Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Mars

Als Gussjew und Lossj dem Apparat entstiegen, erblickten sie einen abgrundtiefen, blendenden Himmel, so blau wie das Meer bei Gewitter.

Die brennende, zottige Sonne stand hoch über dem Mars. Eine ähnliche Sonne hatten sie schon in Petersburg an heiteren Märztagen gesehen, wenn der ganze Himmel vom Frühlingswinde reingewaschen ist.

»Eine lustige Sonne haben sie hier«, sagte Gussjew und nieste – so grell war das Licht in der dunkelblauen Höhe. Die beiden spürten ein Stechen in der Brust, das Blut hämmerte in den Schläfen, aber sie atmeten leicht – die Luft war dünn und kühl.

Der Apparat lag auf einer orangefarbenen flachen Ebene. Der Horizont ringsum schien so nahe, daß man ihn mit der Hand erreichen zu können glaubte. Der Boden war trocken und voller Sprünge. Auf der Ebene standen überall hohe, an Siebenleuchter erinnernde Kaktusse, scharfe, lila Schatten werfend. Es ging ein leiser trockener Wind.

Lossj und Gussjew sahen sich lange um und gingen dann über die Ebene. Das Gehen fiel ihnen ungewöhnlich leicht, obwohl die Füße tief im lockeren Boden versanken. Lossj streckte seine Hand nach einem fetten, hohen Kaktus aus. Die Pflanze begann bei seiner Berührung wie vor einem Windstoß zu zittern, und ihre dunkelbraunen, fleischigen Sprossen streckten sich der Hand entgegen. Gussjew stieß mit dem Fuß in die Wurzel – so eine verdammte Pflanze! – der Kaktus fiel um und seine Stacheln bohrten sich in den Sand.

Sie gingen etwa eine halbe Stunde. Vor ihren Augen dehnte sich die gleiche orangefarbene Ebene – Kaktusse, lila Schatten, Sprünge im Boden. Als sie sich nach Süden wandten und die Sonne von der Seite schien, blickte Lossj aufmerksam zu Boden, als suchte er etwas, hockte sich hin und schlug sich aufs Knie.

»Alexej Iwanowitsch, der Boden ist ja gepflügt!«

»Was sagen Sie?«

Man sah jetzt deutlich breite, halb abgebröckelte Ackerfurchen und regelmäßige Reihen von Kaktussen. Nach einigen Schritten stolperte Gussjew über eine Steinplatte, in die ein großer, bronzener Ring mit einem Tauende eingelassen war. Lossj fuhr sich schnell über das Kinn, seine Augen leuchteten.

»Alexej Iwanowitsch, verstehen Sie etwas?«

»Ich sehe, daß wir auf einem Felde sind.«

»Und wozu ist der Ring?«

»Das mag der Teufel wissen, wozu sie den Ring eingeschraubt haben.«

»Um eine Boje anzubinden. Sehen Sie doch: da sind Muscheln. Wir sind auf dem Grunde eines Kanals.«

Gussjew drückte sich den Finger an ein Nasenloch und schneuzte sich auf die primitive Weise. Nun bogen sie nach Westen ab und gingen längs der Ackerfurchen. Nicht weit vor ihnen erhob sich über dem Felde ein großer Vogel mit einem wie bei einer Wespe hängenden Körper; er flog, die Flügel krampfhaft schwingend. Gussjew blieb stehen und legte die Hand auf seine Pistole. Aber der Vogel blitzte durch das dunkle Blau und verschwand hinter dem nahen Horizonte.

Die Kaktusse wurden immer größer, dichter, üppiger. Man mußte sich vorsichtig den Weg durch das lebendige, stachlige Dickicht bahnen. Unter den Füßen huschten Tiere, die an Eidechsen erinnerten – grell orangefarben, mit gezackten Kämmen. Hier und da flogen im Dickicht irgendwelche borstige Knäuel herum. Hier gingen sie vorsichtig Schritt für Schritt.

Die Kaktusse hörten an einer kreideweißen abschüssigen Böschung auf. Sie war mit offenbar sehr alten behauenen Steinplatten ausgelegt. Aus den Spalten und Sprüngen hingen ausgetrocknete Moosfasern. In einer der Platten war wieder ein Ring angebracht, wie sie schon einen im Felde gesehen hatten. Die Eidechsen mit den gezackten Kämmen wärmten sich in der Sonne.

