Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Morgen Aëlitas.

Aëlita war früh erwacht und lag in die Kissen gelehnt. Ihr breites, an allen Seiten offenes Bett stand nach allgemeinem Brauch in der Mitte des Schlafgemachs auf einer mit Teppichen belegten Erhöhung. Die Wölbung der Decke ging in einen hohen, marmornen Lichtschacht über, aus dem zerstreutes Morgenlicht einfiel. Die mit blasser Mosaik bedeckten Wände des Raumes blieben im Schatten – das Licht fiel nur auf die schneeweißen Laken, Kissen und den in die Hand gestützten aschblonden Kopf.

Sie hatte diese Nacht schlecht geschlafen. Fetzen sonderbarer, unruhiger Traumgesichte waren in Unordnung an ihren geschlossenen Augen vorbeigezogen. Der Schlaf war so dünn wie eine Wasserhaut gewesen. Die ganze Nacht hatte sie sich schlafend gefühlt, ermüdende Bilder zu betrachten geglaubt und bei sich gedacht: was für unnötige Gesichte!

Als der Lichtschacht sich mit den Morgenstrahlen füllte und das Licht auf das Bett fiel, seufzte Aëlita tief auf, wurde ganz wach und lag nun unbeweglich da. Ihre Gedanken waren klar, aber in ihrem Blute gärte noch eine dunkle Unruhe. Das war nicht gut, gar nicht gut.

»Unruhe des Blutes, Verfinsterung der Vernunft, unnötige Rückkehr ins längst Erlebte. Unruhe des Blutes – Rückkehr in Schluchten, zu den Herden und Wachfeuern. Frühlingswind, Herzensunruhe und Zeugung. Gebären, Geschöpfe zum Sterben heranziehen, begraben – und wieder Unruhe und Qualen der Mutterschaft. Unnütze, blinde Verlängerung des Lebens.«

So dachte Aëlita, ihre Gedanken waren weise, aber die Unruhe wollte nicht weichen. Nun sprang sie aus dem Bett, tastete mit den Füßen nach den Morgenschuhen, warf sich ein Kimono um die bloßen Schultern und ging ins Badezimmer. Hier entkleidete sie sich, band das Haar zu einem Knoten und stieg die Marmortreppe hinunter.

Auf der untersten Stufe hielt sie inne – es war so angenehm im warmen Sonnenlichte zu stehen, das durch das schmale Fenster eindrang. Flüssige Reflexe spielten auf der weißen Wand. Aëlita blickte auf das bläuliche Wasser und erkannte darin ihr Spiegelbild, der Lichtstrahl fiel ihr auf den Leib. Sie zuckte wie angeekelt mit der Oberlippe und warf sich in die Kühle des Bades.

Das Bad erfrischte sie. Ihre Gedanken wandten sich wieder den Sorgen des Tages zu. Jeden Morgen sprach sie mit dem Vater – so war es eingeführt. Ein kleiner Projektionsschirm stand in der Ecke ihres Ankleidezimmers.

Aëlita setzte sich vor den Toilettentisch, ordnete die Haare, rieb Gesicht, Hals und Hände erst mit aromatischem Fett und dann mit Blütenessenz ab, betrachtete sich mit krauser Stirn im Spiegel, rückte den Schirm näher heran und schaltete die Zahlentafel ein.

Vor ihr erschien das ihr wohlbekannte väterliche Arbeitszimmer: Bücherschränke, Kartogramme und Zeichnungen auf aufrechtstehenden hölzernen Prismen, der mit Haufen von Papieren bedeckte Tisch. Tuskub trat ins Zimmer, setzte sich an den Tisch, rückte die Manuskripte mit den Ellbogen zur Seite, fand mit den Augen die Augen Aëlitas und lächelte ihr mit den Winkeln der langen, feinen Lippen zu.

