu trinken, der wird Sie lebendig machen.« Er zog aus einer gelben Mappe eine Flasche. »Auch das wissen Sie noch nicht: wir sind wieder ›naß‹ wie die Wasserleichen ...

Skiles plauderte lustig und sah Lossj besorgt an – sein Gesicht war sonnverbrannt und heiter, im Kinn hatte er ein Grübchen. Lossj lachte leise auf und reichte ihm die Hand.

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Sie sind ein Prachtmensch, Skiles.«


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