Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Der Reisegenosse

Lossj stand mit der Schulter an den Pfosten des offenen Tores gelehnt. Seine Pfeife war erloschen.

Hinter dem Tore zog sich bis zum Shdanow-Kai ein unbekannter Platz hin. Einige trübe Laternen spiegelten sich im Wasser. In der Ferne ragten die verschwommenen Umrisse der Parkbäume. Hinter ihnen verglomm ein trauriges, trübes Abendrot und schien nie erlöschen zu wollen. Von seinem Lichte am Rande getönte längliche Wolken lagen wie Inseln im grünen Wasser des Himmels. Über ihnen leuchtete ein dunkles Blau. Einige Sterne funkelten darin. Es war still und alles beim alten auf der alten Erde. Aus der Ferne tönte die Sirene eines Dampfers herüber. Der graue Schatten einer Ratte huschte über den Platz.

Der Arbeiter Kusmin, der vorhin im Eimer Mennige angerührt hatte und nun neben Lossj im Tore stand, warf den noch glimmenden Zigarettenstummel in die Finsternis.

»Es ist nicht leicht, sich von der Erde zu trennen,« sagte er leise, »selbst von seinem Hause trennt man sich schwer. Wenn ich einst aus dem Dorf zur Station ging, pflegte ich unterwegs an die zehnmal zurückzublicken. Das Haus ist zwar nur eine strohgedeckte Hütte, aber man hängt daran. Ja, es ist nicht leicht, die Erde zu verlassen.«

»Das Wasser kocht,« rief der andere Arbeiter, Chochlow, dazwischen, »Kusmin, komm, Tee trinken.«

Kusmin seufzte noch einmal: »Ja, es ist nicht leicht«, und ging in den Schuppen. Der mürrische Chochlow und Kusmin setzten sich auf die Kisten neben der Schmiedeesse, tranken Tee, brachen behutsam das Brot, lösten aus den Dörrfischen die Gräten aus und kauten langsam. Kusmin kniff die Augen zusammen, schüttelte sein dünnes Bärtchen und versetzte halblaut:

»Er tut mir leid. Solche Menschen findet man jetzt kaum.«

»Beeile dich nicht, ihn ins Grab zu singen.«

»Ein Flieger erzählte mir mal: als er im Sommer acht Werst hoch in die Luft stieg, fror ihm das Schmieröl im Apparat ein, so kalt ist es oben. Aber noch höher? Kalt und finster.«

»Ich sage aber: es ist noch zu früh, ihn ins Grab zu singen«, wiederholte Chochlow finster.

»Kein Mensch will mit ihm fliegen, niemand glaubt es ihm. Die Annonce hängt ja schon seit zwei Wochen da.«

»Ich aber glaube daran«, versetzte Chochlow.

»Daß er oben ankommt?«

»Das ist es eben, daß er ankommt. Da werden sich aber die Leute in Europa giften.«

»Wer wird sich giften?«

»Was heißt, wer? Unsere Feinde werden sich giften. Denn wem wird dann der Mars gehören? Doch uns Russen.«

»Ja, das wäre schön.«

Kusmin rückte auf seiner Kiste etwas weg. Lossj ging zu ihnen heran, setzte sich und nahm einen Becher mit dampfendem Tee in die Hand.

»Chochlow, würden Sie nicht mit mir mitfliegen?«

»Nein, Mstislaw Ssergejewitsch,« antwortete Chochlow ernst, »ich fürchte mich.«

Lossj lächelte, nahm einen Schluck Tee und schielte auf Kusmin.

»Und Sie, lieber Freund?«

»Mstislaw Ssergejewitsch, ich würde schon gern mitfliegen, aber meine Frau ist krank, sie ißt nichts. Wenn sie auch das Geringste zu sich nimmt, muß sie sich gleich übergeben. Es ist ein wahrer Jammer mit ihr ...«

»Ja, ich werde wohl allein fliegen müssen«, sagte Lossj. Er stellte den leeren Becher weg und wischte sich mit der Hand den Mund. »Es gibt nicht viel Liebhaber, die Erde zu verlassen.« Er lächelte wieder und schüttelte den Kopf. »Gestern hat sich ein Fräulein auf die Annonce gemeldet: ›Gut,‹ sagte sie, ›ich will mit Ihnen fliegen, ich bin neunzehn Jahre alt, kann singen, tanzen, Gitarre spielen. Ich will nicht länger in Europa leben, ich habe alle die Revolutionen satt. Ein Visum für den Mars ist doch nicht nötig?‹ Was dieses Fräulein im Kopfe hatte, kann ich auch jetzt nicht begreifen. Dann setzte sie sich hin und fing zu weinen an: ›Sie haben mich betrogen, ich glaubte, daß die Reise viel näher geht.‹ Später kam ein junger Mann, sprach im Baß, hatte schweißige Hände. ›Sie halten mich für einen Idioten,‹ sagte er, ›auf den Mars zu fliegen ist unmöglich. Wie kommen Sie dazu, eine solche Annonce anzuschlagen?‹ Ich konnte ihn nur mit Mühe beruhigen.«