Lossj und Gussjew stiegen den Abhang hinauf. Von hier aus sahen sie eine hügelige Ebene von der gleichen orangefarbenen, aber etwas matteren Farbe. Hier und da standen Gruppen niederer, an Bergtannen erinnernder Bäume. Stellenweise schimmerten Haufen weißer Steine, Umrisse von Ruinen bezeichnend. In der Ferne, im Nordwesten, ragte eine lila Bergkette; die spitzen und geschwungenen Gipfel sahen wie erstarrte Flammenzungen aus. Auf ihnen leuchtete Schnee.

»Man sollte umkehren, etwas essen, ausruhen«, sagte Gussjew. »Sonst werden wir zu müde – hier finden wir wohl keine lebende Seele.«

Sie standen noch einige Zeit da. Die Ebene war so leer und traurig, daß sich das Herz zusammenkrampfte. »Ja, in eine nette Gegend sind wir gekommen«, versetzte Gussjew. Sie stiegen den Abhang hinunter und irrten lange zwischen den Kaktussen auf der Suche nach dem Apparat.

Gussjew rief plötzlich:

»Da ist er!«

Er zog mit einer gewohnten Gebärde die Pistole aus dem Futteral.

»He!« schrie er. »Wer ist dort am Apparat? Ich werde schießen!«

»Wen schreien Sie an, Alexej Iwanowitsch?«

»Sehen Sie den Apparat funkeln?«

»Ja, jetzt sehe ich ihn.«

»Und rechts von ihm sitzt er.«

Lossj sah es endlich auch, und sie liefen stolpernd auf den Apparat zu. Das Geschöpf, das neben dem Apparate saß, rückte zur Seite, hüpfte zwischen den Kaktussen umher, sprang in die Höhe, breitete ein paar lange Flügel aus, stieg knatternd in die Höhe, beschrieb einen Halbkreis und flog über den Menschen hinauf. Es war das gleiche Geschöpf, das sie vorhin für einen Vogel gehalten hatten. Gussjew zielte mit der Pistole nach dem geflügelten Tier. Lossj schlug ihm aber plötzlich die Waffe aus der Hand und schrie:

»Sie sind wohl verrückt. Es ist ein Mensch!«

Gussjew starrte mit zurückgeworfenem Kopf und offenem Mund auf das merkwürdige Wesen, das im dunkelblauen Himmel seine Kreise beschrieb. Lossj zog sein Tuch aus der Tasche und begann damit zu winken.

»Mstislaw Ssergejewitsch, Vorsicht, daß er auf uns nur nichts runterschmeißt!«

»Stecken Sie Ihre Pistole ein, sage ich Ihnen.«

Der große Vogel ging nieder. Nun sah man ganz deutlich ein menschenähnliches Wesen, das im Sattel eines Flugapparates saß. Auf der Höhe seiner Schultern bewegten sich zwei geschwungene Flügel. Vor ihnen drehte sich eine Schattenscheibe – offenbar eine Luftschraube. Hinter dem Sattel war ein Schwanz mit gabelförmig angeordneten Steuern angebracht. Der ganze Apparat war biegsam und beweglich wie ein lebendes Wesen.

Er schoß abwärts und flog, den einen Flügel nach oben, den andern nach unten gerichtet, dicht über dem Boden weiter. Nun sah man auch den Kopf des Marsianers in einer eiförmigen Mütze mit langem Schirm. Vor den Augen hatte er eine Brille. Das Gesicht war ziegelrot, schmal, runzlig, mit spitzer Nase. Er riß seinen großen Mund auf und schrie etwas. Dann schwang er die Flügel schneller, berührte den Boden und sprang etwa dreißig Schritt vor den Menschen aus dem Sattel.

Der Marsianer sah wie ein Mensch mittlerer Größe aus und war mit einer weiten, dunklen Joppe bekleidet. Seine trockenen Beine waren in über die Knie reichende geflochtene Gamaschen gehüllt. Er zeigte erregt auf die umgeworfenen Kaktusse. Als aber Lossj und Gussjew auf ihn zugingen, sprang er schnell in den Sattel, drohte von dort mit seinem langen Finger, flog fast ohne Anlauf in die Höhe, setzte sich dann aber gleich wieder auf den Boden und schrie mit hoher, quietschender Stimme, immer auf die gebrochenen Pflanzen zeigend.

»Der Kauz ist wohl böse«, sagte Gussjew und rief dem Marsianer zu: »Spuck' doch auf deine verdammten Kaktusse, hör' zu schreien auf, der Teufel hol' deine Seele!«

»Alexej Iwanowitsch, schimpfen Sie nicht, er versteht kein Russisch. Setzen Sie sich, sonst kommt er nicht näher.«

Lossj und Gussjew setzten sich auf den heißen Boden. Lossj zeigte durch Gebärden, daß er Hunger und Durst habe. Gussjew steckte sich eine Zigarette an und spuckte aus. Der Marsianer sah sie einige Zeit an; er schrie nicht mehr, drohte aber noch einmal mit seinem wie ein Bleistift langen Finger. Dann band er vom Sattel einen Sack los, warf ihn den Menschen zu, stieg in Kreisen in eine große Höhe und verschwand schnell im Norden hinter dem Horizont.

