Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Auf der Treppe

Es vergingen sieben Tage.

Wenn Lossj sich später an diese Zeit erinnerte, erschien sie ihm wie eine dunkelblaue Dämmerung, wie eine wunderbare Ruhe, wie ein seltsam wacher Zustand, von einem endlosen Reigen herrlicher Traumgesichte durchzogen.

Lossj und Gussjew erwachten täglich sehr früh. Nach einem Bade und einem leichten Imbiß gingen sie in die Bibliothek. Die aufmerksamen und freundlichen Augen Aëlitas begrüßten sie schon an der Schwelle. Die Worte, die sie sprach, waren ihnen schon fast verständlich. Die Empfindung einer unbeschreiblichen Ruhe lag in der Stille und im Halbdunkel dieses Zimmers, in den leisen Worten Aëlitas – in ihren Augen war ein ständiges Fließen, sie erweiterten sich zu zwei Sphären, und in ihnen schwebten Traumgesichte. Über den Projektionsschirm glitten Schatten. Die Worte drangen unabhängig vom Willen ins Gedächtnis.

Es geschah ein Wunder: die Worte, anfangs nur die Töne, dann auch die wie durch einen Nebel leuchtenden Begriffe füllten sich allmählich mit dem Safte des Lebens. Wenn Lossj jetzt den Namen ›Aëlita‹ sprach, regte sich in ihm ein doppeltes Gefühl: die Trauer der ersten Silbe ›Aë‹, was ›zum letztenmal sehen‹, und die Empfindung von silbrigem Licht – ›Lita‹, was ›Sternenlicht‹ bedeutete. So drang die Sprache der neuen Welt als feinste Materie in das Bewußtsein, und dieses wurde schwer wie eine reife Frucht.

Sieben Tage währte diese Bereicherung. Der Unterricht fand in den Morgenstunden und vom Sonnenuntergang bis zur Mitternacht statt. Schließlich schien Aëlita ermüdet. Am achten Tage kam niemand, um die Gäste zu wecken, und sie schliefen bis zum Abend durch.

Als Lossj vom Bette aufstand, sah er durch das Fenster lange Schatten der Bäume. Mit kristallheller eintöniger Stimme pfiff irgendein kleiner Vogel. Ihm schwindelte leicht der Kopf. Er fühlte einen Überfluß unverbrauchter Freude. Lossj kleidete sich schnell an und ging, ohne Gussjew zu wecken, in die Bibliothek, aber auf sein Klopfen antwortete niemand. Nun trat er ins Freie, zum erstenmal in diesen sieben Tagen.

Die Wiese senkte sich sanft zum Haine und zu den niederen rötlichen Gebäuden. Dorthin zog mit melancholischem Gebrüll eine Herde plumper langhaariger Tiere, ›Chaschi‹ genannt, die halb an Bären, halb an Kühe erinnerten. Die schrägen Sonnenstrahlen vergoldeten das krause Gras, die ganze Wiese leuchtete wie flüssiges Gold. Ein Zug smaragdgrüner Kraniche flog zum See. In der Ferne ragte, vom Abendrot übergossen, der schneebedeckte Kegel eines Berggipfels. Auch hier war Ruhe, die herrliche Trauer des in Frieden und Gold dahingehenden Tages.

Lossj ging den ihm schon bekannten Weg zum See hinunter. Er sah zu beiden Seiten die gleichen himmelblauen Bäume mit den Trauerzweigen, die gleichen Ruinen zwischen den gefleckten Stämmen, die Luft war ebenso dünn und kühl. Aber Lossj war es zumute, als sähe er diese wundersame Natur zum erstenmal – seine Augen und Ohren waren aufgetan, und er erkannte die Namen der Dinge.

Der See leuchtete in glühenden Farben durch die Äste. Als aber Lossj das Wasser erreichte, war die Sonne schon untergegangen, die leichten Flammenzungen des Abendrotes liefen über den ganzen Himmel und übergossen ihn mit einem so blendenden goldenen Scheine, daß das Herz für einen Augenblick stillstand. Das Feuer verschwand schnell, sehr schnell unter Asche, der Himmel wurde reiner und dunkler, und nun leuchteten die ersten Sterne auf. Die seltsamen Muster der Gestirne spiegelten sich im Wasser. An einer Uferkrümmung des Sees erhoben sich zu beiden Seiten einer Treppe die schwarzen Silhouetten zweier steinerner Giganten – die Wächter der Jahrtausende saßen, die Gesichter den Gestirnen zugewandt.

Lossj näherte sich der Treppe. Seine Augen hatten sich an das schnell hereingebrochene Dunkel noch nicht gewöhnt. Er lehnte sich an den Sockel einer Statue und atmete die feuchte, kühle, vom bitteren Duft der Sumpfblumen geschwängerte Luft. Die Spiegelbilder der Sterne zerflossen – über dem Wasser stieg ein feiner Nebel auf. Die Gestirne brannten aber noch heller, und nun sah man schon deutlich die über dem Wasser schlummernden Baumzweige, die nassen Steine des Ufers und das im Schlafe lächelnde Gesicht des sitzenden Magazitl.

Lossj stand da und blickte hinaus, bis seine auf dem Stein ruhende Hand zu erstarren anfing. Nun trat er von der Statue weg und erblickte sofort unten auf der Treppe Aëlita. Sie saß, die Hände in die Knie und das Kinn in die Hände gestützt.