Lossj stützte die Ellbogen in die Knie und blickte in die Kohlenglut. Sein Gesicht schien in diesem Augenblick müde, die Stirn war von Runzeln durchfurcht. Offenbar ruhte er jetzt von der langen Willensanspannung aus. Kusmin ging den Teekessel mit Wasser füllen. Chochlow hüstelte und sagte:

»Mstislaw Ssergejewitsch, ist es denn Ihnen selbst nicht schrecklich?«

Lossj richtete auf ihn seine in der Kohlenglut warm gewordenen Augen.

»Nein, es ist mir gar nicht schrecklich. Ich bin überzeugt, daß ich das Ziel glücklich erreiche. Und wenn es mißlingt, so wird der Stoß augenblicklich und schmerzlos sein. Schrecklich ist etwas anderes. Denken Sie sich den Fall, daß meine Berechnungen nicht stimmen und ich in die Anziehungssphäre des Mars nicht gelange, sondern vorbeifliege. Die Vorräte an Betriebsstoff, Sauerstoff und Speise werden mir für lange reichen. Und so fliege ich durch die Finsternis. Vor mir leuchtet ein Stern. In tausend Jahren wird meine erstarrte Leiche in den Feuerozean dieses Sterns stürzen. Aber die langen Tage, solange ich noch leben werde – ich werde in diesem verdammten Kasten sehr lange leben – die langen Tage der hoffnungslosen Verzweiflung: ganz allein im Weltall. Nicht der Tod ist schrecklich, sondern die Einsamkeit. Ich werde nicht mal die Hoffnung haben, daß Gott meine Seele errettet. Bei lebendigem Leibe in der Hölle!! Die Hölle ist ja meine hoffnungslose, in die ewige Finsternis gestürzte Einsamkeit. Das ist schrecklich. Ich habe darum so wenig Lust allein zu fliegen.«

Lossj blickte mit zusammengekniffenen Augen wieder in die Kohlen. Sein Mund war trotzig geschlossen. Im Tore erschien Kusmin und rief mit leiser Stimme:

»Mstislaw Ssergejewitsch, es ist wer zu Ihnen.«

»Wer?« Lossj stand schnell auf.

»Ein Soldat fragt nach Ihnen.«

In den Schuppen trat der Soldat, der vorhin auf dem Prospekt der Morgenröte die Annonce gelesen hatte. Er streifte Lossj mit einem schnellen Blick, musterte das Gerüst und trat zum Tisch.

»Sie suchen einen Reisegenossen?«

Lossj schob ihm einen Stuhl hin und setzte sich ihm gegenüber.

»Ja, ich suche einen Reisegenossen. Ich fliege auf den Mars.«

»Ich weiß es, so steht es auch in der Annonce. Ich ließ mir vorhin diesen Stern zeigen. Gewiß, es ist weit. Ich möchte die Bedingungen wissen, wie ist es mit dem Gehalt und der Verpflegung?«

»Haben Sie Familie?«

»Ich bin verheiratet, habe aber keine Kinder.«

Der Soldat klopfte geschäftig mit den Fingern auf den Tisch und sah sich neugierig um. Lossj erzählte ihm kurz von den Bedingungen der Fahrt und machte ihn auf das mögliche Risiko aufmerksam. Er erklärte sich bereit, seine Frau zu versorgen und das Gehalt in Geld und Produkten vorauszubezahlen. Der Soldat nickte mit dem Kopf, hörte aber zerstreut zu.

»Ist es Ihnen bekannt,« fragte er, »ob dort Menschen oder irgendwelche Ungeheuer leben?«

Lossj kratzte sich den Nacken und lachte.

