Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Die zweite Erzählung Aëlitas

»Dieses lasen wir in den farbigen Büchern«, begann Aëlita. »In sieben Völker zerfiel die Rasse der Atlanten. Völker, die sich nach ihrer Hautfarbe unterschieden, bewohnten die verschiedenen Teile der Erde. Die sich immer weiter entwickelnde Zivilisation ging von einem Volk zum andern über. Diese Übergänge wurden stets von Erschütterungen der Rasse begleitet, da die Herrschenden auf die Gewalt über die ganze Welt nicht ohne Kampf verzichten wollten, aber das Alter und die Entartung zwangen sie dazu.

Den Mittelpunkt der Welt bildete um jene Zeit die Stadt der Hundert Goldenen Tore, die jetzt auf dem Grunde des Ozeans liegt. Aus dieser Stadt kam das Wissen und jeder verführerische Luxus. Sie zog die jungen Völker an sich und entzündete in ihnen eine wilde Gier. Es kam die Zeit, und das junge Volk fiel über die Herrschenden her, bemächtigte sich der Stadt, plünderte die Schatzkammern und vernichtete die Besiegten. In diesen Zeiten erstarb das Licht der Zivilisation. Aber ihr Gift lebte noch und leuchtete, vom frischen Blute der Sieger gespeist, mit neuer Kraft auf. Es vergingen Jahrhunderte, und neue Horden von Nomaden umlagerten wie Gewitterwolken die ewige Stadt.

Die ersten Gründer der Stadt der Hundert Goldenen Tore waren afrikanische Neger aus dem Stamme Semsl. Sie hielten sich für den jüngsten Zweig der schwarzen Rasse, die in grauer Urzeit die südliche Halbkugel der Erde bevölkert hatte. Das Zentrum ihrer Zivilisation war beim Zusammenstoß der Erde mit dem Kometen Pto untergegangen. Die noch erhalten gebliebenen Teile der schwarzen Rasse zersplitterten sich in eine Menge Stämme. Viele von ihnen verwilderten und entarteten. Aber im Blute der Neger lebte immer noch die Erinnerung an die große Vergangenheit.

Die Menschen aus dem Stamme Semsl waren von großer Kraft und von großem Wuchs. Sie zeichneten sich durch eine ungewöhnliche Eigenschaft aus: sie konnten aus der Ferne das Vorhandensein, die Form und das Wesen der Dinge erkennen, genau wie ein Magnet die Nähe eines andern Magneten fühlt – obwohl ihre Augen fast blind waren. Diese Eigenschaft hatten sie in sich während ihres Lebens in den finsteren Höhlen der tropischen Wälder entwickelt.

Auf der Flucht vor der giftigen Fliege Goch verließ der Stamm Semsl die tropischen Wälder und zog gegen Westen, bis er auf eine zum Leben geeignete Gegend stieß. Es war eine hügelige, von zwei großen Strömen durchzogene Hochebene. Hier gab es viel Früchte und Wild, in den Bergen fand man Gold, Zinn und Kupfer. Die Wälder, Hügel und die stillen Gewässer waren anmutig und frei von verderblichen Fieberkrankheiten.

Die Menschen von Semsl errichteten eine Mauer zum Schutze gegen die wilden Tiere und wälzten Steine zu einer hohen Pyramide auf, zum Zeichen dessen, daß diese Stätte von Dauer sei. Auf der Spitze der Pyramide stellten sie einen Pfahl mit einem Bündel Federn des Vogels Klitli auf, des Beschützers des Volkes, der es während der Wanderung vor der Fliege Goch behütet hatte. Die Häuptlinge von Semsl schmückten ihre Köpfe mit Federn und legten sich Namen von Vögeln bei.

Im Westen von der Hochebene lebten wilde Nomadenstämme mit roter Haut. Die Menschen von Semsl überfielen sie, machten Gefangene und zwangen sie, die Felder zu pflügen, Wohnhäuser zu bauen und Erz und Gold zu gewinnen. Der Ruhm der Stadt verbreitete sich weit nach Westen und flößte den Rothäuten Furcht ein, denn die Menschen von Semsl waren stark, verstanden die Gedanken der Feinde zu erraten und töteten aus kurzer Entfernung, indem sie ein gebogenes Stück Holz schleuderten. Sie fuhren in Booten aus Baumrinde über die stillen Flüsse und erhoben von den Rothäuten Tribut.

