Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Chao.

»Sohn des Himmels, Sohn des Himmels«, rief eine feine Stimme. Gussjew und Lossj näherten sich dem Landgut vom Gehölz her. Aus dem blauen Dickicht zeigte sich ein kleines Gesicht mit spitzer Nase. Es war der kleine Chauffeur Aëlitas im grauen Pelz. Er schlug die Hände zusammen, tanzte, sein Gesichtchen runzelte sich wie bei einem Tapir. Er schob die Äste auseinander und zeigte auf das in den Ruinen eines Zirkus versteckte Flugboot.

Er berichtete: Die Nacht war ruhig verlaufen, vor Sonnenaufgang ertönte aber in der Ferne eine Explosion, und am Himmel zeigte sich der Widerschein eines Brandes. Er glaubte, die Söhne des Himmels seien umgekommen; er sprang ins Flugboot und flog zu Aëlita in ihr Versteck. Auch sie hatte die Explosion gehört und beobachtete von der Höhe eines Felsens den Brand. Sie sagte dem Jungen: »Fliege aufs Landgut zurück und erwarte dort den Sohn des Himmels. Wenn dich die Diener Tuskubs ergreifen, so stirb stumm. Wenn der Sohn des Himmels tot ist, so suche seine Leiche, du findest an ihr ein kleines Fläschchen aus Stein, das bringe mir.«

Lossj hörte mit zusammengebissenen Zähnen den Bericht des Jungen an. Dann ging er mit Gussjew zum See; sie wuschen das Blut und den Staub von sich ab. Gussjew schnitt sich aus einem kräftigen Baum einen Prügel, fast so groß wie ein Pferdebein.

Sie stiegen ins Boot und schwangen sich ins strahlende Blau.


Gussjew und der Chauffeur zogen das Flugboot in die Grotte, legten sich am Eingange hin und entfalteten die Karte. In diesem Augenblick kam zu ihnen von oben Icha herabgerollt. Sie sah Gussjew an und griff sich an die Wangen. Tränen kamen in Strömen aus ihren verliebten Augen. Gussjew lachte erfreut auf.

Lossj stieg allein in die Tiefe zur Heiligen Schwelle hinunter. Wie auf Windesflügeln eilte er über steile Treppen, schmale Gänge und Brücken. Was wird mit Aëlita werden, was mit ihm? Werden sie sich retten oder umkommen? Er konnte nichts begreifen; er versuchte einigemal zu denken und gab es wieder auf. Das Wichtigste, das Erschütternde ist, daß er gleich sie, »die aus dem Sternenlichte Geborene«, wiedersehen wird; in ihr schmales, bläuliches Gesicht schauen, sich in den Wellen der Freude vergessen.

Er lief schnell inmitten Dampfwolken über die bucklige Brücke, die über den Höhlensee führte, und erblickte wie das vorige Mal jenseits der niedrigen Säulen die Mondlandschaft der Berge. Er trat vorsichtig auf das über dem Abgrunde hängende Plateau. Die Heilige Schwelle leuchtete wie mattes Gold. Es war heiß und still. Lossj hatte den Wunsch, voller Andacht und Zärtlichkeit das rötliche Moos, den Staub, die Fußspuren auf dieser letzten Zuflucht der Liebe zu küssen.

Tief unten ragten die unfruchtbaren Bergspitzen. Im dunklen Blau glänzte das ewige Eis. Eine durchdringende Trauer preßte ihm das Herz zusammen. Hier ist noch die Asche des Scheiterhaufens, hier das zerdrückte Moos, wo Aëlita das Lied der Ulla gesungen hat. Eine Eidechse mit starrendem Rückenkamm lief fauchend über die Steine und erstarrte, das Köpfchen zu ihm umgewandt.

Lossj ging zur dreieckigen Tür im Felsen, machte sie auf und trat gebückt in die Grotte.

Von der Ampel erleuchtet, schlief hier, auf weißen Polstern, unter einer weißen Decke, Aëlita. Sie lag auf dem Rücken, den bloßen Ellbogen im Nacken. Ihr schmales Gesicht war traurig und sanft. Die Wimpern zuckten, sie träumte wohl etwas.

Lossj ließ sich an ihrem Kopfende nieder und betrachtete gerührt und erregt die Genossin des Glückes und der Trauer. Jede Qual würde er jetzt auf sich nehmen, um dieses herrliche Gesicht niemals verdüstert zu sehen, um den Untergang der Schönheit, der Jugend, des keuschen Atmens aufzuhalten – sie atmete, und eine Haarsträhne, die auf ihrer Wange lag, hob und senkte sich.

