Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Lossj bleibt allein.

»Es ist Revolution, Mstislaw Ssergejewitsch! Nun haben wir es erlebt! Die ganze Stadt steht auf dem Kopf! Herrlich!«

Gussjew stand in der Bibliothek. Aus seinen sonst verschlafenen Augen sprühten heiße, lustige Funken. Die Nase ragte steil in die Höhe, der Schnurrbart sträubte sich. Er hielt die Hände in den Gürtelriemen gesteckt – offenbar juckten sie ihm.

»Ich habe schon alles ins Flugboot gepackt: Proviant und Waffen. Habe mir auch eines von ihren Gewehren verschafft. Machen Sie sich schnell fertig, legen Sie das Buch weg, wir wollen fliegen.«

Lossj saß mit eingezogenen Beinen in einer Sofaecke und starrte auf Gussjew mit Augen, die nichts zu sehen schienen. Er wartete schon seit mehr als zwei Stunden auf Aëlita; er trat jeden Augenblick zur Tür und horchte, aber in den Zimmern Aëlitas war alles still. Dann setzte er sich in die Sofaecke und wartete, ob er nicht ihre Schritte; hören würde. Er wußte: ihre leichten Schritte werden in ihm wie ein Donner des Himmels widerhallen. Sie wird eintreten, wie immer, schöner und wunderbarer, als er es erwartete, sie wird unter den Oberlichtfenstern vorbeikommen, ihr schwarzes Kleid wird über den spiegelglatten Fußboden fliegen. Und in ihm wird alles erzittern. Das Weltall seiner Seele wird zusammenzucken und ersterben wie vor einem Gewitter: sie, die Frau, das Leben, ein heißer brennender Stern tritt in den Saal.

»Haben Sie vielleicht Fieber, Mstislaw Ssergejwitsch, was sehen Sie mich so an? Ich sage: alles ist fertig, wir wollen fliegen. Ich will Sie zum Hauptkommissar machen. Die Sache ist einfach.«

Lossj senkte den Kopf: so fest hatte in ihn Gussjew seine Augen gebohrt. Dann fragte er leise:

»Was geht in der Stadt vor?«

»Da kennt sich der Teufel aus! Auf den Straßen ist eine Menge von Menschen, ein Gebrüll. Man schlägt die Fensterscheiben ein.«

»Fliegen Sie hinüber, Alexej Iwanowitsch, aber kommen Sie noch heute nacht zurück. Ich will versuchen, von Aëlita zu erfahren, was in der Stadt vorgeht. Ich verspreche Ihnen, Sie in allem zu unterstützen. Machen Sie Revolution, ernennen Sie mich zum Kommissar, lassen Sie mich, wenn nötig, erschießen. Aber heute, ich flehe Sie an, heute lassen Sie mich in Ruhe. Gut?«

»Gut«, sagte Gussjew. »Ach ja, jede Dummheit kommt von den Weibsbildern; selbst wenn man in den siebenten Himmel fliegt, findet man eines! Pfui! Um Mitternacht komme ich zurück. Ichoschka wird schon aufpassen, daß mich niemand anzeigt.«

Gussjew ging. Lossj nahm wieder das Buch und dachte: Womit wird das enden? Wird das Gewitter der Liebe vorüberziehen? Nein, ich werde ihm nicht entrinnen. Freue ich mich über dieses Gefühl der tödlich gespannten Erwartung, daß vor mir gleich ein unfaßbares Licht erstrahlen wird? Es ist keine Freude, keine Trauer, kein Traum, kein Durst, keine Befriedigung. Was ich empfinde, wenn Aëlita an meiner Seite ist, ist die Aufnahme des Lebens in die eisige Einsamkeit meines Körpers. Ich fühle, es ist das Uralte, seit undenklichen Zeiten als leeres Gespenst Schwebende, das mit den Stimmen des ganzen Weltalls schreit: Leben, leben, leben! Und das Leben tritt in mich ein, über den spiegelglatten Boden unter den strahlenden Fenstern schreitend. Aber auch das ist ein Traum. Mag das, wonach ich lechze – die Vereinigung – geschehen. Das Leben wird dann in ihr, in Aëlita entstehen. Sie wird vom Licht, von der Verwirklichung, vom zitternden Fleisch erfüllt sein. Mir steht aber wieder dasselbe bevor: Schmachten, Einsamkeit, Durst.«

Noch nie hatte Lossj so klar den hoffnungslosen Durst nach Liebe empfunden, noch nie hatte er so klar diesen Betrug der Liebe, die schreckliche Verwechslung seiner selbst mit dem Weibe, diesen Fluch des männlichen Wesens begriffen. Die Arme öffnen, die Arme von einem Stern zum andern ausbreiten, warten, das Weib aufnehmen. Und das Weib wird alles nehmen und wird leben. Du aber, Geliebter oder Vater, bist wie ein leerer Schatten, der seine Arme von Stern zu Stern ausbreitet.