»Ich glaube, daß dort Menschen sein müssen. Wenn wir einmal oben sind, werden wir es ja sehen. Die Sache ist nämlich die: die großen Funkstationen in Europa und Amerika haben schon seit einigen Jahren eine Reihe unverständlicher Signale aufgenommen. Anfangs glaubte man, es sei die Wirkung der Magnetstürme an den Erdpolen. Aber die geheimnisvollen Zeichen erinnerten allzusehr an alphabetische Signale. Jemand bemüht sich hartnäckig, mit uns in Verbindung zu treten. Woher kommen die Signale? Auf keinem einzigen Planeten außer Mars sind bisher Anzeichen eines Lebens festgestellt worden. Die Signale können nur vom Mars kommen. Schauen Sie sich doch seine Karte an – er ist von einem ganzen Netz von Kanälen durchzogen. Offenbar hat man dort die Möglichkeit, Funkstationen von ungeheurer Kraft zu errichten. Mars will mit der Erde sprechen. Vorläufig haben wir noch nicht die Möglichkeit, seine Signale zu beantworten. Aber wir fliegen auf seinen Ruf. Es ist schwer anzunehmen, daß die Funkstationen auf dem Mars von Ungeheuern, von Wesen, die uns unähnlich wären, errichtet seien. Der Mars und die Erde sind zwei winzige Kugeln, die nebeneinander kreisen. Für uns und für sie gelten die gleichen Gesetze. Durch das ganze Weltall schwebt ein lebenspendender Staub, eine in Anabiose erstarrte Lebenssaat. Die gleichen Samen fallen auf den Mars und auf die Erde, auf alle die Myriaden der erkaltenden Sterne. Überall entsteht Leben, und jedes Leben wird von Anthropoiden beherrscht: denn man kann kein vollkommeneres Wesen schaffen als es der Mensch ist, das Ebenbild des Herrn des Weltalls.«

»Ich fahre mit Ihnen«, sagte der Soldat entschlossen. »Wann soll ich mit meinen Sachen kommen?«

»Morgen. Ich muß Sie erst mit dem Apparat vertraut machen. Sie heißen?«

»Alexej Iwanowitsch Gussjew.«

»Ihr Beruf?«

Gussjew sah Lossj zerstreut an und senkte dann den Blick auf seine immer noch auf die Tischplatte klopfenden Finger.

»Ich verstehe zu lesen und zu schreiben,« antwortete er, »kann auch mit einem Auto umgehen. Bin schon als Beobachter im Flugzeug geflogen. Von meinem achtzehnten Jahre an bin ich im Kriege – das ist mein Beruf. Bin über zwanzigmal verwundet worden. Jetzt hat man mich entlassen.« Er fuhr sich plötzlich mit der Hand über den Scheitel und lachte kurz auf. »In diesen sieben Jahren habe ich manches erlebt. Von Rechts wegen müßte ich jetzt ein Regiment kommandieren – aber ich habe einen unverträglichen Charakter. Wenn die Kriegsoperationen aufhören, kann ich nicht ruhig auf einem Fleck sitzen. Alles ist in mir vergiftet. Entweder nehme ich Urlaub oder laufe einfach davon.« Er rieb sich wieder den Scheitel und lächelte. »Vier Republiken habe ich gegründet – in Sibirien, im Kaukasus, die Namen weiß ich nicht mehr. Einmal sammelte ich dreihundert Burschen, und wir machten uns auf, Indien zu erobern. Aber wir verirrten uns unterwegs im Gebirge, gerieten in Schneestürme, in Schluchten, verloren alle Pferde. Nur wenige kehrten zurück. Dann war ich zwei Monate beim Hetman Machno. In Troikas jagten wir über die Steppe – das war schön! Schnaps und Essen nach Belieben, Weiber nach Herzenslust. Wenn wir auf die Weißen oder auf die Roten stoßen, gibt's gleich eine Schlägerei. Wir nehmen ihnen den Train ab und sind am Abend schon achtzig Werst weit. Auf die Dauer freute es mich nicht mehr. Auch die Bauern hatten schon den Machno satt. Ich ging zur roten Armee. Als man die Polen aus Kiew vertrieb, war ich in Budjonnyjs Reiterei. Der ganze Feldzug im Trabe. Die Polen bekamen von uns genug Prügel. Aber vor Warschau blamierten wir uns: die Infanterie hielt nicht stand. Das letztemal bin ich bei der Einnahme von Perekop verwundet worden. Dann lag ich fast ein ganzes Jahr in verschiedenen Lazaretten herum – was sollte ich anfangen? Da stieß ich zufällig auf ein Mädel und heiratete. Ich habe eine gute Frau, sie tut mir leid, aber ich kann nicht zu Hause leben. In meinem Heimatsdorf habe ich nichts zu suchen: die Eltern sind gestorben, die Brüder sind erschlagen, das Land ist verwahrlost. Auch in der Stadt habe ich nichts zu tun. Augenblicklich gibt es keinen Krieg und ist auch keiner in Aussicht. Mstislaw Ssergejewitsch, nehmen Sie mich doch, bitte, mit. Sie werden mich auf dem Mars brauchen können – ich erschrecke vor nichts, bin alles gewöhnt.«

»Gut, es freut mich«, sagte Lossj und reichte ihm die Hand. »Also morgen.«


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