Die Nachkommen der Semsl schmückten die Stadt mit runden, steinernen, mit Schilf gedeckten Gebäuden. Sie verstanden, prächtige Kleider aus Wolle zu weben und die Gedanken mittels Darstellung von Dingen aufzuschreiben – diese Kenntnis hatten sie in ihrem Blute als eine Überlieferung der verschwundenen Zivilisation bewahrt. Sie waren reich und gaben sich einem müßigen und beschaulichen Leben hin.

Es vergingen Jahrhunderte. Und da trat unter den Rothäuten im Westen ein großer Häuptling auf. Er hieß Uro. Obwohl in der Stadt geboren, war er, vom Instinkt getrieben, in die Steppen gezogen. Er sammelte eine große Menge von Kriegern und zog aus, um die Stadt zu erobern.

Die Nachkommen der Semsl wandten zur Verteidigung ihr ganzes Wissen an: sie machten die Feinde wahnsinnig, schickten über sie Herden toll gewordener Büffel und verstümmelten sie mit wie Blitze fliegenden Bumerangs. Aber die Rothäute waren durch ihre Gier und Zahl stark. Sie eroberten und plünderten die Stadt. Uro erklärte sich zum Häuptling der Welt. Er befahl den roten Kriegern, sich die Mädchen von Semsl zu Frauen zu nehmen. Die in die Wälder geflüchteten Überreste der Besiegten kehrten in die Stadt zurück und fingen an, den Siegern zu dienen.

Die Roten eigneten sich rasch das Wissen, die Sitten und die Künste der Semsl an. Das Mischblut gab eine lange Reihe von Regenten und Eroberern. Die geheimnisvolle Fähigkeit, die Natur der Dinge zu fühlen, ging von Geschlecht auf Geschlecht über.

Die Heerführer der Dynastie Uro erweiterten die Grenzen des Landes: sie rotteten im Westen die Nomaden aus und errichteten am Gestade des Stillen Ozeans Pyramiden aus Stein und Erde. Im Osten bedrängten sie die Neger. An den Ufern des Nigers und des Kongo, längs des felsigen Ufers des Mittelländischen Ozeans, der einst dort wogte, wo sich heute die Wüste Sahara befindet, erbauten sie starke Festungen. Es war die Zeit der Kriege und des Bauens. Die Atlantis hieß damals Chamagan.

Die Stadt erhielt eine neue Mauer mit hundert Toren, die mit goldenen Blechen beschlagen waren. Die Völker der ganzen Welt strömten hier, von Gier und Neugierde getrieben, zusammen. Unter den Angehörigen verschiedener Stämme, die sich in den Basaren der Stadt herumtrieben und ihre Zelte unter ihren Mauern aufschlugen, erschienen Menschen, die man noch nie gesehen hatte. Sie waren von olivenbrauner Hautfarbe, hatten langgeschlitzte brennende Augen und Nasen wie Vogelschnäbel. Sie waren klug und listig. Niemand wußte mehr, wenn sie in der Stadt aufgetaucht waren. Aber es war kaum ein halbes Jahrhundert vergangen, als die Wissenschaft und der Handel der Stadt der Hundert Goldenen Tore sich schon in den Händen dieses gar nicht zahlreichen Stammes befanden. Sie nannten sich die ›Söhne Aams‹.

Die weisesten unter den Söhnen Aams entzifferten die alten Inschriften von Semsl und fingen an, in sich die Fähigkeit, das Wesen der Dinge zu erkennen, zu entwickeln. Sie erbauten den unterirdischen Tempel des Schlafenden Negerkopfes und fingen an, die Menschen anzulocken: sie heilten Kranke, sagten die Zukunft voraus und zeigten den Gläubigen die Schatten der Verstorbenen. So begann die Dynastie der Hierophanten.

Dank ihrem Reichtum und Wissen drangen die Söhne Aams in die Regierung des Landes ein. Sie zogen viele Stämme auf ihre Seite und zettelten gleichzeitig in den Grenzgebieten und in der Stadt selbst einen Aufstand für den neuen Glauben an. Im blutigen Kampfe ging die Dynastie Uru unter. Die Hierophanten rissen die ganze Gewalt an sich.

In diese Zeit fällt der erste Erdstoß – es war die erste Warnung. An vielen Stellen drang zwischen den Bergen Feuer aus der Erde, und die Asche verhüllte den Himmel. Große Gebiete im Süden des Atlantischen Kontinents versanken in den Ozean. Im Norden erhoben sich vom Meeresgrunde felsige Inseln, die sich mit dem Festlande vereinigten: so entstanden die Umrisse Europas.