Aëlita hatte recht: er hatte in dieser Zeit zuviel erfahren, viel zu weit hatte sich seine Erkenntnis aufgetan. In seinem Körper rollte noch heißes Blut, er war noch ganz von den unruhigen Keimen des Lebens erfüllt, ein Sohn der Erde. Aber sein Geist war ihm um Jahrtausende voraus: hier auf dieser andern Erde hatte er erfahren, was er noch nicht hätte wissen sollen. Sein Geist hatte sich geöffnet und gähnte, von keinem lebendigen Blute gesättigt, als eine Eiswüste. Was hatte er ihm gezeigt? eine Wüste und hinter ihr neue Geheimnisse.

Zwing einen Vogel, der in zärtlicher Verzückung mit geschlossenen Augen in einem heißen Sonnenstrahle singt, auch nur ein winziges Stückchen der menschlichen Weisheit zu erfassen, und der Vogel wird tot zu Boden fallen. Weisheit, Weisheit, sei verflucht, du bist eine unbewohnte Wüste!

In der Tür der Bibliothek zeigte sich der Kopf Ichas: sie rief ihn zu Tisch. Lossj trat schnell ins Speisezimmer, einen weißen, runden Raum, in dem er in diesen Tagen mit Aëlita zu Mittag zu essen pflegte. Hier war es heiß. Schwül dufteten die Blumen in den hohen Vasen vor den Säulen. Icha wandte ihr verweintes Gesicht weg und sagte:

»Sie werden heute allein essen, Sohn des Himmels!« Und sie legte auf das Gedeck Aëlitas weiße Blumen.

Lossj setzte sich düster an den Tisch. Er rührte das Essen nicht an; er zerbröckelte nur das Brot und trank einige Glas Wein. Aus der Spiegelkuppel über dem Tisch tönte wie immer während der Mahlzeit eine leise Musik. Lossj biß die Zähne aufeinander.

Aus der Tiefe der Kuppel tönten zwei Stimmen, ein Streich- und ein Blasinstrument: sie verschmolzen und verschlangen sich, sie sangen vom Unmöglichen. In den hohen, ersterbenden Noten trennten sie sich, und schon riefen aus dem Nebel tiefe, sehnsuchtsvolle Stimmen, sie riefen einander in bangem Zwiegespräch, sangen dann wieder von der Begegnung, näherten sich und kreisten wie in einem alten, alten Walzer.

Lossj saß mit geblähten Nüstern da, das schlanke Weinglas in der Faust. Icha stand hinter einer Säule, das Gesicht in den Saum des Kleides gedrückt, und ihre Schultern zitterten. Lossj warf die Serviette fort und stand auf. Die quälende Musik, die Schwüle der Blumen, der würzige Wein, alles war umsonst. Er ging auf Icha zu und fragte:

»Kann ich Aëlita sehen?«

Icha schüttelte, ohne ihn anzusehen, den roten Schopf. Lossj nahm sie bei der Schulter.

»Was ist geschehen? Ist sie krank? Ich muß sie sehen.«

Icha glitt unter seinem Ellbogen weg und verschwand. Auf dem Boden neben der Säule lag eine Photographie; offenbar hatte sie Ichoschka fallen lassen. Das tränendurchnäßte Bild stellte Gussjew in voller Kriegsausrüstung dar: auf dem Kopfe der Tuchhelm, quer über die Brust Riemen, die eine Hand ruht auf dem Säbelgriff, in der andern hält er den Revolver, im Hintergrunde platzen Granaten. Die Widmung lautete: ›Der reizenden Ichoschka zum ewigen Angedenken.‹

Lossj warf das Bild zu Boden, trat aus dem Hause und ging über die Wiese zum Gehölz. Er machte große Sprünge und merkte es nicht.

»Wenn du es selbst nicht sehen willst, so ist dir nicht zu helfen. In eine andere Welt zu geraten, diesen großen, beispiellosen Schritt zu wagen, um in einer Sofaecke zu sitzen und zu warten: wann, wann wird endlich die Frau kommen ... Wahnsinn! Besessenheit! Gussjew hat recht, es ist Fieber. Ich habe Süßes gerochen, wie er sagt. Auf ein Lächeln, auf einen zärtlichen Blick wie auf den Jüngsten Tag zu warten ... Zum Teufel! ... Nicht, so nicht. Um so besser.«»

Die Gedanken taten ihm weh. Lossj schrie wie vor Zahnschmerz. Ohne seine Kräfte zu bemessen, sprang er klafterhoch in die Luft und hielt sich, wenn er wieder auf dem Boden stand, kaum auf den Beinen. Seine weißen Haare flatterten im Winde. Er fühlte gegen sich selbst einen grimmigen Haß.

