Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Jenseits der gezackten Berge

Das Luftschiff flog nicht sehr hoch über dem Mars in nordwestlicher Richtung. Lossj und der kahlköpfige Marsianer blieben auf dem Verdeck. Gussjew ging ins Innere des Schiffes zu den Soldaten.

In der hellen, strohgelben Kajüte setzte er sich in einen Rohrsessel und betrachtete eine Zeitlang die spitznasigen, schmächtigen Soldaten, die wie Vögel mit ihren rötlichen Augen zwinkerten. Dann holte er sein blechernes Zigarettenetui mit der auf den Deckel gestanzten Darstellung der Moskauer ›Zarenkanone‹ aus der Tasche – er hatte es sieben Jahre an allen Fronten bei sich gehabt –, klopfte auf die Kanone und bot den Marsianern Zigaretten an: »Wollen wir rauchen, Kameraden.«

Die Marsianer schüttelten erschrocken die Köpfe. Einer von ihnen nahm aber dennoch eine Zigarette an, betrachtete und beschnüffelte sie und steckte sie dann in die Tasche seiner weißen Hose. Als aber Gussjew seine Zigarette anzündete, wichen die Soldaten in höchster Angst zurück und flüsterten mit ihren Vogelstimmen:

»Schocho tao chawra schocho – om.«

Ihre rötlichen spitzen Gesichter beobachteten erschrocken, wie der ›Schochow‹ den Rauch schluckte. Allmählich gewöhnten sie sich aber an den Geruch, beruhigten sich und setzten sich wieder an den Menschen heran.

Gussjew, den die Unkenntnis der marsianischen Sprache wenig genierte, begann seinen neuen Freunden über Rußland, den Krieg, die Revolution und über seine Heldentaten zu erzählen und fürchterlich aufzuschneiden:

»Gussjew ist mein Familienname. Es kommt von ›Gussj‹ – Gans: wir haben so einen großen Vogel auf der Erde, ihr habt solche Vögel euer Lebtag nicht gesehen. Mit dem Vor- und Vatersnamen heiße ich aber Alexej Iwanowitsch. Ich habe nicht nur ein Regiment, sondern auch schon eine Kavalleriedivision kommandiert. Bin ein schrecklicher Held. Ich habe eine eigene Taktik: auf die Maschinengewehre gebe ich nichts, alles wird bei mir mit dem blanken Säbel gemacht. ›Gebt ihr die Stellung auf, ihr Hundesöhne ?‹ Und mit der blanken Waffe los. Ich bin ganz mit Hiebwunden bedeckt, aber ich spucke drauf. Bei uns wird in der Kriegsakademie ein eigener Kursus gelesen: ›Säbelkampf nach Alexej Gussjew‹ – bei Gott – ihr glaubt es nicht? Man hat mir schon ein Armeekorps angeboten.« Gussjew schob die Mütze auf die Seite und kratzte sich hinterm Ohr. »Aber ich hab' genug davon. Sieben Jahre war ich im Krieg, das bekommt man wirklich satt. Da kommt zu mir Mstislaw Ssergejewitsch und fleht mich an: ›Alexej Iwanowitsch, ohne Sie kann ich unmöglich auf den Mars fliegen.‹ So bin ich hergekommen, guten Tag!«

Die Marsianer hörten zu und staunten. Einer brachte eine Flasche mit einer braunen, nach Muskatnuß riechenden Flüssigkeit. Ein anderer machte eine Konservenbüchse auf. Gussjew holte aus seinem Sack die halbe Flasche Spiritus, die er von der Erde mitgebracht hatte. Die Marsianer tranken davon und begannen zu lallen. Gussjew küßte sie, klopfte sie auf die Rücken und lärmte. Dann holte er aus seinen Taschen allerlei Zeug und bot Tauschgeschäfte an. Die Marsianer gaben ihm mit Freude goldene Sächelchen für ein Federmesser, für einen Bleistiftstumpf, für ein merkwürdiges, aus einer Gewehrpatrone hergestelltes Feuerzeug. Gussjew stand schon mit allen auf dem Duzfuße.

Lossj blickte indessen, an den durchbrochenen Bord des Luftschiffes gelehnt, auf die unten entschwebende traurige, hügelige Ebene. Er erkannte das Haus, in dem sie gestern gewesen waren. Überall waren ähnliche Ruinen und Baumgruppen zerstreut und zogen sich ausgetrocknete Kanäle hin.

