Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Die Nebelkugel

Gussjew sagte beim Morgenimbiß:

»Mstislaw Ssergejewitsch, das ist nichts. Wir sind der Teufel weiß wie weit geflogen, und nun müssen wir in einem gottverlassenen Loch sitzen. In die Stadt ließen sie uns nicht ein – Sie haben doch gesehen, was für ein böses Gesicht der schwarze, bärtige Kerl machte. Ach, Mstislaw Ssergejewitsch, nehmen Sie sich vor ihm in acht. Wir sind ja in seinem Hause – in meinem Schlafzimmer hängt sein Bild. Vorläufig gibt man uns noch zu essen und zu trinken, aber wie wird es enden? Um zu essen, zu trinken und zu baden lohnte es sich doch wirklich nicht, so weit zu fliegen.«

»Gedulden Sie sich noch, Alexej Iwanowitsch,« sagte Lossj, auf die himmelblauen Blumen blickend, die zugleich bitter und süß dufteten, »wir wollen hier eine Zeitlang bleiben, sie werden sehen, daß wir ungefährlich sind, und uns in die Stadt lassen.«

»Ich weiß nicht, was Sie sich denken, Mstislaw Ssergejewitsch, was aber mich betrifft, so bin ich nicht hergekommen, um zu faulenzen.«

»Was sollen wir nun Ihrer Ansicht nach unternehmen?«

»Es wundert mich, so etwas von Ihnen zu hören, Mstislaw Ssergejewitsch. Haben Sie hier vielleicht etwas Süßes gerochen?«

»Wollen Sie sich verzanken?«

»Nein, verzanken will ich mich nicht. Aber sitzen und an Blumen riechen, das können wir auch auf der Erde nach Herzenslust. Ich denke mir aber so: wenn wir als die ersten hergekommen sind, so gehört der Mars uns Russen. Das sollte man irgendwie schwarz auf weiß haben.«

»Sie sind ein sonderbarer Mensch, Alexej Iwanowitsch.«

»Wir werden sehen, wer von uns sonderbar ist.« Gussjew zupfte seinen Gürtelriemen zurecht, zuckte die Achseln und blinzelte verschmitzt mit den Augen. »Es ist wohl eine schwierige Sache, das sehe ich selbst ein: wir sind ja unser nur zwei. Man müßte von ihnen eine schriftliche Erklärung bekommen, daß sie der Russischen Föderativen Republik beitreten wollen. So ohne weiteres werden sie uns diese Erklärung nicht geben wollen, aber Sie haben doch selbst gesehen: bei ihnen auf dem Mars ist nicht alles in Ordnung. Dafür habe ich einen scharfen Blick.«

»Wollen Sie hier vielleicht Revolution machen?«

»Das weiß ich noch nicht, Mstislaw Ssergejewitsch, das werden wir sehen.«

»Ich möchte Sie doch bitten, Alexej Iwanowitsch, sich ohne Revolution zu behelfen.«

»Was brauche ich eine Revolution? Ich will nur das Papier, Mstislaw Ssergejewitsch. Was wollen wir denn sonst nach Petersburg mitbringen? Vielleicht eine getrocknete Spinne? Nein, wir bringen ein Dokument mit, daß wir den Mars annektiert haben. Das ist doch etwas anderes, als irgendein Gouvernement den Polen wegzunehmen – es handelt sich ja um einen ganzen Planeten. Europa wird sich giften. Sie haben doch selbst gesehen, wie viel Gold allein es hier gibt, ganze Schiffsladungen. Ja, so ist es, Mstislaw Ssergejewitsch.«

Lossj sah ihn an und konnte nicht verstehen, ob Gussjew Spaß machte oder es ernst meinte – seine einfältigen, schlauen Äuglein lächelten, aber aus ihnen leuchtete auch etwas wie Wahnsinn. Lossj schüttelte den Kopf, befühlte mit den Fingern die durchsichtigen, wie wächsernen Blätter der großen Blumen und sagte nachdenklich:

