Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Das alte Lied.

Aëlita, Icha und Lossj flogen in einem geschlossenen Flugboot mit vier Flügeln in der Richtung zu den Bergen Lisiasira.

Der Empfänger der elektromagnetischen Wellen – der Mast mit den Drahtbüscheln arbeitete ununterbrochen. Aëlita beugte sich über einen winzigen Projektionsspiegel, lauschte und blickte gespannt.

In den verzweifelten Funksprüchen: Aufrufen, Schreien und erregten Fragen, die durch die Magnetfelder des Mars wirbelten und kreisten, konnte man schwer etwas verstehen. Aber die stählerne Stimme Tuskubs durchdrang dieses ganze Chaos, beherrschte ihn und murmelte unaufhörlich. Über den Spiegel zogen Schatten einer aufgewühlten Welt.

Aëlita vernahm im Stimmengewirr einigemal eine sonderbare Stimme, die gedehnt schrie:

»... Genossen, hört nicht auf die Einflüsterungen ... Wir wollen keine Konzessionen ... zu den Waffen, Genossen, die letzte Stunde hat geschlagen ... die ganze Gewalt den Rät ... den Rät ... Rät ...« Aëlita wandte sich zu Icha um und sagte:

»Dein Freund ist kühn und mutig, er ist ein echter Sohn des Himmels, fürchte nicht für ihn.«

Ichoschka stampfte wie eine Ziege mit den Füßen und schüttelte den roten Schopf. Aëlita gelang es festzustellen, daß ihre Flucht unbemerkt blieb. Sie nahm die Hörrohre von den Ohren und rieb mit den Fingern die angelaufene Fensterscheibe.

»Schau,« sagte sie zu Lossj, »hinter uns her fliegen Ichas.«

Das Boot schwebte in schwindelnder Höhe über dem Mars. Zu beiden Seiten des Bootes flogen in blendendem Lichte auf Fledermausflügeln zwei Tiere mit braunem, stellenweise kahlem Fell. Ihre runden Köpfe mit den flachen Schnäbeln voller Zähne waren den Fenstern zugewandt. Als eines von ihnen Lossj erblickte, senkte es den Kopf und fuhr mit dem Schnabel über die Glasscheibe. Lossj warf seinen Kopf zurück. Aëlita lachte.

Sie ließen Asora hinter sich. Unter ihnen lagen jetzt die spitzen Felsen von Lisiasira. Das Boot senkte sich, flog über den See Soam und landete auf einem geräumigen Plateau, am Rande eines Abgrundes.

Lossj und der Mechaniker zogen das Boot in eine Höhle, hoben die Körbe auf die Schultern und folgten den beiden Mädchen eine in dem Felsen kaum sichtbare, vor Alter verwitterte Treppe in die Schlucht hinab.

Aëlita ging mit leichten und schnellen Schritten voraus. Sie hielt sich an den Vorsprüngen des Felsens fest und blickte aufmerksam auf Lossj zurück. Unter seinen riesengroßen Füßen flogen die Steine dröhnend in den Abgrund.

»Diesen Weg stieg einst der Magazitl mit dem Rohr des Friedens hinab«, sagte Aëlita. »Gleich werden wir die Stelle sehen, wo die Kreise der heiligen Feuer brannten.«

In der Mitte des Abgrundes mündete die Treppe in einen in die Tiefe des Felsens gehauenen schmalen Tunnel. Aus der Dunkelheit zog ein feuchter Hauch. Lossj bewegte sich gebückt, mit den Schultern anstoßend, mühsam zwischen den glattpolierten Wänden vorwärts. Er tastete nach der Schulter Aëlitas und fühlte im gleichen Moment auf seinen Lippen ihren Atem. Er flüsterte auf russisch: »Liebste!«

Der Tunnel führte in eine halberleuchtete Höhle. Überall schimmerten Basaltsäulen. In der Tiefe erhoben sich leichte Dampfwolken. Wasser rieselte, von den in der Tiefe unsichtbaren Wölbungen fielen eintönig Tropfen herab.

Aëlita ging voraus. Ihr schwarzer Mantel und das spitze Mützchen schwebten am See entlang und verschwanden zuweilen in den Dampfwolken. Sie rief aus der Finsternis: »Vorsicht!« und erschien gleich darauf auf dem schmalen, steilen Bogen einer uralten Brücke. Lossj fühlte die Brückenwölbung unter seinen Füßen zittern, sah aber nur den leichten Mantel Aëlitas, der durch das Halbdunkel schwebte.

Nun wurde es heller. Über ihren Köpfen funkelten Kristalle. Die Höhle endete mit einer Kolonnade aus niederen steinernen Säulen. Hinter ihnen dehnte sich, von der Abendsonne übergossen, die Perspektive der Felsgipfel und Krater von Lisiasira.