»Wie hast du geschlafen, Aëlita?«

»Gut. Alles im Hause ist gut.«

»Was machen die Söhne des Himmels?«

»Sie sind ruhig und zufrieden. Sie schlafen noch.«

»Gibst du ihnen noch Sprachunterricht?«

»Nicht mehr. Der Ingenieur spricht vollkommen frei. Und für seinen Begleiter genügt, was er schon weiß.«

»Haben sie noch nicht den Wunsch, mein Haus zu verlassen?«

»Nein, nein, o nein!«

Aëlita hatte die letzte Frage zu schnell beantwortet. In den trüben Augen Tuskubs zuckte Erstaunen. Aëlita rückte vor seinem Blick zurück, bis ihr Rücken die Stuhllehne berührte. Der Vater sagte:

»Ich verstehe dich nicht.«

»Was verstehst du nicht? Vater, warum sagt du mir nicht alles? Was hast du mit ihnen vor? Ich bitte dich ...«

Aëlita kam nicht weiter – das Gesicht Tuskubs verzerrte sich wie im Feuer der Raserei. Der Spiegel erlosch. Aëlita starrte aber auf seine neblige Fläche und sah noch immer das ihr und allen Lebenden schreckliche Gesicht des Alten.

»Es ist schrecklich,« versetzte sie, »es wird schrecklich sein.« Sie stand hastig auf, ließ aber gleich die Arme sinken und setzte sich wieder hin. Die dunkle Unruhe hatte sich ihrer noch mehr bemächtigt und ihren Blick getrübt. Aëlita stützte die Ellbogen auf den Toilettentisch und drückte die Wange an die Hand. Unruhe rauschte im Blute und überlief ihr kalt den Rücken. Das war so schlecht und unnötig!

Gegen ihren Willen erstand vor ihr wie der Traum der letzten Nacht das Gesicht des Sohnes des Himmels – mit derben Zügen, schneeweißen Haaren, aufgeregt, sich immer wieder verändernd, mit bald traurigen, bald zärtlichen Augen, von irdischer Sonne, vom irdischen Naß gesättigten, wie Nebelabgründe unheimlichen, gewitterhaften, geistzermalmenden Augen.

Aëlita hob den Kopf und schüttelte ihre Locken. Ihr Herz schlug entsetzlich dumpf. Sie neigte sich langsam über die Zahlentafel und steckte die Stöpsel in die Öffnungen.

Im nebligen Spiegel erschien die Gestalt eines im Sessel inmitten vieler Kissen schlummernden Greises. Das Licht aus dem Fenster fiel auf seine runzligen, auf der rauhen Decke ruhenden Hände.

Der Greis fuhr zusammen, rückte die Brille zurecht, blickte über die Gläser hinweg auf den Schirm und lächelte mit seinem zahnlosen Munde.

»Was wirst du mir sagen, mein Kind?«

»Meister, ich bin in Unruhe«, lächelte Aëlita. »Ich verliere den klaren Blick. Ich will es nicht, ich fürchte es, aber ich kann nicht anders.«

»Beunruhigt dich der Sohn des Himmels?«

»Ja. Mich beunruhigt an ihm das, was ich nicht verstehen kann. Meister, ich sprach eben mit dem Vater. Er war wütend. Ich fühle, daß zwischen ihnen ein Kampf vor sich geht. Ich fürchte, daß der Rat einen schrecklichen Beschluß fassen wird. Hilf mir.«

»Du sagtest eben, der Sohn des Himmels beunruhige dich. Wäre es nicht besser, ihn zu beseitigen?«

»Nein!« Aëlita stand auf, ihr Gesicht wurde über und über rot. Der Greis senkte unter ihrem Blicke die Augen und bewegte die Lippen.

»Ich kann deinen Gedankengang schlecht verstehen, Aëlita«, versetzte er etwas trocken. »Deine Gedanken sind zwiegespalten und widerspruchsvoll.«

»Ja, ich fühle es.« Aëlita setzte sich.