Die Hierophanten richteten ihre ganze Macht auf die Schaffung eines Kults unter den vielen Stämmen, die einst von der Dynastie Uru unterworfen und später abgefallen waren. Aber die Söhne Aams liebten den Krieg nicht. Sie rüsteten Schiffe aus, die mit dem Kopfe des Schlafenden Negers verziert waren, und beluden sie mit Gewürzen, Geweben, Gold und Elfenbein. Die Prediger des Kults kamen mit ihren Schiffen als Kaufleute und Wahrsager in die fernsten Länder. Sie trieben Handel und heilten durch Beschwörungen und Besprechen die Kranken und Krüppel. Zur Aufbewahrung ihrer Waren erbauten sie in jedem Lande ein großes Haus in Form einer Pyramide und stellten darin den Kopf des Schlafenden auf. So setzte sich der Kult fest. Wenn ein Volk sich gegen die Fremdlinge empörte, kam vom Schiffe eine Abteilung Rothäute in Bronzepanzern, mit federnverzierten Schilden, in hohen Helmen, welche Schrecken erregten.

So wurden die Gebiete der Atlantis von neuem erweitert und befestigt. Im äußersten Westen, im Lande der Roten, wurde die zweite große Stadt, Ptitligua gegründet. Die Handelsschiffe der Atlanten kamen im Osten bis nach Indien, wo noch die schwarze Rasse herrschte. An der Ostküste Asiens sahen sie zuerst die Giganten mit gelben, flachen Gesichtern. Diese Menschen bewarfen ihre Schiffe mit großen Steinen.

Der Kult des Schlafenden Kopfes stand allen offen – er war das wichtigste Werkzeug ihrer Macht, aber den inneren Sinn und Inhalt des Kults bewahrten die Hierophanten streng geheim. Sie zogen erst die Saat der Weisheit von Semsl heran und standen am Anfang des Weges, der die ganze Rasse ins Verderben führte.

Sie sprachen also:

»Die wahre Welt kann man weder sehen, noch fühlen, noch hören, noch hat sie einen Geschmack oder Geruch. Die wahre Welt ist eine Bewegung der Vernunft. Der Ausgangspunkt und das Endziel dieser Bewegung sind unfaßbar. Die Vernunft ist eine Materie, härter als Stein und schneller als das Licht. Sie strebt, wie jede Materie, nach Ruhe und verfällt ab und zu in einen gewissen schlafähnlichen Zustand, das heißt sie wird etwas langsamer, und das nennt man die Verkörperung der Vernunft in den Dingen. Je nach der Tiefe dieses schlafähnlichen Zustandes verkörpert sich die Vernunft in Feuer, Luft, Wasser oder Erde. Aus diesen vier Elementen entsteht die sichtbare Welt. Der Gegenstand ist eine vorübergehende Verdichtung der Vernunft. Der Gegenstand ist der Kern der Sphäre der sich verdichtenden Vernunft, gleich dem Kugelblitze, in dem sich die Gewitterluft verdichtet.

»Im Kristall befindet sich die Vernunft in absoluter Ruhe. Im Sternenraume ist sie in absoluter Bewegung. Der Mensch ist eine Brücke zwischen den beiden Zuständen der Vernunft. Durch den Menschen fließt der Strom der Vernunft in die sichtbare Welt. Die Füße des Menschen wachsen aus dem Kristall, sein Leib ist die Sonne, seine Augen sind Sterne, sein Kopf ist eine Schale, deren Rand sich ins Weltall dehnt.

»Der Mensch ist der Herr der Welt. Ihm sind die Elemente und die Bewegung untertan. Er regiert sie durch eine Kraft, die aus seinem Körper kommt wie ein Lichtstrahl aus der Öffnung in einem Tongefäß ausgeht.«

So sprachen die Hierophanten, die Söhne Aams. Das gemeine Volk verstand ihre Lehre nicht. Die einen beteten die Tiere an, andere die Schatten der Verstorbenen, andere – Götzenbilder und wieder andere – die nächtlichen Geräusche, Donner und Blitz oder die Gruben in der Erde. Es war unmöglich und gefährlich, gegen diese zahllosen Aberglauben zu kämpfen.

Da sahen die Hierophanten ein, daß man einen klaren und verständlichen, für alle gemeinsamen Kult einführen müsse. Sie erbauten große, mit Gold verzierte Tempel und weihten sie der Sonne, dem zürnenden und lebenspendenden, sterbenden und wieder auferstehenden Vater und Herrn des Lebens.

Der Kult der Sonne ergriff bald die ganze Erde. Die Gläubigen vergossen viel Menschenblut. Im äußersten Westen unter den Roten nahm die Sonne die Gestalt eines gefiederten Drachens an. Im äußerten Osten, wo ein Einschlag von Negerblut war, würde die Sonne, der Herr über die Schatten der Verstorbenen, als ein Mensch mit einem Vogelkopf dargestellt.

