Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Lossj fliegt Gussjew zur Hilfe

Um Mitternacht sprang Lossj im Hofe des Tuskubschen Landhauses aus dem Flugboot. Die Fenster waren finster, also war Gussjew noch nicht zurück. Die schräge Wand war von den Sternen beleuchtet, ihre bläulichen Funken glänzten in den schwarzen Fensterscheiben. Hinter den Zacken des Daches ragte ein spitzer, sonderbarer Schatten hervor. Lossj sah aufmerksam hin: was könnte es sein? Der kleine Mechaniker beugte sich zu ihm vor und flüsterte besorgt:

»Gehen Sie nicht hin!«

Lossj zog aus dem Futteral die Mauserpistole. Er atmete mit der Nase die kühle Luft ein. In seiner Erinnerung erstand das Feuer am Rande des Abgrundes, der Geruch der brennenden Gräser. Die traurigen, wilden Augen Aëlitas... »Kommst du wieder?« fragte sie ihn, vor dem Feuer stehend: »Tu deine Pflicht, kämpfe, siege, vergiß aber nicht, daß alles nur ein Traum ist, lauter Schatten... Hier, vor dem Feuer bist du lebendig und wirst nicht sterben. Vergiß es nicht, komm wieder ...« Sie ging auf ihn zu. Ihre Augen öffneten sich dicht vor den seinen in die abgrundtiefe, vom Sternenstaub erfüllte Nacht. »Komm wieder, kehre zu mir zurück, Sohn des Himmels ...«

Die Erinnerung versengte ihn und erlosch, – sie dauerte nur eine Sekunde, während Lossj die Waffe aus dem Futteral zog. Er blickte gespannt auf den sonderbaren Schatten jenseits des Hauses über dem Dache und fühlte, wie sich seine Muskeln spannten und wie sein heißes Blut das Herz erschütterte. »Kampf, Kampf.«

Er lief mit leichten Schritten auf das Haus zu. Er horchte, glitt an der seitlichen Mauer entlang und blickte um die Ecke.

Vor der Hintertreppe des Hauses lag auf der Seite ein zerschlagenes Luftschiff. Der eine Flügel ragte über dem Dache zu den Sternen ... Lossj unterscheidet erst zwei, dann drei und vier im Grase liegende Säcke – es waren Leichen. Im Hause war es still und dunkel.

»Sollte Gussjew dabei sein?« Lossj lief ohne Deckung auf die Leichen zu. »Nein, es sind Marsianer.« Der fünfte lag mit herunterhängendem Kopf auf den Stufen. Der sechste hing in den Trümmern des Luftschiffs. Offenbar waren sie von Schüssen aus dem Innern des Hauses getroffen worden.

Lossj lief die Treppe hinauf. Die Tür war nur angelehnt. Er trat ins Haus.

»Alexej Iwanowitsch«, rief Lossj. Alles blieb still. Er drehte den Schalter um, alle Lampen im Hause leuchteten auf. Er dachte sich: Das war unvorsichtig, vergaß es aber gleich wieder. Da glitt er in einer kleinen klebrigen, dunklen Pfütze aus.

»Alexej Iwanowitsch!« schrie Lossj. Er horchte. Alles blieb still. Dann trat er in den schmalen Saal mit dem Projektionsspiegel, setzte sich in einen Sessel und griff sich mit den Nägeln ans Kinn.

»Soll ich hier auf ihn warten? Unsinn. Ihm zur Hilfe fliegen? Aber wohin? Wem mag das zerschlagene Luftschiff gehören? Die Toten sehen nicht wie Soldaten aus, am ehesten sind es Arbeiter. Wer hat hier gekämpft? Gussjew? Die Leute Tuskubs?« Lossj biß sich in den Nagel. »Ja, ich darf nicht zögern.«

Lossj zog wieder an der Schnur und wandte sich weg.

Er nahm die Zifferntafel und schaltete den Spiegel auf ›Platz des Hauses des Rates‹ ein. Er zog an der Schnur und prallte im gleichen Moment zurück: im rötlichen Scheine der Laternen flogen Rauchwolken, blitzten Flammen und Funken. Eine Gestalt mit emporgeworfenen Armen und blutüberströmten Augen flog mitten in den Spiegel hinein.