Im Sacke befanden sich zwei Büchsen aus Metall und eine umflochtene Flasche mit irgendeiner Flüssigkeit. Gussjew öffnete die Büchsen mit seinem Messer: die eine enthielt ein stark aromatisches Gelee, die andere gallertartige Stückchen, die an »türkischen Honig« erinnerten. Gussjew roch daran und sagte:

»Was dieses Gesindel nicht alles frißt!«

Er holte aus dem Apparat den Korb mit Proviant, sammelte trockene Kaktussprossen und zündete sie an. Ein gelber, dünner Rauch stieg auf, die Kaktusse glimmten nur, aber die Hitze war genügend. Sie wärmten eine Büchse mit Pökelfleisch auf, legten die Stücke auf ein sauberes Tuch heraus und aßen mit Appetit. Plötzlich fühlten sie einen ungewöhnlichen Hunger.

Die Sonne stand hoch über dem Kopf, der Wind hatte sich gelegt, es war heiß. Über die orangefarbenen Erdbuckel huschte eine Eidechse. Gussjew warf ihr ein Stückchen Zwieback hin. Sie richtete sich auf den Vorderpfoten auf, hob das dreieckige gehörnte Köpfchen und erstarrte zu Stein.

Lossj bat Gussjew um eine Zigarette, legte sich hin, stützte die Wange in die Hand, rauchte und lächelte.

»Alexej Iwanowitsch, wissen Sie, wie lange wir nichts gegessen haben?«

»Seit gestern abend, Mstislaw Ssergejewitsch. Vor dem Abflug hab' ich mich mit Kartoffeln sattgegessen.«

»Wir haben dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Tage nichts gegessen, lieber Freund.«

»Wie lange?«

»Gestern war in Petersburg der 18. August,« sagte Lossj, »heute ist aber in Petersburg der 11. September. Ist es nicht ein Wunder?«

»Sie können mir den Kopf abreißen, Mstislaw Ssergejewitsch, wenn ich etwas verstehe.«

»Ja, das verstehe auch ich selbst nicht recht. Wir sind um sieben Uhr abends aufgestiegen. Jetzt ist, wie Sie sehen, zwei Uhr nachmittags. Also haben wir vor neunzehn Stunden die Erde verlassen – nach dieser Uhr. Aber nach der Uhr, die ich in der Werkstätte zurückgelassen habe, ist fast ein Monat vergangen. Sie haben es sicher gemerkt: wenn Sie in der Eisenbahn schlafen und der Zug plötzlich stehenbleibt, so erwachen Sie entweder vor einem unangenehmen Gefühl, oder Sie haben dasselbe Gefühl im Schlafe. Es kommt daher, weil, wenn der Zug stehenbleibt, das Tempo Ihres ganzen Körpers plötzlich verlangsamt wird. Sie liegen in einem fahrenden Eisenbahnwagen und Ihr Herzschlag wie auch der Gang Ihrer Uhr sind schneller als wenn Sie in einem stehenden Eisenbahnwagen liegen. Der Unterschied ist unmerklich, weil die Geschwindigkeiten nicht groß sind. Eine andere Sache ist unser Flug. Die Hälfte des Weges haben wir fast mit Lichtgeschwindigkeit zurückgelegt. Da ist der Unterschied schon zu spüren. Der Herzschlag, der Gang der Uhr, die Vibration der Moleküle in den Körperzellen blieben in bezug aufeinander unverändert, solange wir durch den luftleeren Raum flogen: wir bildeten ein Ganzes mit dem Apparat, und alles bewegte sich im gleichen Rhythmus wie er. Wenn aber die Geschwindigkeit des Apparats die normale Schnelligkeit eines sich auf der Erde fortbewegenden Körpers fünfhunderttausendmal übertraf, so hatte sich auch das Tempo meines Herzschlages von einem Schlag in der Sekunde – nach der Uhr, die wir im Apparat hatten, gemessen – auf fünfhunderttausend Schläge in der Sekunde – nach der Uhr, die in Petersburg zurückgeblieben ist – erhöht. Nach meinem Herzschlag, nach der Bewegung des Zeigers auf dem Chronometer in meiner Tasche, nach der ganzen Empfindung meines Körpers waren wir neun Stunden vierzig Minuten unterwegs, und es sind auch wirklich neun Stunden vierzig Minuten gewesen. Aber nach dem Herzschlag eines Bewohners von Petersburg, nach der Uhr der Peter-Pauls-Kathedrale sind vom Tage unseres Aufstieges über drei Wochen vergangen. In der Zukunft wird man einen großen Apparat bauen können, ihn mit Vorräten an Lebensmitteln, Sauerstoff und Ultralyddit für ein halbes Jahr ausrüsten und irgendwelchen Sonderlingen diesen Vorschlag machen: ›Es paßt euch nicht, in unserer chaotischen Zeit der Kriege, Revolutionen und Aufstände zu leben? Wollt ihr nach hundert Jahren leben? Ihr braucht dazu nur ein halbes Jahr geduldig in diesem Kasten auszuharren, aber was für ein Leben werdet ihr dann haben! So könnt ihr ein Jahrhundert überspringen.‹ Man läßt die Sonderlinge einfach für ein halbes Jahr in die Sternenräume fliegen. Sie werden sich etwas langweilen, lange Bärte bekommen, wenn sie aber zurückkehren, ist auf der Erde das goldene Zeitalter angebrochen. In den Schulen lernt man: ›Vor hundert Jahren war ganz Europa von Kriegen und Revolutionen erschüttert. Die Hauptstädte der Welt sind in Anarchie untergegangen. Niemand glaubte an etwas. Die Erde hatte solchen Jammer noch nie gesehen. Da sammelte sich aber in jedem Lande ein Kern tapferer, harter Menschen; sie nannten sich die ›Gerechten‹. Sie rissen die Macht an sich und fingen an, die Welt auf neuen Gesetzen aufzubauen, der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und der Berechtigung des Wunsches, glücklich zu sein‹ – das Glück ist ganz besonders wichtig, Alexej Iwanowitsch. Und es wird doch einmal so kommen.«