Im Mittelpunkte der Welt, in der Stadt der Hundert Goldenen Tore, erbaute man eine Stufenpyramide, so hoch, daß die Wolken sich um ihren Gipfel ballten – und in diese Pyramide wurde der Kopf des Schlafenden gebracht. Am Fuße der Pyramide wurde ein goldener geflügelter Stier mit Menschenantlitz und Löwentatzen aufgestellt. Unter ihm brannte ein ewiges Feuer. In den Tagen der Äquinoktien tötete der Hohepriester, der Sohn der Sonne, vor dem ganzen Volke, unter Wirbeln eiförmiger Trommeln und dem Tanze nackter Frauen, den schönsten von den Jünglingen der Stadt und verbrannte ihn im Bauche des Stieres. So befriedigten die Hierophanten das angeborene Bedürfnis des Volkes nach blutigen, religiösen Schauspielen.

Der Sohn der Sonne war der unbeschränkte Herr über die Stadt und alle Länder. Er erbaute Dämme, sorgte für die Bewässerung der Felder, verteilte Kleider und Nahrungsmittel aus den Magazinen und bestimmte, wieviel Land und Vieh ein jeder brauche. Die zahlreichen Beamten waren die Vollstrecker seiner Befehle. Niemand durfte sagen: »Das ist mein«, denn alles gehörte der Sonne. Die Arbeit war heilig. Faulheit wurde mit dem Tode bestraft. Im Frühjahr trat der Sohn der Sonne als erster ins Feld, zog mit einem mit vier Stieren bespannten Pfluge die erste Ackerfurche und warf in sie Maiskörner.

Die Tempel waren voller Korn, Gewebe und Gewürze. Die Schiffe der Atlanten mit dem purpurnen, mit einer Darstellung einer Schlange, die im Maule die Sonne hielt, verzierten Segeln durchfurchten alle Meere und Flüsse. Es begann die Zeit eines langen Friedens. Die Menschen vergaßen schon, wie man ein Schwert in der Hand hält.

Da zog aber über Atlantis vom Osten her eine Wolke heran.

Auf den östlichen Hochebenen Asiens lebte der mächtige Stamm der Utschkuren, Menschen mit gelben Gesichtern und Schlitzaugen. Sie gehörten dem Volke der Schumiren an, dem vierten unter den sieben großen Völkern. Die Utschkuren waren düster, grausam und wahnsinnig. Sie wurden von einer Frau regiert, die die Fähigkeit hatte, besessen zu werden. Sie hieß »Su Chutam Lu«, das bedeutet: »Die mit dem Monde Sprechende«. Sie sagte zu den Utschkuren:

»Ich werde euch in ein Land führen, das zwischen den Bergen liegt, wo die Sonne untergeht. Dort weiden so viele Hammel, als es Sterne am Himmel gibt, dort fließen Ströme aus Kumys, dort gibt es so hohe Zelte, daß man in jedem eine Herde Kamele unterbringen kann. In diesem Lande ist der Himmel golden und die Erde blau. Die Hufe eurer Pferde haben diese Erde noch nicht betreten, und ihr habt mit euren Helmen noch kein Wasser aus seinen Flüssen geschöpft.«

Die Utschkuren stiegen von ihrer Hochebene herab und überfielen die Nomadenstämme der gelben Schumiren, unterwarfen sie sich und wurden zu Heerführern unter ihnen. Sie sagten zu den Besiegten: »Zieht mit uns in das Land der Sonne, das uns Su Chutam Lu gewiesen hat.«

Die gelben Schumiren beteten die Sterne an und waren zum Träumen aufgelegt. Sie brachen ihre Zelte ab und trieben ihre Herden nach Westen. Sie wanderten langsam Jahr für Jahr. An der Spitze zog die Reiterei der Utschkuren, die unterwegs alles überfiel und die Städte zerstörte. Der Reiterei folgten die Herden und die Fuhrwerke mit den Frauen und Kindern. Die Nomaden zogen an Indien vorbei und ergossen sich über die große Ebene im Osten Europas.

Hier blieben viele in den Wäldern und an den Ufern der Seen. Die Stärkeren zogen weiter nach Westen. An der Küste des Mittelmeers zerstörten sie die erste Kolonie der Atlanten und erfuhren von den Besiegten, wo das Land der Sonne liegt. Hier starb Su Chutam Lu. Man nahm ihr die Haare mit der Haut vom Kopfe und befestigte sie an eine lange Stange. Sie zogen mit dieser Fahne weiter, die Meeresküste entlang. So erreichten sie den Rand Europas und erblickten von der Höhe der Berge das gelobte Land. Seit dem Tage, an dem die wahnsinnigen Utschkuren ihre Hochebene verlassen hatten, waren hundert Jahre vergangen.

