Graf Alexei N. Tolstoi
Aëlita
Graf Alexei N. Tolstoi

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Der Abflug

Um fünf Uhr nachmittags begannen sich auf dem leeren Platze vor der Werkstätte Lossjs die Leute zu sammeln. Sie kamen vom Kai, liefen aus den Nebengassen zusammen, lärmten, sammelten sich zu Gruppen, lagen auf dem welken Grase, blickten auf die niedrig stehende Sonne, die ihre breiten Strahlen durch die Wolken sandte.

Vor der Menge standen Milizsoldaten und ließen sie nicht zu nahe an den Schuppen heran. Zwei Berittene mit derben Backenknochen, in spitzen Mützen, ritten im Schritt auf und ab und blickten die müßigen Zuschauer wütend an.

Ein fliegender Händler rief Gefrorenes aus. Unter der Menge trieben sich halbwüchsige Jungen mit von dem gemeinen Leben geschwollenen Augen, Zigarettenverkäufer und Taschendiebe herum. Ein schwindsüchtiger Greis mit krummem Rücken bot zwei Paar Hosen feil. Es war ein warmer Augusttag, ab und zu wehte ein angenehmes Windchen.

Die Neuangekommenen gingen auf die lärmenden Gruppen zu und begannen ein Gespräch:

»Warum sammeln sich hier die Leute – hat man wen erschlagen?«

»Gleich fliegt wer auf den Mars.«

»Daß man so was erleben muß – das fehlte noch gerade!«

»Was erzählen Sie da? Wer wird fliegen?«

»Man hat zwei Diebe aus dem Gefängnis genommen, verlötet sie jetzt in einen Zinkkasten und schickt sie zur Probe auf den Mars.«

»Hören Sie doch zu lügen auf.«

»Wollen Sie etwa sagen, daß ich lüge?«

»Gleich wird man Kattun verteilen.«

»Was für Kattun? Wieviel?«

»Acht Werschok pro Kopf.«

»Diese Hunde! Was fange ich mit acht Werschok an? Mein Hemd ist ganz verfault, seit drei Monaten gehe ich nackt umher.«

»Gewiß, es ist eine Verhöhnung.«

»Wie dumm sind doch die Leute, mein Gott!«

»Warum sind die Leute dumm? Woraus schließen Sie es?«

»Ich schließe nichts, ich sehe es.«

»Wegen dieser Worte sollte man Sie, Sie wissen wohl selbst wohin schicken.«

»Hört doch auf, Genossen. Wir stehen hier vor einem historischen Ereignis, und ihr redet Gott weiß was für einen Unsinn.«

»Zu welchem Zweck schickt man die Leute auf den Mars?«

»Sie entschuldigen, jemand hat eben erzählt, sie hätten fünfundzwanzig Pud Agitationsliteratur geladen und zwei Pud Kokain.«

»Na, das vom Kokain ist sicher erfunden.«

»Es ist eine Expedition.«

»Was soll sie dort?«

»Gold holen.«

»Sehr richtig, zur Vergrößerung der Goldreserve.«

»Hofft man viel mitzubringen?«

»Eine unbeschränkte Menge.«

»Hört, das englische Pfund ist heute früh gefallen.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Ja, nun wissen Sie es. Dort im letzten Torwege steht ein Mann mit verbundener Wange, er verkauft englische Pfunde halb umsonst.«

»Er verkauft Lumpen aus Kosmodemjansk, den Frachtbrief über drei Waggon.«

»Bürger, müssen wir noch lange warten?«

»Sobald die Sonne untergeht, fliegt er davon.«

Bis zur Abenddämmerung redeten die Leute, die auf das ungewöhnliche Ereignis warteten. Sie stritten und zankten sich, gingen aber nicht weg.

Auf dem Shdanow-Kai brannten schon die Laternen. Ein trübes Abendrot ergoß sich über den halben Himmel. Nun erschien, sich langsam den Weg durch die Menge bahnend, das große Auto des Kommissars von Petersburg. In den Fenstern des Schuppens wurde es hell. Die Menge verstummte und rückte näher heran.


Der von allen Seiten offene eiförmige Apparat mit den funkelnden Nieten stand auf einem leicht geneigten Zementpodium in der Mitte des Schuppens. Durch die offene runde Luke konnte man sein mit gelbem Leder gepolstertes, hell erleuchtetes Innere sehen.

