Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Gussjews Tätigkeit am vergangenen Tage.

Gussjew war um neun Uhr früh aus Tuskubs Landhause nach Soazera geflogen. Er hatte an Bord des Flugbootes eine Fliegerkarte, Waffen, Proviant und sechs Handgranaten – diese hatte er, vor Lossj verheimlicht, aus Petersburg mitgenommen.

Um die Mittagstunde sah Gussjew unten Soazera biegen. Die Straßen im Zentrum waren leer. Vor dem Hause des Rates der Ingenieure standen auf dem großen sternförmigen Platze Luftschiffe und Truppen in drei konzentrischen Halbkreisen.

Gussjew ließ das Boot etwas sinken. Da wurde er offenbar bemerkt. Vom Platze erhob sich ein funkelndes Kriegsluftschiff mit sechs Flügeln und stieg, in den Sonnenstrahlen zitternd, senkrecht in die Höhe. Längs der Borde standen kleine silberne Gestalten. Gussjew beschrieb über dem Luftschiffe einen Kreis und holte vorsichtig aus dem Sacke eine Granate.

Auf dem Luftschiffe begannen bunte Räder zu rotieren, an den Masten bewegten sich die Drahtbüschel.

Gussjew beugte sich aus dem Boot und drohte mit der Faust. Auf dem Luftschiffe ertönte ein leiser Aufschrei. Die silbernen Gestalten hoben kurze Gewehre. Kleine gelbliche Rauchwolken flogen aus den Gewehrläufen. Die Kugeln pfiffen. Ein Stück vom Bord des Luftbootes wurde abgeschossen.

Gussjew hob mit einem lustigen Flug die Steuerflügel und stürzte sich über das Luftschiff. Während er wie der Wind über ihm flog, warf er eine Granate. Er hörte hinter sich eine betäubende Explosion. Er brachte die Steuer wieder in wagrechte Stellung und sah sich um. Das Luftschiff drehte sich unordentlich in der Luft um und stürzte rauchend und auseinanderfallend auf die Dächer.

Damit hatte alles begonnen.

Auf seinem Fluge über der Stadt erkannte Gussjew die Plätze, Regierungsgebäude, Arsenale und Arbeiterviertel, die er schon im Spiegel gesehen hatte. Vor einer langen Fabrikmauer wogte wie ein aufgewühlter Ameisenhaufen eine vieltausendköpfige Menge von Marsianern. Gussjew landete. Die Menge stob nach allen Seiten auseinander. Er grinste.

Man erkannte ihn sofort. Tausende von Armen hoben sich in die Höhe, Tausende von Stimmen brüllten: »Der Magazitl, der Magazitl!« Die Menge rückte ängstlich näher. Er sah zitternde Gesichter, flehende Augen voller Tränen, wie Radieschen rote kahle Schädel. Es waren lauter Arbeiter, Armut, Pöbel.

Gussjew stieg aus dem Boot, warf sich den Sack auf die Schulter und fuhr mit der Hand durch die Luft.

»Ich grüße euch, Genossen!« Es wurde sofort still wie in einem Traume. Gussjew erschien unter diesen schmächtigen Gestalten wie ein Riese. »Habt ihr euch hier versammelt, um zu reden, oder um zu kämpfen? Wenn um zu reden, so habe ich keine Zeit, lebt wohl, Genossen.«

Durch die Menge tönte ein schweres Seufzen. Einige Marsianer schrien mit verzweifelten Stimmen, und die Menge fiel in ihre Schreie ein:

»Rette uns, rette uns, rette uns, Sohn des Himmels!«

»Also wollt ihr kämpfen?« sagte Gussjew. Dann brüllte er mit heiserer Stimme: »Der Kampf hat begonnen. Soeben hat mich ein Militärluftschiff überfallen. Ich schickte es zu allen Teufeln. Zu den Waffen, mir nach!« Er griff mit der Hand in die Luft, als faßte er einen Zaum.

Durch die Menge drängte sich Gor. (Gussjew erkannte ihn sofort.) Gor war ganz fahl vor Erregung, seine Lippen bebten. Er klammerte sich mit den Fingern an Gussjews Brust.