Die Nomaden fingen an, Bäume in den Wäldern zu schlagen und Flöße zu bauen. Auf den Flößen setzten sie über den warmen, salzigen Fluß, der, vom hohen Norden kommend, die Ufer Europas umspülte. Sie betraten das gelobte Land der Atlantis und überfielen die heilige Stadt Thule. Als sie die hohen Mauern erklommen, begannen in der Stadt die Glocken zu läuten, und das Geläute war so schön, daß die Gelben weder die Stadt zerstörten noch die Bewohner umbrachten, noch die Tempel plünderten. Sie nahmen sich nur die Vorräte von Speise und Kleidung und zogen weiter nach Südosten. Der von ihren Wagen und Herden aufgewirbelte Staub verdeckte die Sonne.

Endlich trat den Nomaden das Heer der Roten entgegen. Die Atlanten waren über und über mit Gold und bunten Federn geschmückt, verzärtelt und schön von Angesicht. Die Reiterei der Utschkuren umzingelte und vernichtete sie. Von dem Tage an, an dem die Gelben das Blut der Atlanten gerochen, kannten sie keine Gnade mehr.

Aus der Stadt der Hundert Goldenen Tore zog ein zweites Heer. Man schickte Boten nach Westen zu den Roten, nach Süden zu den Negern, nach Osten zu den Söhnen Aams und nach Norden zu den Zyklopen. Man brachte Menschenopfer. Auf den Tempeldächern brannten Tag und Nacht Feuer. Die Bewohner der Stadt strömten zu den blutigen Opfern herbei, gaben sich rasenden Tänzen und der Wollust hin, berauschten sich mit Wein und streuten die Schätze auf die Straßen.

Die Hierophanten, die Weisen und die Wissenden bereiteten sich auf die große Prüfung vor. Sie trugen die Bücher des Großen Wissens in die Höhlen der Berge und vergruben sie in die Erde.

Es begann der Krieg. Sein Ausgang war schon im voraus entschieden: die Atlanten vermochten nur die Reichtümer, mit denen sie sich übersättigt hatten, zu verteidigen, aber die Nomaden hatten eine heilige Gier und den Glauben an die Verheißung. Der Kampf währte jedoch lange und war sehr blutig. Das Land wurde verwüstet. Es begann eine Hungersnot und ein großes Sterben. Die Heere liefen aufeinander und plünderten alles, was sie nur konnten. Die Stadt der Hundert Goldenen Tore wurde erstürmt, und ihre Mauern wurden geschleift. Der Sohn der Sonne stürzte sich vom Gipfel der Stufenpyramide hinab. Die Feuer auf den Tempeldächern erloschen. Nur wenige von den Weisen und Wissenden retteten sich in die Berge und in die Höhlen. Die tausendjährige Zivilisation war vernichtet.

Zwischen den zerstreuten Palästen der großen Stadt, auf den grasbewachsenen Plätzen weideten Schafe, und ein Hirte mit gelbem Gesicht sang ein trauriges Lied von dem, wie eine Fata Morgana in der Wüste, seligen, gelobten Lande, wo die Erde blau und der Himmel golden ist.

Die Nomaden fragten ihre Führer: »Wohin sollen wir noch weiter gehen?« Die Führer antworteten: »Wir haben euch ins gelobte Land gebracht, siedelt euch hier an und lebt friedlich.« Aber viele von den Nomadenstämmen hörten darauf nicht und zogen weiter nach dem Westen, ins Land des Gefiederten Drachens, wo sie aber vom Herrscher von Ptitligua vernichtet wurden. Einige von den Nomaden drangen bis zum Äquator vor, wo sie den Negern, den Elefantenherden und dem Sumpffieber zum Opfer fielen.

Die Führer der Gelben, die Utschkuren, wählten den Weisesten unter den Heerführern und machten ihn zum Beherrscher des eroberten Landes. Sein Name war Tubal. Er befahl die Mauern auszubessern, die Gärten zu säubern, die Felder zu pflügen und die zerstörten Häuser aufzubauen. Er erließ viele weise und einfache Gesetze. Er berief die in die Höhlen geflüchteten Weisen und Wissenden und sagte ihnen: »Meine Augen und meine Ohren stehen der Weisheit offen.« Er machte sie zu seinen Räten, erlaubte die Tempel zu öffnen und sandte überallhin Boten aus und ließ verkünden, daß er den Frieden wolle.