Er erreichte den See. Das Wasser war wie ein Spiegel, auf seiner schwarzblauen Fläche loderte die Sonne. Es war schwül. Lossj umfaßte den Kopf mit beiden Händen und setzte sich auf einen Stein.

Aus der durchsichtigen Tiefe stiegen langsam runde purpurne Fische auf; sie bewegten ihre langen, faserigen Stacheln und sahen Lossj mit gleichgültigen Wasseraugen an.

»Hört ihr, glotzäugige Fische, dumme Fische«, sagte Lossj mit gedämpfter Stimme: »Ich bin ruhig, ich spreche bei klarem Bewußtsein. Mich plagt die Neugier – sie in die Arme zu nehmen, wenn sie im schwarzen Kleide herankommt, sie, Aëlita, das Weib in die Arme zu nehmen ... Zu hören, wie ihr Herz klopft... Sie wird sich gegen ihren Willen, gegen ihre ganze Weisheit selbst mit einer seltsamen Bewegung an mich schmiegen ... Ich werde sehen, wie ihre Augen dunkel und wild werden ... Seht ihr es, Fische: ich halte inne, ich spinne es nicht fort, ich denke nicht weiter, ich will es nicht. Genug. Ihr kennt mich noch nicht, ich bin eigensinnig. Das Fädchen ist zerrissen, Schluß. Morgen geht es in die Stadt. Der Kampf – schön. Der Tod – schön. Nur keine Musik, keine Blumen, keine schlauen Versuchungen. Ich will keine Schwüle mehr. Die Zauberkugel auf ihrer Hand – zum Teufel, zum Teufel, alles ist Betrug, ein Gespenst ...«

Lossj stand auf, ergriff einen großen Stein und warf ihn nach den Fischen. Der Kopf schmerzte ihm. Das Licht tat den Augen weh. In der Ferne hinter dem Haine ragte die in schimmernden Schnee gehüllte Bergspitze. »Ich muß etwas eiskalte Luft atmen.« Lossj sah mit zusammengekniffenen Augen den diamantenfunkelnden Gipfel an und ging durch das blaue Dickicht in die Richtung zum Berg.

Die Bäume hörten auf, vor ihm lag eine leere, hügelige Hochebene – die eisbedeckte Spitze ragte weit hinter ihrem Rande. Er stieß bei jedem Schritt auf Kies und Schlacken, überall lagen verschüttete Öffnungen aufgegebener Schachte. Lossj hatte sich in den Kopf gesetzt, diesen in der Ferne funkelnden Schnee mit den Zähnen zu kosten.

Im Tale abseits erhob sich eine braune Staubwolke. Der heiße Wind brachte das Brausen vieler Stimmen. Vom Gipfel des Hügels erblickte Lossj eine große Menge von Marsianern, die durch das trockene Bett des Kanals zogen. Sie trugen lange Stangen, an deren Enden Messer, Äxte und Gabeln befestigt waren. Sie gingen stolpernd, schwangen ab und zu ihre Waffen und brüllten mit wütenden Stimmen. Ihnen folgten über den braunen Wolken Raubvögel.

Lossj erinnerte sich der Worte Gussjews von den Ereignissen. Er dachte sich:

»Das Glück? Hier ist es: lebe, kämpfe, siege, geh zugrunde – dort wird man schon untersuchen, wofür und wozu. Das Glück? Dein Herz, dein unvernünftiges, rasendes, unglückliches Herz halte aber an der Kette.«

Die Menge verschwand hinter den Hügeln. Lossj schritt schnell vorwärts, von der Bewegung und vom Kampfe erregt. Plötzlich blieb er stehen und warf den Kopf in den Nacken. In der blauen Tiefe schwebte ein geflügeltes Boot. Es sank immer tiefer, beschrieb einen Kreis, glitt über seinem Kopf herab und landete.

Im Boot erhob sich jemand in weißen Pelz gehüllt und schneeweiß. Aus dem Pelze, unter dem Lederhelme blickten ihn die erregten und besorgten Augen Aëlitas an. Sein Herz schlug wie wahnsinnig. Er ging auf das Boot zu. Aëlita schlug den vom Atmen feuchten Pelzkragen zurück. Lossj blickte ihr mit ersterbendem Blick ins Gesicht. Sie sagte:

»Ich komme dich holen. Ich war in der Stadt. Wir müssen fliehen. Ich sterbe vor Sehnsucht nach dir.«

Lossj umklammerte mit den Fingern den Rand des Bootes und holte schwer Atem.


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