Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Das verlassene Haus

Lossj und Gussjew gingen vom Ufer bis zur nächsten Baumgruppe über braungebrannten, modrigen Staub, sprangen über halbverschüttete, schmale Kanäle und umbogen ausgetrocknete Teiche. Hier und da ragten in den Kanälen aus dem Sande die rostigen Rippen von Barken. Stellenweise glänzten auf der toten, öden Ebene erhabene Metallscheiben. Sie versuchten sie zu heben, aber sie waren angeschraubt. Die reflektierenden Flecken dieser Scheiben zogen sich von den zackigen Bergen über die Hügel zu den Baumgruppen und Ruinen hin.

Zwischen zwei Hügeln lag das nächste Gehölz aus niederen, braunen Bäumen mit flachen Wipfeln. Ihre Äste waren knorrig und kräftig, das Laub erinnerte an feines Moos, die Stämme waren sehnig und voller Beulen. Am Rande des Gehölzes hingen zwischen den Bäumen die Überreste eines stachelbesetzten Netzes.

Sie traten ins Gehölz. Gussjew bückte sich und stieß mit dem Fuß – aus dem Staube rollte ein eingeschlagener Menschenschädel, in seinen Zähnen glänzte Gold. Hier war es schwül. Die moosbewachsenen Zweige gaben in der windlosen Glut nur einen spärlichen Schatten. Nach einigen Schritten stießen sie wieder auf eine erhabene Scheibe – sie war am Fundament eines runden metallischen Schachtes festgeschraubt. Am Ende des Gehölzes erhoben sich Ruinen – dicke Backsteinmauern, wie von einer Explosion zerstört. Berge von Schutt, verbogene Metallbalken.

»Die Häuser sind in die Luft gesprengt, Mstislaw Ssergejewitsch, schauen Sie nur«, sagte Gussjew. »Die haben hier einen Tanz gehabt, wir kennen solche Scherze!«

Auf einem Schutthaufen erschien eine große Spinne und lief den zerrissenen Mauerrand entlang. Gussjew schoß nach ihr, die Spinne sprang hoch auf, drehte sich um und fiel nieder. Gleich darauf lief eine zweite Spinne hinter der Mauer hervor zu den Bäumen, eine leichte braune Staubwolke erhebend; sie stieß gegen das Netz und fing an, darin zu zappeln.

Gussjew und Lossj traten aus dem Gehölz auf einen Hügel und stiegen zu einem andern Gehölz hinunter, wo sie schon aus der Ferne eine Gruppe von Backsteinbauten sahen, die von einem steinernen Gebäude mit flachem Dach überragt wurde. Zwischen dem Hügel und der Siedlung lagen wieder einige Scheiben. Lossj zeigte auf sie und sagte:

»Wahrscheinlich sind es Schachte von unterirdischen elektrischen Leitungen. Aber alles ist verfallen. Das ganze Land ist verlassen.«

Sie kletterten über das Stachelnetz, durchquerten das Wäldchen und traten in einen breiten, mit Steinplatten gepflasterten Hof. In seiner Tiefe stand ein Haus von einer sonderbaren, düsteren Architektur. Seine glatten Mauern verjüngten sich nach oben und waren von einem massiven Gesims aus blutschwarzem Stein gekrönt. In den glatten Wänden befanden sich außerordentlich schmale und tiefe Fensteröffnungen. Zwei quadratische, sich nach oben verjüngende Säulen aus dem gleichen blutschwarzen Stein stützten eine reliefgeschmückte Bedachung des Einganges. Flache, die ganze Breite des Gebäudes einnehmende Stufen führten zu einer niederen, massiven Tür. Ausgetrocknete Ranken von Schlingpflanzen hingen zwischen den dunklen Quadern der Wände. Das Haus erinnerte an ein gigantisches Grabmal.

Gussjew versuchte die bronzebeschlagene Tür mit der Schulter aufzustoßen. Die Tür gab nach. Sie passierten ein dunkles Vestibül und traten in einen vielwinkligen hohen Saal. Er erhielt sein Licht durch die verglasten Öffnungen der gewölbten Kuppel. Der Saal war fast leer. Mehrere umgeworfene Schemel, ein Tisch mit einer an einer Ecke zurückgeworfenen rauhen Decke und einer Schüssel mit verwesten Speiseresten, einige niedere Sofas längs der Wände, Konservenbüchsen und zerschlagene Flaschen auf dem steinernen Fußboden, eine aus Scheiben, Kugeln und einem Metallnetz bestehende Maschine von seltsamer Form dicht an der Tür – dies alles war von einer Staubschicht bedeckt.