So war der Beginn der dritten und höchsten Welle der Zivilisation der Atlanten. In das Blut der zahllosen schwarzen, roten, olivbraunen und weißen Stämme hatte sich das träumerische, wie Wein gärende Blut der asiatischen Nomaden, der Sternenanbeter, der Nachkommen der besessenen Su Chutam Lu eingeschlichen.

Die Nomaden lösten sich schnell unter den andern Stämmen auf. Die Zelte, Herden und die wilde Freiheit blieben nur noch in den Liedern und Sagen. Es entstand ein neuer Stamm starker, schwarzhaariger, gelblichbrauner Menschen. Die Utschkuren, die Nachkommen der Reiter und Heerführer bildeten die Aristokratie der Stadt. Sie nannten sich Atlanda, was ›Einwanderer aus der Steppe‹ bedeutete. Von diesem Namen kam später die allgemeine Bezeichnung für das ganze Land – Atlantis, das bis zu dieser Zeit die verschiedenen Namen der Verkörperungen der Sonne getragen hatte.

Die Atlandas liebten die Wissenschaften, die Künste und den Luxus. Sie schmückten die Stadt mit neuen Mauern und siebenkantigen Türmen, bedeckten einundzwanzig Stufen der gigantischen Pyramide mit Goldblechen, erbauten Aquädukte und führten in die Architektur die Säule ein. In den Atlandas war der Geist des Bauens und der Geist der großen Unruhe.

Sie suchten ihre Unruhe durch Eroberungen zu stillen. Die abgefallenen Länder und Städte wurden wiedererobert. Im Norden kämpften sie gegen die Zyklopen, den der Vermischung entgangenen, verwilderten Abkömmlingen des Stammes Semsl. Der große Eroberer Rama kam bis nach Indien und brach nach langen Kriegen die Herrschaft der Schwarzen. Er vereinigte die kindlichen Stämme der Arier, die zu dem siebenten der sieben Völker gehörten, zum Reiche Ra. So erreichten die Grenzen der Atlantis die noch nie dagewesenen Ausmaße vom Lande des Gefiederten Drachens bis zu der asiatischen Küste des Stillen Ozeans, wo einst die gelben Riesen die Schiffe mit Steinen beworfen hatten.

Die unruhige Seele der Atlandas suchte Befriedigung im Wissen. Die alten Bücher der Semsl und die weisen Bücher der Söhne Aams wurden von neuem gelesen. Ein Kreis hatte sich geschlossen, und es begann ein neuer. In den Höhlen fand man die halb vermoderten ›sieben Papyri des Schlafenden‹. Nach diesem Funde entwickelte sich das Wissen rasch. Das, was den Söhnen Aams fehlte, die unbewußte, schöpferische Kraft, was den Söhnen des Stammes Semsl abging, der klare und scharfe Verstand – das floß in Fülle im unruhigen und leidenschaftlichen Blute der Atlanda.

Die Grundlage des neuen Wissens lautete:

»Im Menschen schlummert die mächtigste der Weltkräfte: die Materie der reinen Vernunft. Genau so, wie der von der gespannten Sehne getriebene und von der sicheren Hand gerichtete Pfeil das Ziel trifft, so kann auch die Materie der schlummernden Vernunft durch die Sehne des Willens getrieben und durch die Hand des Wissens gerichtet werden. Die Kraft des so gerichteten Wissens ist grenzenlos.«

Die Disziplin des Wissens zerfiel in zwei Teile: einen vorbereitenden – die Entwicklung des Körpers, des Willens und der Vernunft, und einen grundlegenden – die Erkenntnis der Natur, der Welt und der Formeln, mittels derer die Materie des Wissens die Natur beherrscht.

Die vollkommene Beherrschung des Wissens, die Blüte einer Kultur, wie sie auf Erden noch nie dagewesen ist und sich noch nie wiederholt hat, dauerte ein Jahrhundert zwischen den Jahren 450 und 350 vor der Sintflut, das heißt bis zum Untergange der Atlantis.

Auf der Erde herrschte ein allgemeiner Frieden. Die vom Wissen ins Leben gerufenen Kräfte der Erde dienten im reichen Maße den Menschen. Die Gärten und Felder gaben große Ernten, die Herden vermehrten sich, die Arbeit war leicht. Das Volk erinnerte sich seiner alten Bräuche und Feste, und niemand hinderte es, zu leben, zu lieben, zu zeugen und sich zu freuen. In den Überlieferungen wurde dieses Zeitalter das Goldene genannt.