Lossj zeigte auf diese Wüste und sah den Marsianer fragend an: warum ist das ganze Land verlassen und tot? Die hervorstehenden Augen des Marsianers nahmen plötzlich einen bösen Ausdruck an. Er gab ein Zeichen, und das Luftschiff stieg höher, beschrieb einen Bogen und schlug die Richtung zu den Gipfeln der gezackten Berge ein.

Die Sonne stand hoch am Himmel, die Wolken waren verschwunden. Die Propeller heulten, die biegsamen Flügel knarrten bei den Wendungen, die vertikalen Schrauben surrten. Lossj merkte, daß außer dem Geräusch der Schrauben und dem Pfeifen des Windes in den Flügeln und Masten keine andern Töne zu hören waren: die Maschinen arbeiteten vollkommen geräuschlos. Aber auch von den Maschinen selbst war nichts zu sehen. Man sah nur an der Achse jeder Luftschraube eine rotierende runde Büchse von der Größe einer Dynamotrommel und an den Spitzen des vorderen und des hinteren Mastes je einen knisternden elliptischen Korb aus Silberdraht.

Lossj fragte den Marsianer nach dem Namen der Gegenstände und schrieb sie sich auf. Dann holte er aus der Tasche das Buch, das er gestern eingesteckt hatte, und bat ihn um Angabe der Aussprache der geometrischen Schriftzeichen. Der Marsianer sah das Buch erstaunt an. Seine Augen wurden wieder kalt, die feinen Lippen verzerrten sich wie vor Ekel. Er nahm das Buch vorsichtig aus Lossjs Händen und warf es über Bord.

Lossj spürte von der dünnen Höhenluft Schmerzen in der Brust, und seine Augen begannen zu tränen. Als der Marsianer es bemerkte, gab er ein Zeichen, und das Luftschiff flog etwas tiefer. Nun schwebte es über blutroten öden Felsen dahin. Ein windungsreicher, breiter Bergrücken zog sich vom Südosten nach Nordwesten. Der Schatten des Luftschiffes glitt unten über zerrissene Bergwände, über funkelnde Erzadern, über steile, flechtenbewachsene Abhänge, stürzte in neblige Abgründe, verdunkelte diamantenfunkelnde Eisgipfel und spiegelglänzende Gletscher. Das Land war wild und unbewohnt.

»Lisiasira«, sagte der Marsianer, gegen die Berge nickend, und zeigte dabei seine kleinen Zähne, in denen Gold funkelte.

Lossj sah auf diese Felsen hinab, die ihn so traurig an die tote Landschaft des im schwarzen Himmel irrenden geborstenen Planeten erinnerten, und erblickte im Abgrunde auf den Steinen das Gerippe eines gestürzten Luftschiffes, von Bruchstücken aus silbrigem Metall umgeben.

Hinter einem Felsen ragte der zerbrochene Flügel eines andern Luftschiffes. Rechts hing ein von einer Granitspitze durchbohrtes, vollkommen verstümmeltes drittes Luftschiff. Überall lagen hier Überreste riesengroßer Flügel, zerbrochener Rümpfe, geborstener Rippen. Es war wie ein Schlachtfeld, von gestürzten Dämonen bedeckt.

Lossj sah seinen Nachbar von der Seite an. Der Marsianer saß, den Mantel am Halse festhaltend, da und blickte ruhig auf den Himmel. Dem Luftschiff entgegen zogen in gerader Linie Vögel mit langen Flügeln. Plötzlich schwangen sie sich auf und wandten um; ihre gelben Flügel blitzten durch das tiefe Blau. Ihnen nachblickend, sah Lossj tief zwischen den Felsen einen runden schwarzen See. Krause Büsche drängten sich an seinen Ufern. Die gelben Vögel ließen sich am Wasser nieder. Die Oberfläche des Sees geriet in Bewegung, sprudelte und aus ihrer Mitte erhob sich ein mächtiger Wasserstrahl, der nach einigen Augenblicken wieder verschwand.

»Soam«, sagte der Marsianer feierlich.