Das staubige Licht aus der Kuppel fiel auf die gelblichen, wie aus Marmor aussehenden Wände. Oben waren sie mit einem breiten Mosaikgürtel verziert. Die Mosaik stellte offenbar Ereignisse der ältesten Geschichte dar: einen Kampf zwischen gelben und roten Riesen; Meereswellen mit einer bis zu den Hüften emporgetauchten Menschengestalt; die gleiche Gestalt zwischen Sternen fliegend; Schlachtenbilder, Überfälle von wilden Bestien; Herden langhaariger Tiere, von Hirten getrieben; Darstellungen aus dem alltäglichen Leben, Jagd, Tanz, Geburt und Bestattung. Der düstere Gürtel dieses Mosaik wurde über der Tür von der Darstellung der Erbauung eines gigantischen Zirkus geschlossen.

»Sonderbar, sonderbar«, wiederholte immer wieder Lossj, der auf ein Sofa gestiegen war, um das Mosaik besser sehen zu können. »Alexej Iwanowitsch, sehen Sie die Zeichnung des Kopfes auf den Schildern, verstehen Sie, was das ist?«

Gussjew hatte indessen in der Wand eine kaum sichtbare Tür entdeckt; sie führte zu einer inneren Treppe, die in einen breiten, überwölbten, von einem staubigen Lichte überfluteten Korridor mündete. Längs der Wände und in den Nischen des Korridors standen und lagen steinerne und bronzene Figuren, Torsos, Köpfe, Masken und Vasenscherben. Mit Marmor und Bronze verzierte Türen führten von hier in die inneren Gemächer.

Gussjew sah in diese niederen, schwach beleuchteten Nebenzimmer mit der stickigen Luft hinein. In einem befand sich ein ausgetrocknetes Wasserbecken, und darin lag eine tote Spinne. Im andern Raume sah er einen zertrümmerten Spiegel, der eine ganze Wand einnahm, einen Haufen vermoderter Lumpen auf dem Boden, umgeworfene Möbelstücke und Schränke mit Fetzen von Kleidungsstücken. Im dritten, sehr niederen Zimmer, dessen Wände mit Teppichen drapiert waren, stand auf einer Erhöhung unter einem hohen Lichtschacht ein breites Bett. Von diesem hing das Skelett eines Marsianers herab. Überall waren noch Spuren eines grausamen Kampfes zu sehen. In der Ecke des gleichen Zimmers lag ein zweites Skelett. Gussjew fand hier zwischen Schutt und Lumpen einige Gegenstände aus einem schweren Metall, anscheinend Gold. Diese Gegenstände – Schmucksachen, Schächtelchen, Fläschchen – hatten wohl einer Frau gehört. Er nahm von der vermoderten Kleidung des Skeletts zwei mit einer Kette verbundene große geschliffene Steine ab; sie waren durchsichtig und dunkel wie die Nacht. Die Beute war nicht schlecht.

Lossj besichtigte die Skulpturen im Korridor. Unter den spitznasigen steinernen Köpfen, den Darstellungen kleiner Ungeheuer, den bemalten Masken und zusammengeklebten Vasen, deren Formen und Zeichnungen auffallend an die ältesten etruskischen Amphoren erinnerten, fesselte eine große Statue seine Aufmerksamkeit. Es war eine bis zu den Hüften dargestellte nackte Frau mit zerzausten Haaren und einem wütenden unregelmäßigen Gesicht. Die spitzen Brüste starrten nach beiden Seiten. Der Kopf war von einem Reifen aus goldenen Sternen umfaßt, der über der Stirn eine schmale Parabel bildete, in dieser waren zwei kleine Kugeln eingeschlossen: eine rubinrote und eine ziegelrote, aus Ton. In den Zügen des wollüstigen und herrschsüchtigen Gesichts lag etwas Aufregendes, Bekanntes, gleichsam der Tiefe der Erinnerung Entstiegenes.

Neben der Statue befand sich in der Wand eine kleine vergitterte Nische. Lossj steckte die Finger durch die Gitterstäbe, aber das Gitter wollte nicht nachgeben. Er rieb ein Zündholz an und sah in der dunklen Nische eine auf einem kleinen vermoderten Kissen liegende goldene Maske. Es war die Darstellung eines Menschengesichts mit breiten Backenknochen und ruhig geschlossenen Augen. Der halbmondförmige Mund lächelte. Die Nase war spitz und schnabelförmig. Die Stirn zeigte zwischen den Brauen eine Anschwellung in Form einer flachen Bienenwabe.

Lossj verbrauchte den halben Inhalt seiner Zündholzschachtel, um diese merkwürdige Maske zu betrachten. Kurz bevor er die Erde verlassen, hatte er Abbildungen ähnlicher Masken gesehen, die man vor nicht langer Zeit in den Trümmern der Riesenstädte an den Ufern des Nigers entdeckt hatte, in jenem Teil von Afrika, wo man Spuren der Kultur der vorarischen Rasse vermutete.