»Was sagen Sie? Wohin rufen Sie uns? Man wird uns vernichten. Wir haben keine Waffen. Wir brauchen andere Kampfmittel ...«

Gussjew befreite sich aus seinen Händen und sagte:

»Die wichtigste Waffe ist Entschlossenheit. Wer entschlossen ist, der hat die Gewalt. Ich bin von der Erde nicht dazu hergeflogen, damit man mich hier wie eine Fliege erdrückt ... Ich bin von der Erde gekommen, um euch Entschlossenheit beizubringen. Ihr seid ja mit Moos bewachsen, Genossen-Marsianer. Wer den Tod nicht fürchtet, der folge mir. Wo ist bei euch das Arsenal? Waffen holen! Alle mir nach zum Arsenal! ...«

»Aiai!« winselten die Marsianer. Es begann ein Gedränge. Gor streckte die Arme zu der Menge aus und griff sich ans Gesicht.

So begann der Aufstand. Nun hatte man einen Führer. Die Köpfe schwindelten. Das Unmögliche schien möglich. Gor, der den Aufstand langsam und wissenschaftlich vorbereitet hatte und selbst nach den gestrigen Ereignissen noch zögerte, war plötzlich wie erwacht. Er hielt zwölf rasende Reden, die von den Projektionsspiegeln in die Arbeiterviertel übermittelt wurden. Vierzigtausend Marsianer zogen sich zum Arsenal zusammen. Gussjew teilte die Vorrückenden in kleine Gruppen, die unter der Deckung der Häuser, Denkmäler und Bäume liefen. Er ließ vor allen Kontrollspiegeln, mit deren Hilfe die Regierung die Bewegung in der Stadt verfolgte, Frauen und Kinder aufstellen und befahl ihnen, matt und phlegmatisch auf Tuskub zu schimpfen. Diese asiatische List schläferte die Wachsamkeit der Regierung für einige Zeit ein.

Gussjew befürchtete eine Luftschiffattacke. Um die Aufmerksamkeit wenigstens etwas abzulenken, schickte er fünftausend unbewaffnete Marsianer ins Stadtzentrum, mit dem Auftrag, zu schreien und warme Kleidung, Brot und Chawra zu fordern. Er sagte ihnen:

»Keiner von euch kommt lebend zurück. Merkt euch das. Vorwärts.«

Fünftausend Marsianer schrien wie aus einer Kehle:

»Aiai!« Sie spannten Riesenschirme mit Inschriften auf und gingen in den Tod, das alte, verbotene Lied singend:

»Unter gläsernen Dächern,
Unter eisernen Bögen,
Im steinernen Topfe
Raucht die Chawra.
Wir sind lustig, lustig.
Gebt uns den steinernen Topf in die Hände!
Aiai! Wir kehren nicht zurück
In die Bergwerke und Steinbrüche.
Wir kehren nicht zurück
In die schrecklichen, toten Korridore,
Zu den Maschinen, zu den Maschinen.
Wir wollen leben. Aiai! Leben!
Gebt uns den steinernen Topf in die Hände.«

Ihre Riesenschirme drehend, verschwanden sie mit dem schrecklichen Lied in den engen Gassen.

Das Arsenal, ein niederes, quadratisches Gebäude in der Altstadt, wurde von einer kleinen Truppenabteilung bewacht. Die Soldaten standen im Halbkreise vor dem bronzebeschlagenen Tore und deckten zwei sonderbare Maschinen, die aus Drahtspiralen, Scheiben und Kugeln bestanden (ein ähnliches Ding hatte Gussjew im verlassenen Hause gesehen). Die Vorrückenden kamen durch die vielen krummen Gassen heran und belagerten das Arsenal. Seine Mauern waren senkrecht und fest.

Gussjew lief von Ecke zu Ecke, lugte hinter den Bäumen hervor und überblickte die Position. Es war klar: das Arsenal mußte an der Stirn, am Tore angegriffen werden. Er ließ die Bronzetür eines der Hauseingänge aus den Angeln heben und mit Stricken umwickeln. Dann befahl er den Angreifenden, wie eine Lawine vorzustürmen und so laut als möglich Aiai zu schreien.

Die Soldaten, die das Tor bewachten, beobachteten ruhig das Treiben in den Gassen; sie hatten nur die Maschinen etwas vorgerückt, in deren Spiralen jetzt lila Funken knisterten. Die Marsianer wiesen auf sie mit besorgten Gesichtern und flüsterten leise: »Fürchte sie, Sohn des Himmels!« Es war keine Zeit zu verlieren.