Jenseits der Kolonnade lag eine breite, mit rostbraunem Moos bewachsene Terrasse, die am Rande steil abbrach. Kaum sichtbare Stufen und Steige führten hinauf in die Höhlenstadt. In der Mitte der Terrasse lag die zur Hälfte in die Erde eingesunkene, moosbewachsene Heilige Schwelle. Es war ein großer Sarkophag aus massivem Golde. Rohe Darstellungen von Tieren und Vögeln bedeckten ihn an allen vier Seiten. Oben ruhte die Darstellung eines schlafenden Marsianers – die eine Hand umschlang den Kopf, die andere drückte eine Ulla an die Brust. Reste einer eingestürzten Kolonnade umgaben dieses sonderbare Bildwerk.

Aëlita kniete vor der Heiligen Schwelle nieder und küßte die Darstellung des Schlafenden aufs Herz. Als sie sich wieder erhob, war ihr Gesicht nachdenklich und sanft. Auch Icha hockte sich zu den Füßen des Schlafenden hin, umschlang sie mit den Händen und schmiegte an sie ihr Gesicht.

Links befand sich im Felsen inmitten halbverwischter Inschriften eine kleine dreieckige goldene Tür. Lossj befreite sie von dem alles überwuchernden Moos und öffnete sie. Es war die uralte Wohnung des Hüters der Schwelle – eine kleine finstere Grotte mit steinernen Bänken, einem Herd und einem im Granit ausgehauenen Lager. Sie brachten die Körbe in die Grotte. Icha bedeckte den Boden mit einer Matte, machte für Aëlita das Bett, goß Öl in die von der Decke herabhängende Lampe und zündete sie an. Der kleine Mechaniker ging wieder hinauf, um das Flugboot zu bewachen.

Aëlita und Lossj saßen über dem Abgrunde. Die Sonne senkte sich hinter die spitzen Gipfel. Scharfe lange Schatten zogen sich von den Bergen hin und brachen sich in den Schluchten. Düster, unfruchtbar und wild war diese Gegend, in der einst die alten Aolen vor den Menschen Rettung suchten.

»Einst waren diese Berge mit Gras und Bäumen bewachsen,« sagte Aëlita, »hier weideten Herden der Chaschi, in den Schluchten brausten Wasserfälle. Die Tuma stirbt. Der Kreis langer Jahrtausende schließt sich. Vielleicht sind wir die letzten: wenn wir verschwinden, wird die Tuma leer. So sagt mein Lehrer.«

Aëlita hielt inne. Die Sonne war hinter dem nahen Drachenrücken der Felsen untergegangen. Das wilde Blut des Abendrotes ergoß sich in die Höhe, in die lila Dunkelheit.

»Aber mein Herz sagt etwas anderes.« Aëlita erhob sich, ging längs des Abhanges und las Büschel trockenen Mooses und Zweige toter Sträucher auf. Sie sammelte sie in den Schoß ihres Mantels. Dann kam sie zu Lossj zurück, schichtete die trockenen Pflanzen auf, brachte aus der Höhle die Lampe, kniete nieder und zündete den Haufen an. Das Feuer loderte knisternd auf.

Nun holte Aëlita aus dem Mantel eine kleine Ulla, setzte sich nieder, stützte den Ellbogen in ein Knie und rührte die Saiten. Sie tönten zart wie Bienensummen. Aëlita hob den Kopf zu den in der nächtlichen Dunkelheit hervortretenden Gestirnen und sang mit leiser, tiefer, trauriger Stimme:

»Sammle trockene Gräser, Mist der Tiere und dürre Zweige.

Lege sie fleißig zusammen.

Schlage Stein an Eisen, du Weib, Führerin zweier Seelen.

Schlage einen Funken, und das Feuer wird auflodern.

Setze dich ans Feuer, strecke die Hände zu den Flammen aus.

Dein Mann sitzt zur andern Seite der tanzenden Flammenzungen.

Durch die Ströme des zu den Sternen ziehenden Rauches

Blicken die Augen des Mannes in die Dunkelheit deines Schoßes.

Auf den Grund deiner Seele.

Seine Augen sind heller als die Sterne, heißer als das Feuer, kühner als die phosphoreszierenden Augen des Tscha.

Wisse: die Sonne wird zu einer erloschenen Kohle werden, die Sterne werden vom Himmel verschwinden, der böse Talzetl wird über der Welt erlöschen, –

Aber du, Frau, sitzest unsterblich am Feuer, die Hände zu den Flammen ausgestreckt.

Und hörst die Stimmen der auf das Erwachen zum Leben Wartenden, –

Die Stimmen in der Finsternis deines Schoßes.«


Das Feuer verglomm. Aëlita saß, die Ulla im Schoße, und blickte in die Kohlenglut, die ihr Gesicht mit rötlichem Scheine beleuchtete.

»Nach uralter Sitte«, sagte sie fast trocken, »wird die Frau, die dem Manne das Lied der Ulla gesungen hat, seine Gattin.«


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