Lossj und Gussjew waren schon mit Filzstiefeln, kurzen Pelzröcken und ledernen Fliegerhelmen bekleidet. Mitglieder der Regierung und der Akademie, Ingenieure und Journalisten umringten den Apparat. Die Abschiedsreden waren schon gehalten, die Blitzlichtaufnahmen gemacht worden. Lossj dankte den Begleitenden für die Aufmerksamkeit. Sein Gesicht war blaß, seine Augen gläsern. Er umarmte Kusmin und Chochlow und sah nach der Uhr:

»Es ist Zeit.«

Das Publikum verstummte. Bei vielen zitterten die Lippen. Kusmin begann sich zu bekreuzigen. Gussjew machte ein ernstes Gesicht und stieg in die Luke. Im Innern des Apparats setzte er sich auf ein Lederpolster und rückte den Helm und zupfte den Pelzrock zurecht.

»Besuche meine Frau, vergiß es nicht!« rief er Chochlow zu und blickte noch ernster. Lossj zögerte noch immer und sah zu Boden. Plötzlich hob er den Kopf und sagte, sich aus irgendeinem Grunde nur an Skiles wendend, mit dumpfer, erregter Stimme:

»Ich glaube, daß es mir gelingen wird, glücklich auf dem Mars zu landen; von dort werde ich versuchen zu telegraphieren. Ich bin überzeugt, daß in wenigen Jahren Hunderte von Luftschiffen den Sternenraum durchfurchen werden. Ewig, ewig werden wir vom Geist des Suchens und der Unruhe getrieben. Auch mich treibt die Unruhe, vielleicht auch eine Verzweiflung. Aber ich versichere Ihnen: in diesem Augenblick des Sieges fühle ich nur mit neuer Kraft meine Armut. Nicht ich sollte als erster hinfliegen, das ist verbrecherisch. Nicht ich sollte in das Geheimnis des Himmels eindringen. Was werde ich dort finden? Das Grauen vor mir selbst. Und nicht Ihr, Menschen der Erde, solltet Euch auf solche himmlische Abenteuer einlassen. Wir sind noch finster. Wir werden dort nichts außer unserer Finsternis finden. Wir sind noch nicht weise. Unsere Vernunft glimmt als ein qualmendes Flämmchen über dem Abgrund, in dem die Leiche der Liebe liegt – unser einsamer, gefesselter, gekreuzigter Geist. Die Erde ist von Haß vergiftet und mit Blut überschwemmt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sogar unsere Vernunft, das einzige, was dieses Ungeheuer noch fesselt, ins Schwanken kommt. Notieren Sie es in Ihrem Büchlein, Archibald Skiles: Ich bin kein genialer Erbauer, kein neuer Konquistador, kein kühner Träumer, ich bin ein feiger Flüchtling. Mich treibt die hoffnungslose Verzweiflung.«

Lossj hielt plötzlich inne und sah die Begleitenden mit einem sonderbaren Blicke an – alle hörten ihm erstaunt und erschrocken zu. Er drückte den Helm tief in die Stirn.

»Ich hätte das alles nicht sagen sollen, aber in einer Minute bin ich nicht mehr auf der Erde. Verzeihen Sie mir meine letzten Worte. Wollen Sie möglichst weit vom Apparat zurücktreten.«

Lossj wandte sich um, stieg in die Luke und schlug den Deckel mit aller Kraft hinter sich zu. Die Leute liefen, erregte Worte wechselnd, vom Schuppen zu der Menge auf dem unbebauten Platz. Eine Stimme schrie plötzlich:

»Vorsicht, zurücktreten, niederlegen!«

Tausende von Menschen blickten schweigend auf die erleuchteten quadratischen Fenster des Schuppens. Im Schuppen war alles still. Ebenso still war es auch in der Menge. So vergingen einige Minuten, die unerträglich lange Zeit der Erwartung. Viele legten sich ins Gras. Plötzlich wieherte in der Ferne hell das Pferd eines berittenen Milizsoldaten. Jemand rief entsetzt:

»Still!«

Im Schuppen krachte es, als wäre ein Baum geborsten. Gleich darauf ertönten noch stärkere, rasch aufeinanderfolgende Schläge. Die Erde erzitterte. Über dem Dach des Schuppens erschien die stumpfe Nase des Apparats, in eine Wolke von Rauch und Staub gehüllt. Das Krachen wurde lauter. Der schwarze Apparat zeigte sich nun ganz über dem Dache und blieb wie abwartend in der Luft hängen. Die Explosionen flossen zu einem einzigen Heulen zusammen, und das Riesenei schoß in schräger Richtung wie eine Rakete über der Menge hinauf, nahm den Weg nach Westen und verschwand, einen feurigen Streifen hinter sich lassend, im trübroten Feuerbrand der Wolken.

Erst jetzt ertönte in der Menge ein Geschrei, Mützen flogen in die Luft, und die Leute liefen von allen Seiten auf den Schuppen zu.


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