Gussjew ächzte, staunte und schnalzte mit der Zunge.

»Mstislaw Ssergejewitsch, was halten Sie aber von diesem Getränk? Werden wir uns nicht vergiften?« Er zog mit den Zähnen aus der marsianischen umflochtenen Flasche den Stöpsel heraus, probierte die Flüssigkeit mit der Zunge und spuckte aus. »Trinken kann man es.« Er nahm einen Schluck und räusperte sich. »Schmeckt wie Madeira. Versuchen Sie es.«

Lossj versuchte: die Flüssigkeit war dick, süßlich und roch stark nach Muskatnuß. So tranken sie, immer von neuem probierend, die halbe Flasche aus. Durch ihre Adern verbreitete sich Wärme und eine eigentümliche leichte Kraft. Der Kopf blieb aber dabei klar.

Lossj stand auf und reckte sich: so wohl, leicht und seltsam fühlte er sich unter diesem andern Himmel – unwahrscheinlich, wunderbar. Als hätte ihn die Flut des Sternenozeans an den Strand geworfen, zu einem unbekannten, neuen Leben geboren.

Gussjew tat den Proviantkorb wieder in den Apparat, schraubte die Luke fest zu, schob die Mütze in den Nacken und sagte:

»Es ist schön, Mstislaw Ssergejewitsch, ich bedauere nicht, daß ich mitgefahren bin.«

Sie beschlossen, wieder zum Ufer zu gehen und bis zum Abend in der hügeligen Ebene herumzustreifen. Sie gingen, sich vergnügt unterhaltend, zwischen den Kaktussen und sprangen ab und zu erstaunlich leicht über sie hinüber. Bald sahen sie die weißen Steine der Uferböschung im Dickicht schimmern.

Lossj blieb plötzlich stehen. Es überlief ihm vor Ekel kalt den Rücken. Drei Schritt vor ihm blickten ihn vom Boden, zwischen den fetten Blättern zwei mit rötlichen Lidern bedeckte Augen an, so groß wie die eines Pferdes. Sie blickten unverwandt, mit grimmiger Bosheit.

»Was haben Sie?« fragte Gussjew und erblickte gleichfalls die Augen. Ohne sich viel zu überlegen, gab er einen Schuß ab, Staub wirbelte auf, die Augen verschwanden.

»Da ist sie!« Gussjew wandte sich um und schoß noch einmal ganz tief über der Erde auf das schnell enteilende Tier: acht eckig erhobene Beine, ein graubrauner, fetter, mit spärlichen Haaren bedeckter Körper. Es war eine Riesenspinne, wie sie auf der Erde nur auf dem Meeresgrund vorkommen. Sie verschwand im Dickicht.


 << zurück weiter >>