Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Gussjew beobachtet die Stadt.

Icha war ganz närrisch geworden. Alles, was Gussjew verlangte, tat sie sofort und sah ihn immer mit matten Augen an. So komisch und so traurig. Gussjew behandelte sie streng, aber gerecht. Wenn Ichoschka vom Überfluß der Gefühle ermattete, nahm er sie auf den Schoß, streichelte ihr den Kopf, kraute sie hinter den Ohren und erzählte ihr ein Märchen, immer dasselbe Märchen vom Popen: Die Popenfrau hatte den Popen mit dem Knechte Pedrila hintergangen. Der Hase hatte davon Wind bekommen und es dem Popen hinterbracht. Der Pope fing an zu jammern. Der Knecht haute aber den Popen auf den Kopf, lud seine ganze Habe auf den Wagen, nahm auch die Popenfrau auf den Wagen und fuhr davon. Der Pope sitzt im leeren Hause und jammert.

Ichoschka verstand davon nichts und sah ihn nur mit dunkel gewordenen Augen an. Sie zu küssen brachte Gussjew nicht übers Herz.

Ein Plan hatte sich in seinem Kopfe festgesetzt: in die Stadt durchzubrennen. Im Hause fühlte er sich wie in einer Mausefalle: hier konnte man sich weder wehren noch fliehen. Ihnen drohte aber eine ernste Gefahr – Gussjew zweifelte nicht daran. Die Gespräche mit Lossj führten zu nichts. Lossj verzog nur das Gesicht – Tuskubs Tochter verdeckte ihm wohl mit ihrem Unterrock die ganze Welt.

»Sie sind ein unruhiger Mensch, Alexej Iwanowitsch. Nehmen wir sogar an, daß sie uns töten: wir beide haben doch nicht den Tod zu fürchten. Wären Sie doch in Petersburg geblieben, dort ist es natürlich viel ungefährlicher.«

Gussjew befahl Ichoschka, die Schlüssel vom Schuppen zu stehlen, in dem die Flugboote standen. Er drang mit einer Laterne in den Schuppen und machte sich die ganze Nacht mit einem kleinen, zweiflügeligen, offenbar sehr schnellen Boote zu schaffen. Der Mechanismus war sehr einfach. Der winzige Motor, den man in die Tasche stecken konnte, wurde mit Körnchen eines weißen Metalls gespeist, das unter Einwirkung eines elektrischen Funkens mit einer ungeheuren Kraft zerfiel. Die elektrische Energie erhielt der Apparat während des Fluges aus der Luft: der ganze Planet war von einem Magnetfelde umgeben, das ununterbrochen zwischen den an den beiden Polen stehenden elektromagnetischen Stationen entstand. Davon hatte ihnen schon Aëlita erzählt.

Gussjew zog das Boot dicht vor das Tor des Schuppens. Den Schlüssel gab er Icha zurück. Im Notfalle wird es nicht schwer sein, das Schloß mit der Hand aufzubrechen.

Darauf entschloß er sich, die Stadt Soazera unter Kontrolle zu nehmen. Icha hatte ihm gezeigt, wie man den Projektionsspiegel einschaltet. Der Schirm im Hause Tuskubs ließ sich einseitig einschalten, das heißt so, daß man dabei selbst unsichtbar und unhörbar blieb.

Gussjew durchforschte die ganze Stadt: die Plätze, die Geschäftsstraßen, die Fabriken, die Arbeitersiedlungen. Ein seltsames Leben zog vor ihm an der Wand vorüber:

Fabriksäle mit niederen Decken und Backsteinwänden, ein totes Licht durch die verstaubten Fenster. Düstere, runzlige Gesichter der Arbeiter mit leeren, tief in den Höhlen liegenden Augen. Sich ewig drehende Riemenscheiben, Maschinen, gebückte Gestalten, präzise Bewegungen: alles alt, seit Jahrhunderten bestehend, ameisenhaft.

Er sah die geraden und sauberen Straßen in den Arbeitervierteln; die gleichen trüben Gestalten bewegten sich hier mit gesenkten Köpfen. Alle diese sauber gekehrten, vollkommen gleichen, mit Backsteinen gepflasterten Korridore atmeten eine tausendjährige Langeweile. Hier hoffte man auf nichts mehr und hatte schon längst aufgehört, seine Qual zu fühlen.

Er sah die Plätze im Stadtparlament, stufenförmig angeordnete Häuser, buntes Laub der Schlingpflanzen, in der Sonne funkelnde Fensterscheiben, geputzte Frauen, in der Mitte der Straße kleine Tische, schmale Vasen voller Blumen. Eine durcheinanderwirbelnde elegante Menge, Tische, Kristall, bunte Männermäntel, im Winde flatternde Tischdecken, Frauenkleider – alles spiegelte sich auf dem parkettglatten grünlichen Pflaster. Goldene Luftboote schwebten tief über den Straßen, die Schatten ihrer Flügel glitten vorbei, in den Nacken geworfene Gesichter lachten, im Laub, in den Blumen funkelten Wassertropfen.

Die Stadt lebte ein Doppelleben. Gussjew merkte sich alles genau. Als ein Mann mit großer Erfahrung witterte er sofort, daß es hier außer diesen beiden Seiten noch eine dritte, unterirdische gab. Und in der Tat: in den reichen Straßen der Stadt, in den Parks, überall trieb sich eine große Menge nachlässig gekleideter, junger Marsianer mit abgelebten Gesichtern herum. Sie schlenderten müßig, die Hände in den Taschen und schienen zu beobachten. Gussjew dachte sich: Aha, diese Scherze kennen wir auch.

Ichoschka erklärte ihm alles genau. Nur eines schlug sie ihm ab: den Schirm mit dem Hause des Rates zu verbinden. Sie schüttelte entsetzt ihren roten Schopf und faltete flehend die Hände:

»Bitten Sie mich nicht, Sohn des Himmels, töten Sie mich lieber, teurer Sohn des Himmels!«

Einmal, es war der vierzehnte Tag, setzte sich Gussjew des Morgens wie immer in den Sessel, legte sich das Ziffernbrett auf den Schoß und zog an der Schnur.

Im Spiegel erschien ein seltsames Bild: auf dem Hauptplatze der Stadt besorgte, tuschelnde Gruppen von Marsianern. Alle Tischchen, Blumen, bunte Sonnenschirme waren verschwunden. Eine Soldatenabteilung marschierte durch die Straßen – sie waren zu einem Dreieck formiert und sahen wie schreckliche Puppen mit steinernen Gesichtern aus. Weiter, auf der Geschäftsstraße – eine rennende Menge, eine Schlägerei, und ein Marsianer, der sich auf Fledermausflügeln aus dem Handgemenge rettete. Im Parke die gleichen tuschelnden Gruppen. Auf dem Hofe und in den niederen Hallen einer der größten Fabriken lärmende Arbeiter, erregte, finstere, wütende Gesichter.

In der Stadt hatte sich wohl etwas von außerordentlicher Bedeutung abgespielt. Gussjew schüttelte Ichoschka bei den Schultern: »Was ist los?« Sie schwieg und sah ihn mit matten verliebten Augen an.


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