Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Wendung der Ereignisse.

Die Truppen der Aufständigen besetzten alle wichtigsten Punkte der Stadt, welche Gor bestimmte. Die Nacht war kühl. Die Marsianer froren auf ihren Posten. Gussjew ließ überall offene Feuer anzünden. Dies erschien unerhört: seit tausend Jahren schon war in der Stadt kein Feuer angezündet worden, von tanzenden Flammen wußte man nur noch aus einem alten Lied.

Vor dem Hause des Rates entzündete Gussjew eigenhändig den ersten Scheiterhaufen aus Trümmern von Möbelstücken. »Ulla, ulla«, sangen die Marsianer mit leisen Stimmen, sich um das Feuer scharend. Nun loderten auf allen Plätzen Scheiterhaufen. Der rötliche Lichtschein belebte die schrägen Hausmauern mit schwankenden Schatten und flackerte in den Fensterscheiben.

In den Fenstern zeigten sich bläuliche Gesichter – voll banger Unruhe starrten sie auf die noch nie gesehenen Feuer und auf die düsteren, abgerissenen Gestalten der Aufständigen. Viele der Häuser wurden in dieser Nacht von ihren Bewohnern verlassen.

In der Stadt war es still. Man hörte nur das Knistern der Flammen und das Rasseln der Waffen – als wären die Jahrtausende auf ihren Wegen umgekehrt, als hätte ihr qualvoller Flug von neuem begonnen. Selbst die zottigen Sterne über den Straßen und den Scheiterhaufen schienen verändert – die am Feuer Sitzenden hoben unwillkürlich die Köpfe und betrachteten die vergessenen, gleichsam wieder lebendig gewordenen Sternbilder.

Gussjew inspizierte in einem geflügelten Sattel die Truppen. Er stürzte sich aus dem sternenerfüllten Dunkel auf den Platz und ging hin und her, einen Riesenschatten werfend. Er erschien als ein echter Sohn des Himmels, als ein Götzenbild, das von seinem Steinsockel herabgestiegen. »Magazitl, Magazitll«, flüsterten die Marsianer voll abergläubischer Angst. Viele von ihnen sahen ihn zum erstenmal und schlichen näher heran, um ihn zu berühren. Viele weinten mit Kinderstimmen: »Jetzt werden wir nicht sterben ... Wir werden glücklich sein ... Der Sohn des Himmels hat uns das Leben gebracht.«

Magere, in staubige, vollkommen gleiche Kleider gehüllte Körper, runzelige, spitznasige, ungesunde Gesichter, traurige, seit Jahrhunderten an die unaufhörlich rotierenden Räder und an das Halbdunkel der Schächte gewohnte Augen, hagere Arme, die jede freudige und kühne Bewegung verlernt hatten – Arme, Gesichter, Augen, in denen sich die Feuer als Funken spiegelten, alles streckte sich dem Sohne des Himmels entgegen.

»Mut, Kinder, Mut! Seid doch lustig!« sprach zu ihnen Gussjew. »Es steht nirgends geschrieben, daß man ewig schuldlos leiden soll. Mut! Wenn wir siegen, wird ein gutes Leben beginnen.«


Gussjew kehrte spät in der Nacht ins Haus des Rates zurück – er war ganz erfroren und hungrig. Im kleinen Saal mit der niederen, vergoldeten, gewölbten Decke schliefen auf dem Fußboden an die zwanzig bis an die Zähne bewaffnete Marsianer. Der Spiegelfußboden war mit gekauter Chawra vollgespuckt. In der Mitte des Saales saß auf einer Patronenkiste Gor und schrieb etwas beim Scheine einer kleinen elektrischen Laterne. Auf dem Tische lagen geöffnete Konservenbüchsen, Feldflaschen und Brotrinden. Gussjew setzte sich auf eine Ecke des Tisches, aß mit großer Gier, wischte sich die Hand an der Hose ab, trank einen Schluck aus einer Feldflasche, räusperte sich und sagte in heiserem Baß:

»Die Lage ist schlimm.«

Gor hob seine geröteten Augen und betrachtete den blutdurchtränkten Lumpen, mit dem Gussjews Kopf verbunden war, sein kräftig kauendes, breitknochiges Gesicht, seinen in die Höhe ragenden Schnurrbart und seine geblähten Nasenflügel.