Um jene Zeit wurde an der östlichen Grenze der Erde die Sphinx aufgestellt, die in einem Körper die vier Elemente darstellte – ein Symbol des Geheimnisses der schlummernden Vernunft. Es wurden die sieben Weltwunder gebaut: das Labyrinth, der Koloß im Mittelmeere, die Säulen im Westen von Gibraltar, der Turm der Sterndeuter auf Poseidones, die sitzende Statue des Tubal und die Stadt der Lemuren auf einer Insel des Stillen Ozeans.

Ein Strahl des Wissens drang auch in die schwarzen Stämme, die man bis zu dieser Zeit in die tropischen Sümpfe zurückgedrängt hatte. Die Neger eigneten sich rasch die Zivilisation an und begannen in Zentralafrika Riesenstädte zu bauen.

Die Saat der Weisheit von Semsl gab eine üppige und reiche Blüte. Da fingen aber die Weisesten unter den in das Wissen Eingeweihten an zu verstehen, daß im ganzen Wachstum der Zivilisation die Erbsünde liege. Die fernere Entwicklung des Wissens müsse zum Untergang führen: die Menschheit werde sich selbst treffen, wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt.

Die Erbsünde bestehe darin, daß das Sein – das Leben der Erde und der Wesen als etwas dem Menschenverstand Entspringendes aufgefaßt werde. Indem der Mensch die Welt erkenne, erkenne er nur sich selbst. Der Mensch sei das Wesentliche, die Welt nur eine Frucht seiner Vernunft, seines Willens, seines Traumgesichts oder seines Alpdrucks. Das Sein sei das Bewußtsein des Menschen. Nur das menschliche Ich gelte als existierend.

Eine solche Auffassung des Seins müßte dazu führen, daß jeder Mensch behaupten würde, er allein sei das einzige, wesentliche und wahre Ich, alles andere aber – die Welt und die Menschen nur seine Vorstellung. Das weitere wäre ein unvermeidlicher Kampf wegen des wahren Ich, wegen der Persönlichkeit, die Ausrottung der Menschheit als eines Menschentraumes, der sich gegen den Menschen selbst erhoben hat, Verachtung und Abscheu gegen das Sein, als gegen ein böses Gespenst.

Das war die in der Weisheit der Semsl verborgene Erbsünde.

Das Wissen spaltete sich. Die einen sahen keine Möglichkeit, das Samenkorn des Bösen zu entfernen, und sagten, das Böse sei die einzige Kraft, die das Sein aufbaue. Sie nannten sich die Schwarzen, denn das Wissen kam von den Schwarzen.

Die andern glaubten, daß das Böse nicht in der Natur selbst liege, sondern in der Abweichung der Vernunft vom Natürlichen und begannen nach einer dem Bösen gegenwirkenden Kraft zu suchen. Sie sagten: »Der Sonnenstrahl fällt auf die Erde, die Frucht der Erde geht zugrunde und erwacht zum neuen Leben: das ist das Grundgesetz der Erde. So ist auch die Bewegung der Vernunft der Welt: Niedergang, Opfertod und Auferstehung im Fleische. Die Erbsünde ist die Vereinsamung der Vernunft und kann durch den Sündenfall aufgehoben werden. Die Vernunft muß zum Fleische herabsinken und durch das lebende Tor des Todes gehen. Dieses Tor ist das Geschlecht. Der Niedergang der Vernunft geschieht durch die Kraft des Eros.«

Die dieses behaupteten, nannten sich die Weißen, da sie auf ihren Häuptern eine leinene Tiara, das Zeichen des Eros, trugen. Sie schufen das Frühlingsfest, das Mysterium des Sündenfalls, das in den herrlichen Gärten des alten Sonnentempels aufgeführt wurde. Ein keuscher Jüngling stellte die Vernunft dar, eine Frau – das Tor des sterblichen Fleisches, eine Schlange – den Eros. Man kam aus den fernsten Ländern herbei, um dieses Schauspiel zu sehen.

Die Spaltung zwischen den beiden Wegen des Wissens war tief. Es begann ein Kampf. Um diese Zeit wurde eine erstaunliche Entdeckung gemacht: man fand die Möglichkeit, die in den Pflanzensamen schlummernde Keimkraft augenblicklich zu befreien. Diese Kraft, eine explosive, feurig-kalte Materie strebte befreit in den Raum. Die Schwarzen nützten sie für den Kampf als ein Kriegswerkzeug aus. Sie bauten große Luftschiffe, die Schrecken erregten. Die wilden Völker beteten diese geflügelten Drachen an.

