Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Schlaflose Nacht

Alles war zum Abfluge bereit. Die beiden folgenden Tage wurden auf das Verpacken einer Menge von Kleinigkeiten im Innern des Apparats verwandt. Alle Instrumente und Vorrichtungen wurden nachgeprüft. Man brach das Gerüst, das den Apparat umgab, ab und nahm einen Teil des Daches auseinander. Lossj zeigte Gussjew den Bewegungsmechanismus und die wichtigsten Vorrichtungen. Gussjew erwies sich als geschickt und gelehrig. Der Abflug war für sechs Uhr abends am nächsten Tage festgesetzt.

Spät am Abend entließ Lossj die Arbeiter und Gussjew, schaltete die Beleuchtung bis auf die Lampe über dem Tische aus und legte sich in Kleidern auf das eiserne Bett, das in einer Ecke des Schuppens, hinter dem Teleskopstativ stand.

Die Nacht war still und sternenklar. Lossj schlief nicht. Er lag, die Hände im Nacken verschränkt, blickte in das Dunkel unter dem von Spinngewebe überzogenen Dach, und das, wovor er morgen von der Erde fliehen wollte, quälte ihn wieder so schmerzlich wie noch nie. Viele Tage hatte er sich nicht gehen lassen. Aber in dieser letzten Nacht auf der Erde gab er seinem Herzen volle Freiheit: quäle dich, weine!

In seiner Erinnerung erstand die noch frische Vergangenheit ... an der Wand, auf den Tapeten – Schatten von Gegenständen. Das Licht ist mit einem Buche verstellt. Es riecht nach Arzeneien, die Luft ist stickig. Auf dem Fußboden steht ein großes Metallbecken. Wenn man aufsteht und am Becken vorbeigeht, gleiten über die langweiligen, verrückten Tapetenblumen die Schatten der Gegenstände. Diese Qual! Im Bette liegt das, was ihm teurer als die ganze Welt ist – Katja, seine Frau –, sie atmet leise und hastig. Auf dem Kissen ruhen ihre dunklen aufgelösten Haare. Die Knie sind unter der Bettdecke erhoben. Katja geht von ihm. Das vor kurzem noch so reizende, sanfte Gesicht hat sich verändert. Es ist rosig und unruhig. Sie hat ihre Hand unter der Decke befreit und nestelt am Bettrande. Lossj ergreift schon wieder diese Hand und steckt sie unter die Decke. »Nun, mach' die Augen auf, sieh mich an, verabschiede dich von mir.« Sie spricht mit leidender, kaum hörbarer Stimme: »Mach' das Fenster auf, mach' das Fenster auf.« Diese kaum hörbare, unglückliche Kinderstimme! Schrecklicher als jeder Schrecken ist das Mitleid mit ihr, mit dieser Stimme. »Katja, Katja, sieh mich an.« Er küßt sie auf die Wangen, auf die Stirn, auf die geschlossenen Augen. Aber das Mitleid gibt keine Erleichterung. Ihre Kehle zittert, ihre Brust hebt sich stoßweise, ihre Finger klammern sich an den Saum der Decke. »Katja, Katja, was ist mit dir?« ... Sie antwortete nicht, sie geht von ihm ... Sie hat sich auf den Ellbogen aufgerichtet, die Brust gehoben, als stieße man sie von unten. Der liebe Kopf hat sich vom Kissen gelöst und ist in den Nacken gesunken ... Sie ist wieder in die Kissen gefallen. Lossj hat sie, vor Schrecken und Mitleid zitternd, mit beiden Armen umfaßt, sich an sie gedrückt. Er hat sich einen Zipfel der Bettdecke in den Mund gestopft.

Es ist kein Erbarmen auf Erden ...

Lossj erhob sich vom Bett, nahm vom Tische die Schachtel mit den Zigaretten, steckte sich eine an und ging eine Zeitlang im dunklen Schuppen auf und ab. Dann trat er vor das Teleskop, fand mit dem Sucher den Mars, der sich schon über Petersburg erhoben hatte, und sah lange auf die kleine, klare, warme Kugel. Der Stern zitterte leise in den Kreuzfäden des Okulars.

»Ja, es ist kein Erbarmen auf Erden«, sagte Lossj leise. Er trat vom Teleskop weg und legte sich wieder aufs Bett ... In seiner Erinnerung erstand ein Gesicht. Katjuscha liegt im Grase auf einem Hügel. In der Ferne hinter den wogenden Feldern funkeln die goldenen Kuppeln von Swenigorod. Habichte kreisen in der Sonnenglut über den Korn- und Buchweizenfeldern. Katjuscha ist von der Hitze ganz faul. Lossj sitzt neben ihr, beißt an einem Grashalm, blickt auf das bloße blonde Köpfchen Katjuschas, auf ihre sonnengebräunte Schulter mit dem hellen Streifen am Ärmelrand, auf ihr von einer Mücke gestochenes Fäustchen, in das sie ihre Wange stützt. Ihre grauen Augen sind herrlich und gleichgültig, auch in ihnen kreisen die Habichte. Katja ist achtzehn Jahre alt, sie denkt ans Heiraten. Sie ist außergewöhnlich, ja gefährlich hübsch. »Wollen wir«, sagt sie, »heute nachmittag auf dem Hügel liegen, von dort sieht man so weit.« Nun liegt sie da und schweigt. Lossj denkt sich: Nein, meine Liebe, ich habe Wichtigeres zu tun, als mich hier auf diesem Hügel in Sie zu verlieben. In diese Falle gehe ich nicht, ich komme nicht mehr zu Ihnen in die Sommerfrische.