»Es kam mir nie in den Sinn, wozu ich auf den Mars fliege. Ich fliege einfach, um ihn zu erreichen. Es gab Zeiten, wo Phantasten, Eroberernaturen, Schiffe ausrüsteten und auszogen, um neue Länder zu suchen. Aus dem Meere erhob sich ein unbekannter Strand, das Schiff legte in einer Flußmündung an, der Kapitän nahm sich den breitkrempigen Hut vom Kopfe und gab dem neuen Lande seinen Namen: ein herrlicher Augenblick! Darauf plünderte er die Ufer. Ja, Sie haben vielleicht recht, es genügt noch nicht, an einem Ufer zu landen, man muß sein Schiff auch noch mit Schätzen beladen. Es steht uns bevor, in eine unbekannte Welt zu blicken. Was für Schätze! Weisheit, Weisheit, das ist es, was wir von hier ausführen müssen, Alexej Iwanowitsch. Sie haben aber anderes im Sinn, Sie jucken die Hände – das ist nicht schön.«

»Wir werden uns schwer einigen können, Mstislaw Ssergejewitsch. Sie sind nicht leicht zu behandeln.«

Lossj lachte.

»Nein, schwer bin ich nur für mich selbst – wir werden uns schon einigen, lieber Freund.«

An der Tür wurde gekratzt. Der Verwalter erschien, vor Angst und Respekt knicksend und tänzelnd, und forderte sie durch Zeichen auf, ihm zu folgen. Lossj stand schnell auf und fuhr sich mit der Hand über die weißen Haare. Gussjew drehte energisch seinen Schnurrbart hinauf. Die Gäste kamen durch Korridore und Treppen in einen entlegenen Teil des Hauses.


Der Verwalter klopfte an eine niedere Tür. Hinter ihr erklang eine hastige, kindliche Stimme. Lossj und Gussjew traten in ein längliches weißes Zimmer. Lichtstrahlen, in denen Stäubchen tanzten, fielen durch die in der Decke angebrachten Fenster auf den Mosaikfußboden, in dem sich gleichmäßige Reihen von Büchern, zwischen flachen Schränken stehende Bronzestatuen, Tischchen auf dünnen, spitzen Beinen und Projektionsschirme spiegelten.

Nicht weit von der Tür stand, an ein Bücherregal gelehnt, ein junges weibliches Wesen mit aschgrauen Haaren, in einem schwarzen Kleide, das vom Halse bis zu den Füßen und Handgelenken geschlossen war. Über ihrem hocherhobenen Kopfe tanzten Stäubchen in einem Lichtstrahle, der wie ein Schwert auf die vergoldeten Bücherrücken fiel. Es war diejenige, die der Marsianer gestern am See Aëlita genannt hatte.

Lossj machte vor ihr eine tiefe Verbeugung. Aëlita sah ihn regungslos mit den großen Pupillen ihrer aschgrauen Augen an. Ihr bläulich weißes längliches Gesicht zitterte kaum merklich. Die leicht aufgeworfene Nase und der etwas unregelmäßige Mund waren weich und zart wie bei einem Kinde. Ihre Brust atmete unter den schwarzen, weichen Falten, als erstiege sie einen Berg.

»Ellio utara geo«, sagte sie mit leiser, wie Musik zarter Stimme, fast flüsternd, und neigte den Kopf so tief, daß man ihren Nacken sehen konnte.

Lossj ließ als Antwort nur seine Finger in den Gelenken knacken. Dann brachte er mit Selbstüberwindung einen dummen, wie einem phantastischen Roman entnommenen Satz hervor:

»Gäste von der Erde begrüßen dich, Aëlita.«

Er sagte es und errötete. Gussjew dagegen versetzte mit Würde:

»Gestatten Sie, daß wir uns vorstellen: Oberst Gussjew und Ingenieur Mstislaw Ssergejewitsch Lossj. Wir kommen, um Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu danken.«

Als Aëlita die Menschenworte hörte, hob sie den Kopf, ihr Gesicht wurde ruhiger, ihre Pupillen kleiner. Sie streckte schweigend eine Hand vor, wandte sie mit der Innenfläche nach oben und behielt sie einige Zeit in dieser Stellung. Lossj und Gussjew kam es vor, als wäre auf ihrer Handfläche eine kleine, blasse, grünlichweiße Kugel erschienen. Aëlita drehte die Hand schnell um und ging längs der Bücherregale in die Tiefe der Bibliothek. Die Gäste folgten ihr.