»Ich kann unmöglich herauskriegen, wohin sich die Regierungstruppen versteckt haben«, sagte Gussjew. »Auf den Plätzen liegen nur an die dreihundert Leichen herum, es waren ihrer aber nicht weniger als fünfzehntausend Mann. Sie sind wie in die Erde versunken. So ein Heer ist doch keine Nadel und kann nicht spurlos verschwinden. Hätten sie die Umzingelung durchbrochen, so müßte ich es wissen. Die Lage ist schlimm. Der Feind kann uns jeden Augenblick in den Rücken fallen.«

»Tuskub, die Regierung, die Überreste der Truppen und ein Teil der Bevölkerung haben sich in das Labyrinth der Königin Magr unter der Stadt zurückgezogen«, sagte Gor. Gussjew sprang vom Tisch und rief:

»Warum haben Sie es nicht gleich gesagt?«

»Es hat keinen Zweck, Tuskub zu verfolgen. Setzen Sie sich und essen Sie, Sohn des Himmels.« Gor verzog das Gesicht, holte aus seiner Kleidung ein Päckchen trockene Ghawra, die an roten Pfeffer erinnerte, steckte sie sich in den Mund und begann langsam zu kauen. Seine Augen wurden feucht und dunkel, die Runzeln glätteten sich. »Vor einigen Jahrtausenden bauten wir keine großen Häuser, denn wir verstanden sie nicht zu beheizen – die Elektrizität war uns unbekannt. Bei Winterfrost zog die Bevölkerung in die Tiefe, unter die Oberfläche des Mars. Riesengroße Säle, zu denen man die vom unterirdischen Wasser ausgehöhlten Grotten umgebaut hatte, Kolonnaden, Korridors und Tunnels wurden von der inneren Hitze des Planeten erwärmt. Die Hitze in den Kratern der Vulkane war so groß, daß wir sie zur Erzeugung von Dampf verwenden konnten. Auch heute noch arbeiten auf einzelnen Inseln die plumpen Dampfmaschinen aus jenen Zeiten. Die Tunnels, die die unterirdischen Städte verbinden, ziehen sich fast unter dem ganzen Planeten hin. Es wäre sinnlos, Tuskub in diesem Labyrinth zu suchen. Er allein kennt die Pläne und Schlupfwinkel des Labyrinthes der Königin Magr, der ›Herrscherin der beiden Welten‹, die einst den ganzen Mars regierte. Unter Soazera führt ein Netz von Tunnels zu fünfhundert lebenden Städten und zu mehr als tausend ausgestorbenen. Dort gibt es überall Waffenlager und Luftschiffhäfen. Unsere Kräfte sind zerstreut, wir sind schlecht bewaffnet. Tuskub hat die ganze Armee, er hat auf seiner Seite die Besitzer der Landgüter, die Chawrapflanzer und alle, die vor dreißig Jahren, nach einem verheerenden Kriege, zu Eigentümern der Stadthäuser geworden sind. Tuskub ist klug und skrupellos. Er hat alle diese Ereignisse absichtlich provoziert, um den Rest des Widerstandes für immer zu zermalmen ... Ach, das goldene Zeitalter ... Das goldene Zeitalter ...«

Gor schüttelte seinen benebelten Kopf. An seinen Wangen waren lila Flecken hervorgetreten. Die Wirkung der Chawra machte sich stark bemerkbar.