Ach, mein Gott, was konnte es Wichtigeres geben als Katjuschas Liebe! Wie unvernünftig hatte er jene heißen Sommertage vorbeigehen lassen. Wenn doch die Zeit damals auf dem Hügel stillgestanden hätte. Sie kommt nicht wieder. Sie kommt nicht wieder! ...

Lossj stand wieder vom Bett auf, rieb ein Zündholz nach dem andern an, rauchte, ging auf und ab. Aber auch dieses Aufundabgehen längs der Bretterwand war schrecklich: wie ein Tier in einer Grube. Lossj machte das Tor auf und blickte zu dem schon hoch am Himmel stehenden Mars hinauf.

»Auch dort werde ich mich von mir nicht selbst befreien können. Überall, ohne Maß und ohne Zeit ist mein einsamer Geist. Jenseits der Erde, jenseits des Todes. Warum habe ich von jenem Gifte kosten, warum habe ich lieben und erwachen müssen? Wäre ich doch niemals erwacht. Es schweben doch durch den Äther erstarrte Lebenssamen, Eiskristalle – sie fliegen schlafend durch die Räume. Nein, man muß zu Boden fallen und aufblühen – für die unerträgliche Pein erwachen, im ewigen Durste leben: lieben, verschmelzen, sich vergessen, aufhören ein einsames Samenkorn zu sein. Und dieser ganze kurze Traum nur dazu, damit wieder der Tod komme und die Trennung, und wieder das Schweben der Eiskristalle.«

Lossj stand lange im Tore, mit dem Kopf und der Schulter an den Pfosten gelehnt. Mit einem blutigen, bald blauen, bald diamantenen Scheine funkelte der Mars hoch über dem schlafenden Petersburg, über den durchschossenen Dächern, den kalten Schornsteinen, über den verrauchten Decken der Zimmer und Kammern, der verlassenen Säle, der leeren Paläste, über den ärmlichen Schlafstätten der todmüden Menschen.

Nein, dort wird es mir leichter sein, dachte Lossj. Die Schatten fliehen, sie sich Millionen von Werst vom Leibe halten. So wie jetzt in der Nacht auf einen Stern blicken und wissen, daß es die von mir verlassene Erde ist. Verlassen sind der Hügel und die Habichte. Verlassen ist ihr Grab, das Kreuz auf dem Grabe, verlassen sind die dunklen Nächte, der Wind, der vom Tode singt, nur vom Tode. Der Herbstwind über Katja, die in der Erde, unter dem Kreuze liegt. Nein, man kann nicht zwischen Schatten leben. Mag mich dort die grausamste Einsamkeit erwarten – ich will die Welt fliehen, ich will allein sein.

Aber die Schatten wichen von ihm nicht die ganze Nacht. Gegen Morgen ließ Lossj seinen Kopf in die Kissen sinken und schlummerte ein. Ihn weckte das Dröhnen der Fuhrwerke, die über den Kai zogen. Lossj setzte sich auf und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Seine von den nächtlichen Gesichten noch blöden Augen betrachteten die Karten an den Wänden, die Instrumente, die Umrisse des Apparats. Lossj holte tief Atem, erwachte endgültig, ging zur Wasserleitung und goß sich eiskaltes Wasser über den Kopf. Er warf den Mantel über und ging quer über den unbebauten Platz in die Große Monetnajastraße, in seine Wohnung, wo vor einem halben Jahre Katja gestorben war.

Hier wusch und rasierte er sich und zog reine Wäsche und Kleider an. Er vergewisserte sich, ob alle Fenster geschlossen seien. Die Wohnung war unbewohnt, überall lag Staub. Er öffnete die Tür des Schlafzimmers, in dem er nach dem Tode Katjas kein einziges Mal übernachtet hatte. Die Vorhänge waren hier heruntergelassen, es war dunkel, die gestreifte Matratze war kaum zu unterscheiden. An der Wand glänzte die Spiegeltür des Schrankes, der Katjas Kleider enthielt; sie stand etwas offen. Lossj runzelte die Stirn, ging auf den Fußspitzen heran und machte sie zu, fest zu. Er schloß die Tür des Schlafzimmers, verließ die Wohnung, sperrte die Außentür ab und steckte den kleinen flachen Schlüssel in die Westentasche. Nun war das letzte vor der Abreise erledigt.


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