»Siehst du, das ist der beste Beweis, daß du unrecht hast. Das höchste Denken ist immer klar, leidenschaftslos und frei von Widersprüchen. Ich will deinen Wunsch erfüllen und mit deinem Vater sprechen. Auch er ist ein leidenschaftlicher Mensch, und das kann ihn zu Handlungen verleiten, die der Weisheit und Gerechtigkeit widersprechen.« »Ich werde hoffen.«

»Beruhige dich, Aëlita, und sei aufmerksam. Blicke in die Tiefe deiner selbst. Woher kommt deine Unruhe? Aus der Tiefe deines Blutes steigt der uralte Bodensatz auf – das rote Dunkel – der Durst nach der Verlängerung des Lebens. Dein Blut ist in Aufruhr ...«

»Meister, es ist etwas anderes womit er mich beunruhigt.«

»Wie erhaben auch das Gefühl sei, das er in dir weckt, – in dir wird die Frau erwachen, und du wirst zugrunde gehen. Nur die Kälte der Weisheit, Aëlita, nur die ruhige Erkenntnis des unvermeidlichen Unterganges alles Lebenden – dieses von Fett und Lüsternheit durchdrungenen Fleisches, nur die Erwartung, daß dein schon vollkommener und der armseligen Lebenserfahrung nicht mehr bedürfender Geist sich hinter die Grenzen des Bewußten zurückzieht – nur das ist Glück. Du aber willst die Rückkehr. Fürchte diese Versuchung, mein Kind. Es ist gar zu leicht zu fallen und den Berg schnell hinunterzurollen, aber der Aufstieg ist langsam und schwer. Sei weise.«

Aëlita hörte mit gesenktem Kopfe zu.

»Meister,« versetzte sie plötzlich, ihre Lippen bebten, ihre Augen drückten tiefste Sehnsucht aus, »der Sohn des Himmels sagte mir, daß sie auf der Erde etwas wüßten, was höher sei als die Vernunft, höher als das Wissen, höher als die Weisheit. Was es aber ist, verstand ich nicht. Daher kommt auch meine Unruhe. Gestern waren wir auf dem See, und als der rote Stern aufging, wies er mit der Hand auf ihn und sagte: »Auf diesem Sterne ist ein großes Opfer gebracht worden. Er ist vom Nebel der Liebe umgeben. Menschen, die die Liebe erfahren haben, sterben nicht!‹ Die Sehnsucht zerriß mir die Brust, Meister.«

Der Greis runzelte die Stirn, rückte an seiner Brille, kaute mit den zahnlosen Kiefern.

»Gut«, sagte er, und seine Finger zitterten auf der Decke. »Soll dir der Sohn des Himmels dieses Wissen geben. Störe mich nicht, bevor du nicht alles erfahren hast. Sei vorsichtig.«

Das Bild erlosch. Im Ankleidezimmer wurde es still. Aëlita nahm ihr Taschentuch vom Schoße und wischte sich damit das Gesicht. Dann musterte sie sich streng und aufmerksam im Spiegel. Sie hob die Brauen, öffnete ein kleines Kästchen, beugte sich darüber und suchte in den Sächelchen, die es enthielt. Sie fand eine in Edelmetall gefaßte eingetrocknete Pfote des Tierchens Indri, die nach alten Überlieferungen den Frauen in schweren Augenblicken wunderbar hilft, und hing sie sich um den Hals.

Aëlita seufzte auf und ging in die Bibliothek. Lossj, der mit einem Buch am Fenster gesessen hatte, erhob sich und kam ihr entgegen. Aëlita sah ihn an: dieser große, gute, liebe Mann. Es wurde ihr weich ums Herz. Sie drückte sich die Hand auf die Brust, auf die Pfote des Wundertierchens und sagte:

»Gestern versprach ich Ihnen vom Untergange der Atlanten zu erzählen. Setzen Sie sich und hören Sie zu.«


 << zurück weiter >>