Lossj merkte jetzt, daß Aëlitas Kopf ihm nur bis an die Schulter reichte und daß sie schlank und zierlich war wie ein kleines Mädchen. Der untere Saum ihres weiten Kleides flog über den Mosaikfußboden. So oft sie sich zu ihnen umwandte, lächelte sie, aber ihre Augen blieben erregt und kühl.

Sie wies auf eine ledergepolsterte Bank, die auf einem halbrunden Podium stand. Lossj und Gussjew nahmen Platz. Aëlita setzte sich sofort an ein Lesetischchen ihnen gegenüber, legte beide Ellbogen auf die Tischplatte und fing an, die Gäste sanft und aufmerksam zu betrachten.

So schwiegen sie alle eine kurze Zeit. Lossj begann allmählich eine süße Ruhe zu empfinden – wenn er doch immer so sitzen und dieses wunderbare, seltsame Mädchen anschauen könnte! Gussjew seufzte und sagte leise:

»Ein nettes Fräulein, ein angenehmes Fräulein.«

Nun begann Aëlita zu sprechen – ihre Stimme klang so wunderbar, als berührte sie mit leichten Fingern ein Musikinstrument. Sie wiederholte immer wieder irgendwelche Worte. Sie fuhr zusammen, hob die Oberlippe und senkte ab und zu ihre aschgrauen Wimpern. Das Gesicht leuchtete vor Freude.

Sie streckte wieder die Hand mit der Innenfläche nach oben aus. Lossj und Gussjew erblickten fast sofort in der Vertiefung der Handfläche eine kleine, grünlichweiße Nebelkugel von der Größe eines Apfels. Im Innern dieser Sphäre war Fluß und Bewegung.

Beide Gäste und Aëlita betrachteten aufmerksam den wolkigen, opalisierenden Apfel. Die Bewegung in ihm hörte plötzlich auf, und auf seiner Oberfläche traten dunkle Flecke hervor. Als Lossj genauer hinsah, mußte er aufschreien: auf Aëlitas Handfläche ruhte die Erdkugel.

»Talzetl«, sagte sie, auf sie mit dem Finger zeigend. Die Kugel fing an sich langsam zu drehen. Die Umrisse Amerikas, der westliche Rand Asiens schwebten vorbei. Gussjew wurde unruhig.

»Hier sind wir, Russen, das gehört uns«, sagte er, mit dem Nagel auf Sibirien tippend. Der Ural zog als ein windungsreicher Schatten vorbei, ihm folgte das Fädchen des unteren Laufes der Wolga. Die Ufer des Weißen Meeres traten hervor.

»Hier«, sagte Lossj, auf den Finnischen Meerbusen zeigend. Aëlita sah ihn erstaunt an. Die Kugel hielt in ihrer Bewegung inne. Lossj konzentrierte sich, in seiner Erinnerung erstand ein Stück einer geographischen Karte – und auf der Oberfläche der Nebelkugel erschien sofort, wie ein Abdruck seiner Gedanken, ein schwarzer Punkt, die von ihm ausgehenden Fäden der Eisenbahnen, die Inschrift ›Petersburg‹ auf grünem Grunde und seitwärts davon der große rote Anfangsbuchstabe des Wortes ›Rußland‹.

Aëlita sah genauer hin und verdeckte die Kugel mit der Hand – nun leuchtete sie durch ihre Finger hindurch. Sie sah Lossj an und schüttelte den Kopf.