Gussjew stellte sich breitbeinig hin, ergriff die Stricke und hob die Bronzetür in die Höhe – sie war zwar ordentlich schwer, aber er konnte sie noch tragen. So ging er, eine Hausmauer als Deckung benutzend, bis zum Rande des Platzes, dicht vor das Tor. Er befahl den Seinigen leise: »Macht euch bereit!« Er wischte sich die Stirn mit dem Ärmel und dachte sich: Ach, jetzt sollte ich ordentlich in Wut geraten! Dann hob er die Tür wie einen Schild.

»Gebt ihr uns das Arsenal? ... Gebt ihr es, hol' euch der Teufel!« schrie er mit wilder Stimme und lief mit schweren Schritten über den Platz auf die Soldaten zu. Einige Schüsse knatterten, die Geschosse schlugen gegen die Bronzetür. Gussjew wankte. Nun wurde er ernsthaft böse und lief schneller, unflätig fluchend. Ringsum heulten aber schon die Marsianer, die hinter allen Ecken, Mauervorsprüngen und Bäumen hervorliefen. In der Luft platzte eine Donnerkugel. Aber die Lawine der Vorrückenden warf die Soldaten und die schrecklichen Maschinen um.

Gussjew erreichte fluchend das Tor und schlug mit der Ecke der Bronzetür auf das Schloß ein. Das Tor erzitterte und barst. Gussjew drang in den quadratischen Hof ein, in dem in mehreren Reihen Militärluftschiffe standen.

Das Arsenal war genommen. Vierzigtausend Marsianer erhielten Waffen. Gussjew rief durch das Spiegeltelephon das Haus des Rates der Ingenieure an und verlangte die Auslieferung Tuskubs.

Als Antwort darauf schickte die Regierung eine Luftflottille, um das Arsenal zu attackieren. Gussjew flog ihr mit der ganzen Flotte entgegen. Die Regierungsschiffe flohen. Sie wurden eingeholt und über den Ruinen des alten Soazera vernichtet. Die Luftschiffe stürzten vom Himmel zu den Füßen der Riesenstatue des mit geschlossenen Augen lächelnden Magazitl. Der Schein des Abendrots flackerte auf seinem schuppenbedeckten Helme.

Der Himmel befand sich nun in der Gewalt der Aufständischen. Die Regierung zog die Polizeitruppen zum Hause des Rates zusammen. Auf seinem Dache standen Maschinen, die Kugelblitze aussandten. Ein Teil der aufständischen Flotte wurde von ihnen heruntergeschossen.

Gussjew umzingelte bei Anbruch der Nacht das Haus des Rates und begann, in den vom Platze aus sternförmig auslaufenden Straßen Barrikaden zu bauen. »Ich will euch lehren, Revolution zu machen, ihr ziegelroten Teufel!« sagte Gussjew und zeigte ihnen, wie man Pflastersteine herausreißen, Bäume fällen, Türen aus den Angeln heben und Hemden mit Sand füllen müsse.

Sie stellten vor dem Hause des Rates der Ingenieure die beiden im Arsenal erbeuteten Maschinen auf und begannen aus ihnen die Truppen mit Feuerkugeln zu beschießen. Aber die Regierung hüllte den Platz in ein Magnetfeld.

Nun hielt Gussjew seine letzte Rede an diesem Tage, die kurz, aber eindrucksvoll war. Dann stieg er auf die Barrikade und warf, eine nach der andern, drei Handgranaten. Die Wirkung war entsetzlich: drei Feuersäulen stiegen in die Luft, Steine, Soldaten und Maschinenteile flogen in die Höhe, der ganze Platz hüllte sich in Staub und beißenden Rauch. Die Marsianer erhoben ein Geheul und unternahmen einen Sturmangriff.

(Das war der Augenblick, als Lossj in Tuskubs Landhause in den Spiegel blickte.) Die Regierung entfernte das Magnetfeld, und zu beiden Seiten des Platzes begannen über den Kämpfenden kleine Feuerbälle zu tanzen, aus denen sich bläuliche Flammenbäche ergossen. Die düsteren, pyramidalischen Häuser erzitterten vor dem Dröhnen.

Die Schlacht dauerte nicht lange. Gussjew drang über den leichenbedeckten Platz an der Spitze einer Abteilung ausgesuchter Kämpfer ins Haus der Räte. Das Haus war leer. Tuskub und alle Ingenieure waren geflohen.


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