»Tuskub träumt vom goldenen Zeitalter: er will die letze Periode des Mars, das goldene Zeitalter beginnen. Nur die Auserwählten werden daran teilhaben, nur die der Seligkeit Würdigen. Die Gleichheit ist unerreichbar, es gibt keine Gleichheit. Das allgemeine Glück ist ein Wahn von Verrückten, die sich an der Chawra berauscht haben. Tuskub hat gesagt: ›Das Streben nach Gleichheit und die allgemeine Gerechtigkeit zerstören die höchsten Errungenschaften der Zivilisation‹.« Auf den Lippen Gors zeigte sich rötlicher Schaum. »Zurück zur Ungleichheit, zur vollkommenen Ungerechtigkeit! Mögen sich über uns die vergangenen Jahrhunderte wie die Ichas stürzen. Man schlage die Sklaven in Fesseln, man schmiede sie an die Maschinen, an die Arbeitstische, an die Bergwerkskarren ... Eine Fülle des Leidens. Für die Seligen eine Fülle des Glücks ... Das ist das goldene Zeitalter. Zähneknirschen und Finsternis. Und der höchste Genuß und Rausch. Mein Vater und meine Mutter seien verflucht, die mich geboren haben! Sie seien verflucht!«

Gussjew sah ihn an und sog hastig an seiner Zigarette.

»Weit habt ihr es hier gebracht, das muß ich schon sagen ...«

Gor schwieg, auf seiner Patronenkiste wie ein uralter Greis zusammengesunken, eine lange Weile.

»Jawohl, Sohn des Himmels. Wir, die wir die alte Tuma bewohnen, haben das Rätsel nicht gelöst. Heute sah ich Sie in der Schlacht. In Ihnen lodert die Lust wie eine Flamme. Sie sind leidenschaftlich, verträumt und sorglos. Ihr, Söhne der Erde, werdet einmal das Rätsel lösen. Wir sind aber zu alt. In uns ist Asche. Wir haben unsere Stunde versäumt.«

Gussjew spannte seinen Gürtel fester.

»Na, gut. Was beabsichtigen Sie morgen zu tun?«

»Morgen früh müssen wir eine Spiegeltelephonverbindung mit Tuskub zu erreichen suchen und Verhandlungen wegen gegenseitiger Konzessionen beginnen ...«

»Genosse, nun reden Sie schon seit einer ganzen Stunde Unsinn«, unterbrach ihn Gussjew. »Hier haben Sie die Disposition für morgen: Sie verkünden dem ganzen Mars, daß Sie die Macht an sich gerissen hätten. Sie fordern bedingungslose Unterwerfung. Ich aber werbe mir eine Truppe tapferer Burschen, fliege mit der ganzen Flotte zu den Polen und besetze die elektromagnetischen Stationen. Von dort telegraphiere ich sofort auf die Erde, nach Moskau, daß man uns unverzüglich Verstärkungen schicke. In einem halben Jahr haben sie dort die Apparate erbaut, der Flug selbst dauert aber nur ...«

... Gussjew wankte und setzte sich auf den Tisch. Das ganze Haus zitterte. Von der gewölbten Decke fielen die Stuckverzierungen herab. Die auf dem Boden schlafenden Marsianer sprangen auf und sahen sich um. Ein neuer, noch stärkerer Schlag ließ wieder das Haus erzittern. Die Fensterscheiben zerbrachen klirrend zu Scherben. Die Türen gingen von selbst auf. Ein tiefes, immer stärker werdendes Dröhnen füllte den Saal, draußen auf dem Platze erklangen Schreie und Schüsse.

Die Marsianer, die sich zu den Türen stürzten, wichen zurück und gaben den Weg frei. Der Sohn des Himmels, Lossj, trat ins Haus. Sein Gesicht konnte man kaum wiedererkennen: seine großen Augen waren eingefallen und dunkel geworden, ein seltsames Licht ging von ihnen aus. Die Marsianer wichen vor ihm zurück und hockten sich hin. Seine weißen Haare standen zu Berge.

»Die Stadt ist umzingelt«, sagte Lossj laut und bestimmt. »Der ganze Himmel ist voll von Luftschiffen, Tuskub sprengt die Arbeiterquartiere in die Luft.«


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