Der Bergrücken nahm ein Ende. Im Nordwesten sah man durch die vibrierenden erhitzten Luftschichten eine kanariengelbe Ebene hegen und ein großes Gewässer glänzen. Der Marsianer wies mit der Hand in die neblige, wunderbare Ferne und sagte mit einem Lächeln:

»Asora.«

Das Luftschiff stieg etwas höher. Feuchte, süße Luft wehte ins Gesicht, rauschte in den Ohren. Asora dehnte sich als eine weite, strahlende Ebene. Von wasserreichen Kanälen durchschnitten, von orangefarbenen Baumgruppen und lustigen, kanariengelben Wiesen bedeckt, ähnelte Asora (was »Freuden« bedeutete) jenen Frühlingswiesen, die man in seinen Kindheitsträumen nicht sieht.

In den Kanälen bewegten sich Boote und Barken. Längs der Ufer lagen weiße Häuschen und Gärten mit gewundenen Wegen. Überall bewegten sich die kleinen Gestalten der Marsianer. Manche stiegen von den flachen Dächern auf und flogen wie Fledermäuse über das Wasser oder über ein Gehölz. An durchsichtigen Türmchen drehten sich Windräder. Überall auf den Wiesen glänzten Wasserlachen, funkelten Bäche. Asora war ein herrliches Land.

Am Ende der Ebene glänzte in der Sonne eine weite Wasserfläche, in die die Linien aller Kanäle mündeten. Das Luftschiff flog in dieser Richtung, und Lossj erblickte endlich einen großen, geraden Kanal. Sein fernes Ufer verschwand in einem feuchten Nebel. Seine gelblichen trüben Wasser flossen langsam längs der steinernen Böschung.

Sie flogen lange. Am Ende des Kanals hob sich aus dem Wasser der gleichmäßige Rand einer Mauer, die sich zum Horizont hinzog. Die Mauer wuchs zusehends. Nun unterschied man auch die riesengroßen uralten Quadern, zwischen denen Sträucher und Bäume wuchsen. Das Luftschiff näherte sich einem gigantischen Zirkus. Er war voller Wasser. Von der Wasseroberfläche stiegen an verschiedenen Stellen Fontänen empor.

»Ro«, sagte der Marsianer und hob wichtig den Finger.

Lossj holte aus der Tasche sein Notizbuch und fand darin die gestern flüchtig hingeworfene Skizze der Linien und Punkte auf der Marsoberfläche. Er reichte die Skizze seinem Nachbar und zeigte nach unten, auf den Zirkus. Der Marsianer sah die Zeichnung mit gerunzelter Stirn an, verstand, was gemeint war, nickte freudig mit dem Kopfe und bezeichnete mit dem Fingernagel einen der Punkte auf der Skizze.

Lossj beugte sich über Bord und erkannte tatsächlich drei vom Zirkus ausgehende wassergefüllte Kanäle: zwei gerade und einen geschwungenen. Das ist also des Rätsels Lösung: die runden Flecken auf der Scheibe des Mars sind als Wasserbehälter dienende Zirkusse, die Linien der Dreiecke und Kreise sind Kanäle. Aber was für Wesen haben diese zyklopischen Mauern aufführen können? Lossj sah seinen Reisegenossen an. Der Marsianer schob die Unterlippe vor, hob beide Arme gen Himmel und sagte:

»Tao chazcha utalizitl.«

Das Luftschiff durchquerte jetzt eine verbrannte Ebene. Auf ihr lag als rosenroter, sehr breiter, blühender Streifen, das wasserlose Bett eines vierten Kanals, von gleichmäßigen Reihen von Anpflanzungen bedeckt. Offenbar war es eine der Linien des zweiten Kanalnetzes der blasseren Zeichnung auf der Marsscheibe.

Die Ebene ging in niedere, sanfte Hügel über. Hinter ihnen erschienen die bläulichen Umrisse durchbrochener Türme. Auf dem mittleren Mast des Luftschiffes hoben sich die Drähte, und zwischen ihnen knisterten Funken. Hinter dem Hügel zeigten sich immer neue und neue Umrisse durchbrochener Türme und stufenartig angeordneter Bauten. Eine riesengroße Stadt trat mit silbrigen Schatten aus dem Sonnennebel hervor. Der Marsianer sagte: »Soazera.«


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