»Wird er mich nicht wissen lassen, wo ich ihn in diesem Brei suchen soll?«

Lossj verschränkte die Hände im Rücken und ging lange im schmalen Saal auf und ab. Er fuhr zusammen, blieb stehen, wandte sich schnell um und entsicherte die Pistole. Zur Tür sah dicht am Fußboden ein Kopf herein, mit rotem Schopf und rotem, runzligem Gesicht.

Lossj sprang zur Tür. Draußen an der Wand lag in einer Blutlache ein Marsianer. Lossj hob ihn auf und legte ihn auf den Sessel. Sein Leib war zerrissen. Der Marsianer befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge und sagte kaum hörbar:

»Beeile dich, wir gehen zugrunde. Sohn des Himmels, rette uns... Öffne mir die Hand...«

Lossj öffnete die erstarrende Faust des Sterbenden und fand einen Zettel. Mit Mühe entzifferte er darauf:

»Ich schicke ein Luftschiff und sieben Mann Arbeiter, um Sie abzuholen; es sind lauter verläßliche Jungen. Ich belagere das Haus des Rates. Landen Sie neben dem Turme auf dem Platze. Gussjew.«

Lossj bückte sich über den Verwundeten, um ihn zu fragen, was sich abgespielt habe. Aber der Marsianer röchelte und zuckte im Sessel. Lossj nahm seinen Kopf zwischen beide Hände und drückte ihn sich an die Brust. Der Marsianer hörte zu röcheln auf. Seine Augen glotzten den Sohn des Himmels an. Entsetzen und Seligkeit leuchteten aus ihnen. »Hilf!...« Die Augen trübten sich, der Mund zeigte alle Zähne.

Lossj knöpfte sich die Jacke zu und umwickelte sich den Hals mit einem Schal. Dann ging er dem Ausgang zu. Kaum hatte er aber die Tür geöffnet, als vorne, hinter dem Gerippe des Luftschiffes bläuliche Funken aufblitzten und ein leises, scharfes Geknatter ertönte. Eine Kugel riß ihm den Helm vom Kopfe.

Lossj preßte die Zähne aufeinander, sprang die Treppe hinunter, lief auf das Luftschiff zu, stemmte sich mit einer Schulter, so daß die Muskeln knackten, und warf das Gerippe des Schiffes auf die, die hinter ihm lauerten.

Es ertönte das Krachen berstender Metallteile und das Vogelgeschrei der Marsianer, der Riesenflügel fuhr durch die Luft und sauste auf die unter den Trümmern davonkriechenden Gestalten nieder. Sie enteilten dennoch im Zickzack über die nebelbedeckte Wiese. Lossj holte sie in einem Satz ein und schoß. Der Knall der Mauserpistole war entsetzlich. Der nächste Marsianer fiel ins Gras. Ein anderer warf sein Gewehr fort, hockte sich hin und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Lossj packte ihn am Kragen seiner silbergrauen Jacke und hob ihn wie einen jungen Hund in die Höhe. Es war ein Soldat. Lossj fragte:

»Hat dich Tuskub geschickt?«

»Ja, Sohn des Himmels.«

»Ich werde dich töten.«

»Gut, Sohn des Himmels.«

»Womit seid ihr hergeflogen? Wo ist euer Luftschiff?«

Vor dem schrecklichen Gesicht des Sohnes des Himmels hängend, zeigte der Marsianer mit seinen vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen auf die Bäume, in deren Schatten ein kleines Militärflugboot stand.

»Hast du in der Stadt den Sohn des Himmels gesehen? Kannst du ihn finden?«

»Ja.«

»Bringe mich hin.«

Lossj sprang ins Luftboot. Der Marsianer setzte sich ans Steuer. Die Luftschrauben surrten. Der Nachtwind schlug ihnen entgegen. In der schwarzen Höhe wankten die großen, seltsamen Sterne. In den Ohren sang es:

»Zu dir, zu dir, durch Feuer und Kampf, an den Sternen, am Tode vorbei, zu dir, Liebe!«


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