Eine der Seitentüren war nur angelehnt. Lossj trat in ein langes, sehr hohes Zimmer mit einer Galerie und einer steinernen Balustrade. Unten und auch oben auf der Galerie standen flache schwarze Schränke und mit kleinen dicken Büchern angefüllte Regale. Die goldgepreßten Bücherrücken zogen sich in gleichmäßigen Reihen längs der grauen Wände. Die Schränke enthielten kleine Metallzylinder, andere – sehr große, in Leder und in Holz gebundene Bücher. Von den Schränken und Regalen herab, aus den dunklen Ecken der Bibliothek blickten mit steinernen Augen runzlige, kahle Köpfe gelehrter Marsianer. Im Zimmer standen einige tiefe Sessel und mehrere Kästchen auf dünnen Beinen und seitwärts angebrachten runden Schirmen.

Lossj betrachtete mit verhaltenem Atem diese nach Moder und Schimmel riechende Schatzkammer, in der die in Bücher eingeschlossene Weisheit der Jahrtausende, die über den Mars hinweggegangen waren, schwieg.

Er ging auf den Fußspitzen auf eines der Regale zu und sah sich die Bücher näher an. Das Papier war grünlich, die Buchstaben von brauner Farbe und geometrischer Form. Eines der Bücher, das Zeichnungen von Hebemaschinen enthielt, steckte sich Lossj ein, um es später in der Muße genauer anzusehen. Die Metallzylinder enthielten gelbliche, unter der Berührung mit einem Fingernagel wie Bein klingende Walzen, die an die Walzen eines Phonographen erinnerten, aber eine vollkommen glatte Oberfläche hatten. Eine solche Walze lag auch in einem der Kästchen mit den seitlich angebrachten Schirmen; offenbar war sie für eine Aufnahme bereitgelegt und beim Untergange des Hauses vergessen worden.

Lossj öffnete darauf einen schwarzen Schrank, nahm aufs Geratewohl einen in Leder gebundenen, wurmzerfressenen, auffallend leichten Band heraus und wischte von ihm mit dem Ärmel vorsichtig den Staub ab. Die gelblichen, alten Blätter bildeten einen einzigen im Zickzack zusammengelegten Streifen. Diese ineinander übergehenden Seiten waren mit farbigen Dreiecken in der Größe eines Fingernagels bedeckt. Die Dreiecke liefen von links nach rechts und umgekehrt in unregelmäßigen Linien, die sich bald senkten und sich bald ineinanderflochten. Ihre Form und Färbung wechselte. Nach einigen Seiten erschienen zwischen den Dreiecken farbige Kreise, die wie Medusen ihre Form und Farbe änderten. Die Dreiecke begannen sich zu Figuren zu fügen. Die Verschlingungen und Veränderungen der Farbe und Form dieser Dreiecke, Kreise, Quadrate und komplizierten Figuren liefen von Seite zu Seite. Allmählich begann in den Ohren Lossjs eine kaum hörbare, feine, unsagbar traurige Musik zu klingen.

Er schlug das Buch zu, bedeckte die Augen mit der Hand und stand lange an den Bücherschrank gelehnt da, erregt und berauscht von einem ihm ganz neuen Zauber: ein singendes Buch!

»Mstislaw Ssergejewitsch,« hallte durch das ganze Haus die Stimme Gussjews, »kommen Sie mal schnell her!«

Lossj trat in den Korridor. In der Tür am andern Ende stand Gussjew, sein Gesicht lächelte erschrocken.

»Schauen Sie mal, was die hier haben.«

Er führte Lossj in ein schmales, halbdunkles Zimmer; in die eine Wand war ein großer, quadratischer, matter Spiegel eingelassen, vor dem mehrere Schemel und Sessel standen.

»Sehen Sie, da hängt eine kleine Kugel an einer Schnur. Ich dachte, sie sei aus Gold, und riß an ihr. Nun sehen Sie, was da geschah.«

Gussjew zog an der Schnur. Im Spiegel wurde es hell, es erschienen gezackte Umrisse riesengroßer Häuser, Fenster, die das Abendrot spiegelten, im Winde schwankende Baumäste; das dumpfe Stimmengewirr einer Volksmenge füllte das dunkle Zimmer. Über den Spiegel glitt von oben nach unten, die Umrisse der Stadt verdeckend, ein geflügelter Schatten. Plötzlich leuchtete ein Flammenschein auf, unter dem Fußboden des Zimmers ertönte ein scharfer Knall, und die Erscheinung im Spiegel erlosch.

»Kurzschluß, die Leitung ist durch«, sagte Gussjew. »Wir müssen aber gehen, Mstislaw Ssergejewitsch, es ist bald Nacht.«


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