Die Weißen begriffen, daß das Ende der Welt nahe sei, und begannen, sich darauf vorzubereiten. Sie wählten unter den einfachen Menschen die reinsten, stärksten und sanftesten aus und brachten sie nach Norden und nach Osten. Sie wiesen ihnen hochgelegene Weiden an, wo die Kolonisten in ursprünglicher Einfachheit und Beschaulichkeit leben konnten.

Die Befürchtungen der Weißen bewahrheiteten sich. Das Goldene Zeitalter entartete, in den Städten von Atlantis trat eine Übersättigung ein. Nichts vermochte die übersättigte Phantasie, den Durst nach Perversion, den Wahnsinn der verwüsteten Vernunft zurückzuhalten. Die Kraft, deren sich der Mensch bemächtigt hatte, wandte sich gegen ihn selbst. Die Unvermeidlichkeit des Todes machte die Menschen düster, grausam und erbarmungslos.

Und nun brachen die letzten Tage an. Es begann mit einer großen Katastrophe: das zentrale Gebiet der Stadt der Hundert Goldenen Tore wurde durch einen unterirdischen Stoß erschüttert, viel Land versank auf den Grund des Ozeans, die Meereswellen schnitten das Land des Gefiederten Drachens für immer vom Festlande ab.

Die Schwarzen klagten die Weißen an, daß sie mittels Beschwörungen die Geister der Erde und des Feuers entfesselt hätten. Das Volk empörte sich. Die Schwarzen veranstalteten in der Nacht ein Blutbad: mehr als die Hälfte der Bewohner, die die leinene Tiara trugen, fanden den Tod, die andern flohen hinter die Grenzen der Atlantis, viele zogen nach Indien.

Die Gewalt über die Stadt der Hundert Goldenen Tore fiel den Reichsten unter den Bürgern zu, den Mitgliedern des schwarzen Ordens, die sich Magazitlen, das heißt ›Erbarmungslose‹ nannten. Sie sagten: »Laßt uns die Menschheit vernichten, denn sie ist schlecht und ein Traum der Vernunft. Um das Schauspiel des Todes in seiner ganzen Fülle auszukosten, verkündeten sie im ganzen Lande Feste und Spiele, taten die Schatzkammern und die Magazine auf; brachten vom Norden weiße Jungfrauen und gaben sie dem Volke, öffneten die Türen der Tempel allen, die nach widernatürlichen Genüssen lechzten, füllten die Springbrunnen mit Wein und brieten auf den Plätzen Fleisch. Ein Wahnsinn bemächtigte sich des Volkes. Es war in den herbstlichen Tagen der Weinlese.

Nachts erschienen auf den von Scheiterhaufen erhellten Plätzen, unter dem vom Weine, von den Tänzen, vom Essen und von den Frauen berauschten Volke die Magazitlen. Sie trugen hohe Helme auf den Häuptern, Panzergürtel um die Lenden, hatten aber keine Schilde in den Händen. Mit der rechten Hand warfen sie Bronzekugeln, die mit einer kalten, alles zerstörenden Flamme explodierten, und stießen mit der linken ein kurzes Schwert in die Trunkenen und Wahnsinnigen.

Die Orgie wurde durch einen schrecklichen Erdstoß unterbrochen. Die Tubalstatue stürzte, die Mauern bekamen Sprünge, die Pfeiler des Aquädukts fielen um, aus den tiefen Erdspalten schlugen Flammen empor, und die Asche verhüllte den Himmel.

Am nächsten Morgen beleuchtete die trübe Sonnenscheibe Trümmer, brennende Gärten, Scharen wahnsinniger, von Exzessen ermüdeter Menschen und Haufen von Leichen. Die Magazitlen stürzten sich zu den eiförmigen Flugapparaten und begannen die Erde zu verlassen. Sie flogen in die Sternenräume, in die Heimat der abstrakten Vernunft. Als einige hundert Apparate weggeflogen waren, ertönte der vierte, noch stärkere Erdstoß. Im Norden erhob sich aus den Wolken von Asche eine Springflut des Ozeans, die über die Erde rollte, alles Lebende vernichtend. Es begann ein Sturm, Blitze fuhren auf die Erde und auf die Häuser herab. Ein Regenguß ging nieder, Splitter vulkanischer Steine flogen durch die Luft. Hinter der Schutzmauer der großen Stadt, vom Gipfel der mit Goldblechen beschlagenen Stufenpyramide stiegen die Magazitlen durch den Ozean des herabströmenden Wassers, aus dem Rauche und der Asche in den Sternenraum. Drei aufeinanderfolgende Erdstöße spalteten die Erde der Atlantis. Die Stadt der Hundert Goldenen Tore versank in die siedenden Wellen.


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