»Aiu tu ira chas'che Aëlita«, sagte Lossj, erstaunt dem seltsamen Klang seiner eigenen Worte lauschend. Er brachte sie mit Mühe, wie im Frost, hervor. Sein Wunsch: »Darf ich mit Ihnen sein, Aëlita?« hatte sich von selbst in diese fremden Töne gekleidet.

Aëlita wandte langsam den Kopf um, sagte »Ja«, und legte das Kinn wieder auf die verschränkten Hände. Lossj setzte sich auf eine der Stufen neben sie. Die Haare Aëlitas waren von der schwarzen Kapuze ihres Mantels verdeckt. Das Gesicht war im Lichte der Sterne gut zu unterscheiden, aber die Augen blieben unsichtbar – man sah nur zwei große Schatten in ihren Höhlen.

Ruhig, mit kühler Stimme fragte sie:

»Waren Sie glücklich dort, auf der Erde?«

Lossj antwortete nicht sofort – er sah sie erst aufmerksam an: ihr Gesicht war regungslos, der Mund zeigte einen traurigen Ausdruck.

»Ja,« antwortete er und fühlte im gleichen Augenblick sein Herz erkalten, »ja, ich war glücklich.«

»Worin besteht bei euch auf der Erde das Glück?«

Lossj sah sie wieder an und senkte den Kopf.

»Das Glück bei uns auf der Erde besteht wohl im Selbstvergessen. Glücklich ist der, in dem Fülle, Harmonie, Freude und der Wunsch ist, für den zu leben, der ihm diese Fülle, Harmonie und Freude gibt.«

Nun wandte sich Aëlita zu ihm um. Ihre großen Augen blickten erstaunt den weißhaarigen Riesen an.

»Dieses Glück kommt mit der Liebe zu einer Frau«, sagte Lossj. Aëlita wandte sich weg. Die Spitze der Kapuze auf ihrem Kopfe zitterte. Lachte sie? Nein. Weinte sie? Nein. Lossj rückte unruhig auf der moosbewachsenen Stufe hin und her und rieb sich die Stirn. Aëlita fragte mit leise bebender Stimme:

»Warum haben Sie die Erde verlassen?«

»Die, die ich liebte, ist tot«, antwortete Lossj. »Das Leben wurde mir schrecklich. Ich blieb allein mit mir selbst. Ich hatte keine Kraft, um die Verzweiflung niederzuringen, keine Lust, um zu leben. Man braucht viel Mut, um zu leben, denn auf der Erde ist alles mit Haß vergiftet. Ich bin ein Flüchtling, ein Feigling.«

Aëlita befreite ihre Hand unter dem Mantel und berührte die große Hand Lossjs, dann zog sie die ihrige wieder zurück und sagte wie nachdenklich:

»Ich wußte, daß in meinem Leben dieses kommen würde. Schon als Kind hatte ich sonderbare Träume. Ich sah hohe, grüne Berge. Helle, fremdartige Ströme, Wolken, große weiße Wolken und Regenfälle, ganze Sturzbäche von Wasser. Und riesengroße Menschen. Ich glaubte, ich würde verrückt. Mein Lehrer erklärte mir später, es sei ›Aschche‹ – das zweite Gesicht gewesen. In uns, den Nachkommen der Magazitlen, lebe die Erinnerung an ein anderes Leben, schlummere das ›Aschche‹ wie ein nicht aufgegangenes Samenkorn. Aschche ist eine schreckliche Kraft, eine hohe Weisheit. Aber eines weiß ich nicht: was ist Glück?«

Aëlita befreite beide Hände unter dem Mantel und schlug sie zusammen wie ein Kind. Die Kapuze zitterte wieder.

»Seit vielen Jahren schon komme ich nachts auf diese Treppe und blicke auf die Sterne. Ich weiß viel. Ich versichere Ihnen, ich weiß auch solches, was Sie nicht wissen dürfen und auch nicht zu wissen brauchen. Glücklich war ich aber nur dann, als ich in meiner Kindheit von den Wolken, Regengüssen, grünen Bergen und Riesen träumte. Mein Lehrer warnte mich und sagte, ich würde so zugrunde gehen.« Sie wandte ihr Gesicht Lossj zu und lächelte plötzlich. Lossj wurde es unheimlich: so herrlich schön war Aëlita, ein so gefährlicher bitterer und zugleich süßer Duft entstieg dem Wasser, entströmte ihrem Mantel mit der Kapuze, ihren Händen, ihrem Gesicht, ihrem Atem und ihrem Kleid.

»Der Lehrer sagte mir: ›Du wirst am Urgchao zugrunde gehen.‹ Dieses Wort bedeutet Abstieg.«

Aëlita wandte sich weg und rückte die Kapuze tiefer in die Augen. Lossj sagte nach einer Pause:

»Aëlita, erzählen Sie mir doch von Ihrem Wissen.«

»Es ist ein Geheimnis,« antwortete sie wichtig, »aber Sie sind ein Mensch, und ich werde Ihnen vieles erzählen.«

Sie hob das Gesicht. Die großen Gestirne zu beiden Seiten der Milchstraße leuchteten und flackerten so, als ob ein Windhauch der Ewigkeit über sie zöge. Aëlita holte tief Atem.

»Hören Sie zu,« sagte sie, »lauschen Sie mir ruhig und aufmerksam.«


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