»Ozeo cho sua«, sagte sie, und er verstand es sofort: »Konzentrieren Sie sich und besinnen Sie sich.«

Nun fing er an, sich auf die äußere Gestalt Petersburgs zu besinnen – er sah das Granitufer und die kaltem, dunkelblauen Wellen der Newa, einen den Strom durchquerenden Nachen mit einem schwindsüchtigen Beamten, die im Nebel hängenden langen Bogen der Nikolaibrücke, die dicken Rauchwolken aus den Fabrikschornsteinen, Rauch und Wolken im trüben Abendrot, eine nasse Straße, ein Ladenschild mit der Inschrift: »Tee, Zucker, Kaffee, Tabak, Zigarren, Zigaretten«, einen alten Droschkenkutscher an der Straßenecke ...

Aëlita blickte, das Kinn in die Hände gestützt, still auf die Kugel. In der Kugel wogten die Erinnerungen Lossjs, bald deutlich, bald verwischt und verschoben. Es zeigte sich die Kolonnade und die matte Kuppel der Isaakskathedrale, und gleich darauf erschien eine Granittreppe am Wasser, eine halbrunde Bank, ein auf dieser sitzendes trauriges junges Mädchen mit aufgespanntem Sonnenschirm und dahinter zwei Sphinxe in Tiaras. Lange Zahlenreihen, eine Werkzeichnung, Flammen in einer Schmiedesse und der mürrische Chochlow, der die Glut anfacht.

Aëlita beobachtete lange das seltsame Leben, das sich vor ihr im wogenden Nebel der Kugel abspielte. Die Bilder wurden aber plötzlich von Dingen anderer Ordnung gestört; sie sah Rauchsäulen, den Lichtschein einer Feuersbrunst, galoppierende Pferde, rennende und fallende Menschen. Und alles wurde von einem bärtigen, blutüberströmten, verzerrten Gesicht verdeckt. Gussjew atmete laut auf. Aëlita wandte sich beunruhigt zu ihm und drehte die Hand um. Die Kugel verschwand.

Aëlita saß einige Minuten unbeweglich da, den Kopf in die Hände gestützt, die Augen geschlossen. Dann stand sie auf, holte vom Regal einen der Zylinder, entnahm ihm eine beinerne Walze und legte sie ins Lesetischchen mit dem Projektionsschirm. Dann zog sie an einer Schnur, und über die Oberlichtfenster der Bibliothek senkten sich blaue Vorhänge. Sie rückte das Tischchen an die Bank heran und drehte den Schalter um.

Der Schirm erhellte sich, und über ihn schwebten von oben nach unten Gestalten von Marsianern und Tieren, Häuser, Bäume, Hausrat. Aëlita nannte den Namen jeder Gestalt und jedes Gegenstandes. Wenn die Figuren sich bewegten, nannte sie das entsprechende Zeitwort. Zuweilen wechselten die Figuren mit farbigen Zeichen, wie Lossj sie in dem singenden Buche gesehen hatte, ab, und es ertönte eine kaum hörbare Melodie. – Dann nannte Aëlita den Begriff.

Sie sprach mit leiser Stimme. Die Bilder dieser sonderbaren Fibel zogen langsam vorüber. In der Stille, in der bläulichen Dämmerung der Bibliothek blickte ein Paar aschgrauer Augen auf Lossj, und die Stimme Aëlitas drang wie ein mächtiger und milder Zauber in sein Bewußtsein. Ihm schwindelte der Kopf.

Lossj fühlte, wie sein Gehirn immer klarer wurde, als befreie es sich von einer Nebelhülle, und wie die neuem Worte und Begriffe sich seinem Gedächtnis einprägten. Das dauerte lange. Dann fuhr sich Aëlita mit der Hand über die Stirn, atmete auf und schaltete den Apparat aus. Lossj und Gussjew saßen wie in einem Nebel.

»Jetzt geht und legt euch schlafen«, sagte Aëlita zu den Gästen in der seltsamen Sprache, deren Laute ihnen noch sonderbar vorkamen, deren Sinn aber schon den Nebel des Bewußtseins durchleuchtete.


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