Lossj dachte an die, die in der Finsternis des Labyrinths, im tiefen Schacht, in Erwartung ihrer Stunde, atmeten, wimmelten und zischten. Er stöhnte vor Angst und Trauer auf. Aëlita holte Atem und erwachte. Ihre noch verständnislosen Augen sahen Lossj an. Sie hob erstaunt die Brauen, stützte sich mit beiden Händen in die Kissen und setzte sich auf.

»Sohn des Himmels,« sagte sie zärtlich und leise, »mein Sohn, meine Liebe ...«

Sie bedeckte ihre Blöße nicht und errötete nur leicht vor Verlegenheit. Ihre bläulichen Schultern, ihr kaum entwickelter Busen, ihre schmalen Hüften erschienen Lossj aus dem Lichte der Sterne geboren. Lossj kniete noch immer am Köpfende ihres Lagers und schwieg, denn es war ihm zu schmerzvoll, die Geliebte anzusehen. Ein bitterlich-süßer Duft umfing ihn wie Gewitterschwüle.

»Ich habe von dir geträumt,« sagte Aëlita – »du trugst mich über gläserne Treppen, du entführtest mich immer höher. Ich hörte dein Herz klopfen. Dein Blut ließ es erzittern. Eine qualvolle Sehnsucht hielt mich umfangen. Ich wartete: wann wirst du endlich stehenbleiben, wann wird meine Sehnsucht ein Ende nehmen? Ich will die Liebe kennenlernen. Ich kenne nur die Last und die Qual der Sehnsucht ... Du hast mich geweckt.« Sie verstummte, ihre Brauen hoben sich noch höher. »Du blickst so seltsam. Du bist mir doch nicht fremd? Bist kein Feind?«

Sie rückte von ihm schnell weg. Ihre Zähne schimmerten. Lossj sagte schwer atmend:

»Komm zu mir.«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen blickten wild.

»Du gleichst dem schrecklichen Tscha.«

Er bedeckte sofort sein Gesicht mit der Hand, erzitterte, von der äußersten Willensanspannung durchdrungen, am ganzen Leibe, und eine unsichtbare Flamme ergriff ihn wie Feuer, das einen trockenen Busch verzehrt. Die schwere, trübe Last wälzte sich von seinem Herzen, alles in ihm wurde zu Feuer. Er zog die Hand vom Gesicht weg. Aëlita fragte leise:

»Was denn?«

»Fürchte dich nicht, meine Liebe.«

Sie rückte wieder näher und flüsterte:

»Ich fürchte das Chao. Ich werde sterben.«

»Nein, nein. Der Tod ist anders. Ich irrte nachts durch das Labyrinth und habe ihn gesehen. Aber ich rufe dich, meine Liebe. Auf daß wir ein Leben, ein Kreislauf, eine Flamme werden. Sonst ist Tod und Finsternis. Wir werden verschwinden. Dies aber ist ein lebendiges Feuer, das Leben selbst. Fürchte das Chaos nicht, steige mit mir hinab ...«

Er streckte die Arme nach ihr aus. Aëlita zitterte wie im Fieber, ihre Wimpern senkten sich, das gespannt lauschende Gesichtchen schien noch schmächtiger geworden. Plötzlich setzte sie sich im Bette auf und blies die Lampe aus.

Ihre Finger verfingen sich in den schneeweißen Haaren Lossjs.

»Aëlita, Aëlita, siehst du – das schwarze Feuer!«


Hinter der Tür der Grotte ertönte ein Geräusch, wie das Summen eines Bienenschwarms. Weder Lossj noch Aëlita hörten es. Das Summen wurde immer lauter. Und schon erhob sich aus der Tiefe, an den Felsen schleifend, langsam ein Militärluftschiff.

Das Luftschiff hielt in der Höhe des Plateaus. Eine kleine Leiter fiel vom Bord auf den Fels. Dem Schiffe entstiegen Tuskub und eine Abteilung Soldaten in Panzern und Bronzehelmen.

Die Soldaten stellten sich im Halbkreis vor der Grotte auf. Tuskub trat vor die dreieckige Tür und klopfte an sie mit dem goldenen Knauf seines Stockes.

Lossj und Aëlita lagen in tiefem Schlaf. Tuskub wandte sich zu den Soldaten um und sagte, mit dem Stock in die Grotte weisend:

»Verhaftet sie.«


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